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BERICHT
ESC-Kongress
Highlights vom europäischen Kardiologenkongress
Der diesjährige Kongress der European Society of Cardiology (ESC) wurde nach 2-jähriger Pause wieder physisch vor Ort und für gewisse Programmpunkte auch hybrid angeboten. Die Besucherzahl lag deshalb mit etwa 17 000 physisch anwesenden Teilnehmern unter der sonst üblichen Marke von über 30 000, doch nahmen online zusätzlich weitere 6500 Teilnehmer aus aller Welt teil. Es wurden Updates von 4 Guidelines präsentiert und viele grosse Studien, manche wurden zeitgleich mit der Präsentation in einem grossen Fachjournal publiziert. Einige haben wir hier in einer Zusammenschau herausgepickt. Die ausführliche Berichterstattung folgt in unserer Kongressausgabe «CongressSelection Kardiologie/ Diabetologie».
DELIVER: Dapagliflozin bei allen Formen der Herzinsuffizienz
Von den SGLT2-Hemmern, insbesondere Dapagliflozin, ist bekannt, dass sie die kardiovaskuläre Mortalität und Morbidität bei Patienten mit Diabetes, mit chronischer Niereninsuffizienz oder mit Herzinsuffizienz mit reduzierter Auswurffraktion (HFrEF) senken. Mit der an diesem Kongress präsentierten, doppelblind randomisierten, plazebokontrollierten und multizentrischen DELIVER-Studie wurde nun untersucht, ob das auch für Herzinsuffizienzpatienten mit einer leicht reduzierten (HFmrEF) oder mit einer erhaltenen Auswurffraktion (HFpEF) zutrifft. Dazu wurden 6263 hospitalisierte und nicht hospitalisierte Herzinsuffizienzpatienten mit einer Auswurffraktion > 40 Prozent rekrutiert (im Durchschnitt 54%), sie waren durchschnittlich 72 Jahre alt und zu 44 Prozent weiblich. Die Teilnehmer erhielten während median 2,3 Jahren zusätzlich zu ihrer Therapie 10 mg Dapagliflozin oder Plazebo. Als primärer Endpunkt galt die Kombination aus kardiovaskulärem Tod und Verschlechterung der Herzinsuffizienz. Nach Studienende zeigte sich folgendes Bild: Bei den Patienten in der Dapagliflozingruppe ereignete sich der primäre Endpunkt bei 16,4 Prozent, in der Plazebogruppe bei 19,5 Prozent. Das bedeutet eine signifikante Reduktion um 18 Prozent unter Dapagliflozin (Hazard Ratio [HR]: 0,82; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,73–0,92; p < 0,001). Beide Teilendpunkte, kardiovaskulärer Tod und Herzinsuffizienzverschlechterung, waren bei einzelner Betrachtung um 12 beziehungsweise 21 Prozent reduziert. Die wichtigsten sekundären Endpunkte wie herzinsuffizienzbedingte Hospitalisierung/kardiovaskulärer Tod und die Krankheitslast waren unter dem SGLT2-Hemmer im Vergleich zu Plazebo ebenfalls reduziert.
Die beobachtete Reduktion des primären Endpunkts zeigte
sich bei Patienten mit einer Auswurffraktion sowohl über als
auch unter 60 Prozent ähnlich konsistent, ebenso bei jenen,
die erst kürzlich hospitalisiert gewesen waren (1). Unter Ein-
bezug der früheren Daten aus der DAPA-HF-Studie, die
einen Nutzen von Dapagliflozin bei Patienten mit Herzinsuf-
fizienz mit reduzierter Auswurffraktion (≥ 40%) gezeigt hat
(2), bedeutet das, dass Dapagliflozin für Patienten mit allen
Formen der Herzinsuffizienz einen Nutzen bringt, ungeach-
tet der Auswurffraktion (3).
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Quelle: «Hotline 4». Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 26. bis 29. August 2022 in Barcelona.
Referenzen: 1. Solomon SD et al.: Dapagliflozin in heart failure with mildly reduced or
preserved ejection fraction. N Engl J Med. 2022;10.1056/NEJMoa2206286. 2. McMurray JJV et al.: Dapagliflozin in patients with heart failure and re-
duced ejection fraction. N Engl J Med. 2019;381:1995-2008. 3. Rossing P et al.: Dapagliflozin and new-onset type 2 diabetes in patients
with chronic kidney disease or heart failure: pooled analysis of the DAPACKD and DAPA-HF trials. Lancet Diabetes Endocrinol. 2022;10(1):24-34.
PERSPECTIVE: Demenzverdacht für Neprilysinhemmung entkräftet
Lang lag über dem Angiotensin-Rezeptor-Neprilysin-Inhibitor (ARNI) Sacubitril/Valsartan der Schatten eines vermeintlichen Demenzrisikos. Dieser konnte jetzt durch die PERSPECTIVE-Studie definitiv abgeschüttelt werden. Der Verdacht entstand aufgrund der Tatsache, dass Neprilysin am Abbau von Amyloid-beta-Peptiden bei der AlzheimerDemenz beteiligt ist und eine Akkumulierung wegen der Neprilysinhemmung durch Sacubitril zu einer kognitiven Verschlechterung führen könnte. In der PERSPECTIVE-Studie wurde deshalb der Effekt von Sacubitril/Vasartan vs. Valsartan auf die kognitive Funktion
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bei Herzinsuffizienzpatienten mit einer leicht reduzierten
(HFmrEF) oder einer erhaltenen Auswurffraktion (HFpEF)
(> 40%) untersucht. An der prospektiven, doppelblind ran-
domisierten, multizentrischen Langzeitstudie nahmen 592
Patienten über 60 Jahre (durchschnittlich 72-jährig) teil,
davon war etwa die Hälfte weiblich. Sie erhielten entweder
Sacubitril/Valsartan (97/103 mg, 2-mal/Tag) oder Valsartan
(160 mg 2-mal/Tag).
Als primärer Endpunkt war die kognitive Veränderung nach
3 Jahren definiert, gemessen anhand des CogState Global Cog-
nition Composite Score (GCCS) zur Testung von Aufmerk-
samkeit, episodischem Gedächtnis und der Exekutivfunktion.
Dieser hatte sich seit Studienbeginn weder in der einen noch in
der anderen Gruppe signifikant verändert, was den Beleg für
die Nichtunterlegenheit liefert. Als sekundärer Endpunkt gal-
ten die Amyloid-beta-Peptid-Ablagerungen im Gehirn, die mit
PET-Scans bestimmt wurde. Diese erwiesen sich unter Sacu-
bitril/Valsartan in der Tendenz sogar als leicht geringer als
unter Valsartan. Damit scheine die Evidenz, dass Sacubitril/
Valsartan das Risiko für kognitive Verschlechterung aufgrund
einer Amyloid-beta-Peptid-Akkumulierung bei Patienten mit
HFmrEF oder HFpEF nicht erhöhe, definitiv erbracht zu sein,
so das Fazit von Studienleiter Prof. John McMurray, Glas-
gow. Einer Langzeittherapie mit dieser Kombination stehe
somit in dieser Hinsicht nichts mehr im Weg.
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Quelle: «Hotline 1». Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 26. bis 29. August 2022 in Barcelona.
TIME: Blutdruckmedikation morgens wie abends möglich
Soll die 1-mal tägliche Blutdruckmedikation besser am Morgen oder am Abend eingenommen werden? Das spiele keine Rolle, wie eine am ESC-Kongress präsentierte Studie nun gezeigt hat. Weil der nächtliche Blutdruck als besserer Prädiktor für das kardiovaskuläre Outcome galt als jener am Tag, lag die Überlegung nahe, die Blutdruckmedikation am Abend zu verabreichen, um den nächtlichen Blutdruck stärker zu senken. An der pragmatischen, prospektiven, median 5,2 Jahre dauernden Studie nahmen 21 104 Patienten über 65 Jahre mit Hypertonie teil, die ihre Antihypertonika randomisiert entweder am Morgen (n = 10 601) oder am Abend (n = 10 503) einnahmen. Als primärer Endpunkt war die Kombination von Hospitalisierung infolge von nicht tödlichem Myokardinfarkt oder nicht tödlichem Hirnschlag oder kardiovaskulärem Tod definiert. Nach einer Studienlaufzeit von mindestens 5 Jahren traten in beiden Gruppen ähnlich viele Ereignisse des primären Endpunkts auf (3,7 vs. 3,4%), der Unterschied war nicht signifikant. Auch in den Subgruppen der nächtlichen Dipper und Non-Nipper zeigte sich kein Unterschied. Die Ergebnisse bedeuteten, dass die Patienten nun selbst bestimmen könnten, ob sie ihre Medikation regelmässig am Morgen oder regelmässig am Abend einnehmen möchten, zog Studienleiter Prof. Thomas MacDonald, Dundee (UK), sein Fazit. Kein Einnahmezeitpunkt sei dem anderen überlegen oder schädlicher. s
SECURE: starkes Plädoyer für die Polypille
In der Sekundärprävention nach einem Herzinfarkt ist eine Therapie zur Senkung des Thromboserisikos, des Blutdrucks und der Lipide angezeigt. Allerdings nehmen weniger als 50 Prozent der Postinfarktpatienten ihre Medikamente regelmässig. Nun untersuchte die spanische SECURE-Studie, ob eine Fixkombination (Polypille), bestehend aus Acetylsalicylsäure (ASS) (100 mg), Ramipril (2,5, 5 oder 10 mg) und Atorvastatin (20 oder 40 mg), hinsichtlich der Reinfarktrate einen Unterschied zur Einnahme der gleichen, aber separat verabreichten Substanzen macht. Dazu wurden 2499 durchschnittlich 76-jährige Patienten spätestens 6 Monate nach dem Myokardinfarkt rekrutiert. 80 Prozent von ihnen waren hyperton, 60 Prozent litten an Typ-2-Diabetes, und 50 Prozent waren Raucher. Der primäre Endpunkt war als Kombination von kardiovaskulärem Tod, nicht tödlichem Herzinfarkt, Hirnschlag oder notfallmässiger Revaskularisierung definiert. Nach Studienende zeigte sich eine Reduktion des primären Endpunktes in der Gruppe mit der Polypille um 24 Prozent (9,5 vs. 12,7%), wobei die Reduktion der kardiovaskulären Mortalität am stärksten dazu beitrug. Die Autoren um Prof. Valentin Fuster, Madrid, führen die geringere Reinfarktrate in der Polypillengruppe auf die stärkere Adhärenz zurück. Je einfacher die Therapie, desto grösser der Effekt, so ihr Fazit. s
Quelle: «Hotline 1». Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 26. bis 29. August 2022 in Barcelona.
Referenz: Castellano JM et al.: Polypill strategy in secondary cardiovascular prevention. N Engl J Med. 2022;10.1056/NEJMoa2208275.
DANFLU: Hochdosis-Vierfachgrippeimpfung für
Ältere vielversprechend
Die DANFLU-Studie ist eine pragmatische, aktiv kontrol-
lierte Studie, welche die Hochdosis-Vierfachgrippeimpfung
mit der Impfung in Standarddosis bei älteren Personen zwi-
schen 65 und 79 Jahren verglich. Primärer Endpunkt war die
Machbarkeit einer derartigen Studie, als sekundärer End-
punkt war die Effizienz der beiden Vakzine definiert.
Bei dieser Studie wurden Daten von 12 477 durchschnittlich
72-jährigen Patienten, etwa die Hälfte von ihnen war weib-
lich, verwendet, die entweder die hohe Dosis (n = 6245) oder
die Standarddosis (n = 6232) erhalten hatten. Es zeigte sich,
dass die Hochdosisempfänger eine tiefere Inzidenz von influ-
enza- oder pneumoniebedingter Hospitalisierung (0,2 vs.
0,4%) aufwiesen, ebenso eine geringere Inzidenz der Ge-
samtsterblichkeit (0,3 vs. 0,7%). Die Rate an schweren Ne-
benwirkungen unterschied sich zwischen beiden Impfgrup-
pen nichtsignifikant.
Die in der Studie beobachteten Reduktionen bei den Hospi-
talisationen und bei der Gesamtmortalität mit der Hoch-
dosisimpfung seien ermutigend, so Studienleiter Prof. Tor
Biering-Sörensen, Kopenhagen. Für ein verlässliches Resultat
seien die Teilnehmerzahlen aber zu klein. Um das Resultat zu
bestätigen, sei eine grössere Studie mit etwa 200 000 Teil-
nehmern notwendig.
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Quelle: «Hotline 1». Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 26. bis 29. August 2022 in Barcelona.
Quelle: «Hotline 2». Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 26. bis 29. August 2022 in Barcelona.
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DANCAVAS: kardiovaskuläres Screening für
Männer unter 70 Jahre
Eine grosse dänische Studie untersuchte, ob die Mortalität
sinkt, wenn alle 65- bis 74-jährigen Männer kardiovaskulär
gescreent würden. Das Screening beinhaltete eine Computer-
tomografie zur Detektion von Koronarkalk, eine Blutdruck-
messsung an beiden Armen und Knöcheln zur Aufdeckung
einer allfälligen peripheren arteriellen Erkrankung und Blut-
tests für Cholesterin und Blutzucker sowie – bei positivem
Befund – eine Behandlung.
In der Studie wurden über 45 000 dänische Männer im Alter
zwischen 65 und 74 Jahren randomisiert in 2 Gruppen ein-
geteilt: 1. Screening mit Intervention, 2. kein Screening be-
ziehungsweise das übliche Vorgehen. Als primärer Endpunkt
war die Gesamtmortalität definiert, diese unterschied sich
nach 5,6 Jahren Follow-up jedoch nicht signifikant zwischen
den Gruppen. Bei genauerer Betrachtung profitierten nur die
über 70-Jährigen nicht von diesen Massnahmen, in der Al-
tersgruppe der 65- bis 69-Jährigen zeigte sich eine signifi-
kante Mortalitätsreduktion von 11 Prozent. In einer Post-
hoc-Analyse war der kombinierte Endpunkt Tod, Hirnschlag
oder Myokardinfakt in dieser Altersgruppe ebenfalls signifi-
kant um 11 Prozent verringert. Ein systematisches Screening
bei Männern unter 70 Jahren biete sich daher an, so die
Schlussfolgerung von Studienleiter Prof. Axel Diederichsen,
Odense University Hospital (DK).
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Quelle: «Hotline 2». Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 26. bis 29. August 2022 in Barcelona.
Referenz: Lindholt JS et al.: Five-year outcomes of the danish cardiovascular screening (DANCAVAS) Trial. N Engl J Med. 2022;10.1056/NEJMoa2208681.
Und dann noch dies: Kommen Muskelschmerzen wirklich von Statinen?
Muskelbeschwerden aufgrund einer Statintherapie sind ein häufiger Grund für einen Therapiestopp. Allerdings figuriert diese Nebenwirkung in den grossen, randomisierten, kontrollierten Studien in der Regel auf Plazeboniveau. In nicht randomisierten und offenen Studien sowie in Fallberichten werde sie dagegen häufiger gemeldet, berichtete Prof. Colin Baigent, University of Oxford (UK). Seine Forschergruppe
wollte nun wissen, wie häufig diese Nebenwirkung tatsächlich ist. Zur Beantwortung dieser Frage führten sie eine Metaanalyse mit 19 doppelblind randomisierten und plazebokontrollierten Studien (RCT) durch, bei denen knapp 123 940 Patienten ein Statin oder ein Plazebo während median 4,3 Jahren eingenommen hatten. Aus der Statingruppe meldeten 16 835 Patienten (27,1%) Muskelschmerzen oder -schwäche als Nebenwirkung, in der Plazebogruppe waren es 16 446 (26,6%). Während des ersten Jahres stieg die relative Rate (Rate Ratio) dieser Nebenwirkung in der Statingruppe um 7 Prozent an, was einem absoluten Überschuss (excess rate) von 11/1000 Personenjahre entspricht, der aber in den folgenden Jahren verschwand. Im ersten Jahr stand demnach nur 1 von 15 Meldungen über Muskelschmerzen oder -schwäche in Zusammenhang mit einem Statin, 93 Prozent der Meldungen konnten nicht auf eine Statineinnahme zurückgeführt werden. In weiteren 4 RCT (n = 30 724 Patienten) wurden normale mit höheren Statindosen verglichen. In der Gruppe mit den höheren Dosen kam es zu einer relativen Erhöhung des Risikos für Muskelschmerzen oder -schwäche von 1,08 (Rate Ratio). Diese Resultate zeigen, dass Statine bei den meisten Patienten nicht die Ursache der Muskelschmerzen sind, sie kommen unter Plazebo ähnlich häufig vor. Im ersten Jahr der Einnahme erhöhten sie die Frequenz von muskelbedingten Symptomen marginal, nicht aber deren Schwere, so Baigent. Im Vergleich mit dem kardiopräventiven Nutzen von Statinen sei das Risiko für diese Nebenwirkung sehr klein. Eine Entscheidung zum Abbruch oder zur Weiterführung einer Statintherapie sollte deshalb im Licht dieser Fakten, anhand von Guidelines und von Fachinformationen getroffen werden, so die abschliessende Empfehlung des Studienleiters. s
Quelle: «Hotline 9». Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 26. bis 29. August 2022 in Barcelona.
Referenz: Cholesterol Treatment Trialists’ Collaboration: Effect of statin therapy on muscle symptoms: an individual participant data meta-analysis of largescale, randomised, double-blind trials. Lancet. 2022;400(10355):832-845.
Valérie Herzog
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