Transkript
BERICHT
Immer nach der tatsächlichen Ursache suchen
Anämie wegen chronischer Entzündung?
Anämien gehören zu den häufigsten Problemen in der Hausarztpraxis. Meistens steckt ein Eisenmangel dahinter, aber mitunter kann ein vermeintlich normaler Ferritinwert in die Irre führen. An der medArt in Basel erläuterte Prof. Jörg Halter, worauf bei Anämiepatienten zu achten ist.
Wenn ein Patient mit den typischen Symptomen und einem zu niedrigen Hämoglobin-(Hb-)Wert in die Praxis kommt, steht an erster Stelle die Messung des Ferritinwerts. Wie es danach weitergeht und wie weit man die Abklärung möglicher Ursachen treiben muss, hängt vom jeweiligen Patienten ab. So brauche es zum Beispiel bei einer jungen Frau mit einer hypochromen, mikrozytären Anämie und einem Ferritinwert von 5 µg/l keine weiteren Abklärungen, um eine Eisensubstitution zu verordnen. Bei allen anderen Patienten, auch bei jungen Männern, müsse man hingegen immer nach möglichen Ursachen für den Eisenmangel fahnden, sagte Prof. Jörg Halter, Leitender Arzt Hämatologie, Universitätsspital Basel.
Vielfältige Ursachen sind möglich
Mit Blutungen und damit einem Verlust von Eisen verbunden sind zum Beispiel Refluxösophagitis, Ulzera, Polypen, Karzinome, chronische Entzündungen oder Angiodysplasien. Auch beim Blutspenden, bei der Dialyse oder bei einer pulmonalen Hämosiderose geht Eisen verloren. Schwangerschaft, Wachstum, Hochleistungssport oder eine chronische intravasale Hämolyse sind Situationen, in denen ein erhöhter Bedarf an Eisen besteht. Zu einer verminderten Aufnahme von Eisen kommt es einerseits bei einer eisenarmen Ernährung und andererseits bei Absorptionsproblemen beziehungsweise bei Patienten mit atrophischer Gastritis, Achlorhydrie, nach einer Magenresektion oder nach einer bariatrischen Operation. Chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Morbus Whipple oder eine Zöliakie können ebenfalls Ursache eines Eisenmangels sein.
Welche Rolle spielt das Alter?
Die Normwerte für das Blutbild verändern sich im Alter nicht. Anämien sind bei Älteren zwar häufiger (bis ca. 10% bei den über 80-Jährigen), aber meistens nur mild ausgeprägt
KURZ & BÜNDIG
� Anämien sind häufig, ihre Ursachen sind immer abzuklären.
� Eisen sollte primär oral supplementiert werden.
� Bei chronischen Entzündungszuständen können Eisenmangelanämien auch bei anscheinend normalen Ferritinwerten bestehen.
und zu einem grossen Teil transienter Natur (1). Anämien sind bei den über 60-Jährigen mit einer höheren Mortalität verbunden, ohne dass sich das in einer höheren Rate hämatologischer Todesursachen niederschlagen würde. «Es scheint also primär ein Surrogatmarker zu sein», sagte Halter.
Ferritinwerte bei chronischer Entzündung
Wenn Patienten mit chronisch entzündlichen Erkrankungen einen zu niedrigen Hb-Wert aufweisen, können ihr Ferritinwert und die Transferrinsättigung trotzdem anscheinend normal sein. In diesem Fall handelt es sich um einen funktionellen Eisenmangel, der auch als Entzündungsanämie bezeichnet wird. Grund hierfür ist nicht ein leerer Eisenspeicher, sondern ein Zurückhalten von Eisen in der Leber, in den Enterozyten und den Makrophagen, sodass zu wenig Eisen frei verfügbar ist. Eigentlich dient dieser Mechanismus der Infektabwehr, um schädlichen Mikroorganismen im Blut das Eisen zu entziehen. Inflammatorische Zytokine steuern diesen Prozess. Auch bei chronisch entzündlichen Erkrankungen, zum Beispiel bei rheumatoider Arthritis oder chronischer Nierenerkrankung, steigt die Konzentration dieser Zytokine. Die Folge: Es steht zu wenig Eisen für die Hämatopoiese zur Verfügung, obwohl relativ viel Serumferritin (mit niedrigem Eisengehalt) zirkuliert. Während der normale Ferritingrenzwert bei 30 µg/l liegt, kann bei einem Patienten mit chronischen Entzündungszuständen selbst bei einem Ferritinwert von 200 µg/l oder mehr trotzdem ein Eisenmangel bestehen. Halter empfahl in diesem Zusammenhang Orientierungswerte, die 2021 publiziert wurden (2) (Abbildung). Auf Nachfrage bestätigte er, dass der Entscheid für oder gegen eine Eisensupplementation bei diesen Patienten trotzdem weiterhin ein Problem sei: «Es ist tatsächlich so, dass man es einfach einmal mit der Hälfte der berechneten Supplementation probieren muss.» Bei einem akuten Infekt solle man nicht unbedingt Eisen zuführen, weil das für die Infektkontrolle ungünstig sein könne, sagte Halter auf Anfrage eines Tagungsteilnehmers. Es sei jedoch unklar, wie gut die Evidenz für diese Empfehlung tatsächlich sei, die seit Jahren in der Literatur erwähnt werde, fügte er hinzu.
Womit und wie lang supplementieren?
Orale Eisenpräparate: Nach wie vor gilt, dass Eisen primär oral supplementiert werden sollte (ausser bei Entzündungsanämie, weil dann die gastrointestinale Absorption von Eisen
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50%
Eisenüberladung abklären
Transferrinsättigung Eisenmangel
40% 30%
Eisenspeicher adäquat
bei den meisten chronischen Entzündungszuständen
Eisenspeicher adäquat
Gefahr von Eisenüberladung bei Eisen i.v.
20% 10%
Eisenmangel möglich
bei chron. Nierenerkrankung
Eisenmangel wahrscheinlich
bei den meisten chronischen Entzündungszuständen
Eisenmangel möglich
bei chron. Nierenerkrankung mit erythropoiesestimulierenden
Medikamenten mit/ohne Dialyse oder
bei Herzinsuffizienz
Eisenspeicher adäquat
bei den meisten chronischen Entzündungszuständen
30 100
200 Ferritin (µg/l)
500
Abbildung: Orientierungswerte für Eisenmangel- und Entzündungsanämie (nach [2])
1000
gehemmt ist). Resorbiert werden dabei 5 bis 10 Prozent der eingenommenen Dosis, wobei 2-wertiges Eisen (Fe2+) etwas besser resorbiert wird als 3-wertiges (Fe3+). Die Einnahme muss nüchtern und mindestens 30 Minuten vor beziehungsweise 2 Stunden nach dem Essen erfolgen. Bestimmte Lebensmittel sind tabu, weil sie die Resorption von Eisen behindern (z. B. Milch, Kaffee, schwarzer Tee). Die Dosis sollte 1-mal täglich oder, besser, alle 2 Tage eingenommen werden, weil es sonst zu einer Gegenregulation des Körpers kommen kann, der die weitere Aufnahme von Eisen verhindert oder erschwert. Orale Eisensupplemente müssen mindestens 3 Monate über die Korrektur der Anämie hinaus eingenommen werden, bei chronischem Blutverlust kontinuierlich. Orale Eisenpräparate sind bei vielen Patienten nicht beliebt. Auf die Frage, ob es nicht besser sei, sie mit dem Essen einzunehmen als gar nicht, antwortete Halter, dass es sinnlos sei, orale Eisensupplemente mit kritischen Lebensmitteln wie Milch oder Kaffee einzunehmen. Falls man die Supplemente unter Vermeidung kritischer Lebensmittel mit dem Essen kombiniere, sei zumindest eine längere Einnahmedauer erforderlich, um den Eisenmangel zu beheben. Halter empfahl, nach 7 bis 8 Tagen oraler Eisensubstitution den Retikulozytenwert zu überprüfen. Falls dieser überhaupt nicht angestiegen sei, solle man die orale Supplementation verlassen und auf i.v. Präparate umsteigen. Intravenöse Eisenpräparate: Sie kommen bei Eisenresorptionsstörungen infrage oder wenn die orale Substitution keinen Erfolg verspricht. «Es ist wichtig, sich an die Angaben des Herstellers zu halten», betonte Halter. Man darf die Präparate nur langsam infundieren. Wird zu schnell infundiert und damit die Transferrinbindungskapazität überfordert, kommt es eher zu Flush-Reaktionen. Die früher gefürchteten anaphylaktischen Reaktionen seien mit den neuen
Präparaten extrem selten, sagte der Referent: «Wir sprechen
hier von einer Häufigkeit von unter 0,01 oder 0,001 Pro-
mille. Das heisst, man muss daran denken, aber man muss sie
nicht fürchten.»
Ein Vorteil der Eisencarboxymaltose sei, dass man mit weni-
ger Infusionen auskomme als mit anderen i.v. Eisenpräpara-
ten, sagte Halter. Die bei manchen Patienten auftretende
Hypophosphatämie unter Eisencarboxymaltose bezeichnete
er als Nebenwirkung, an die man denken müsse, die aber
nicht immer behandlungsbedürftig sei. Falls eine schwere
Hypophosphatämie auftrete, sei es aber sicher sinnvoll, das
Präparat zu wechseln.
Erythrozytenkonzentrate: Erythrozytenkonzentrate kom-
men erst ab einem Hb-Wert ≤ 80 g/l bei kardiovaskulären
Erkrankungen (KHK, Herzinsuffizienz, pAVK, zerebrovas-
kuläre Insuffizienz) oder bei symptomatischer Anämie (u. a.
Dyspnoe, Tachykardie, Leistungsintoleranz) infrage. In der
Regel indiziert sind sie bei einem Hb-Wert ≤ 70 g/l. Nicht
indiziert seien sie bei einem Hb-Wert > 100 g/l, und bei einem
Hb-Wert von 80 bis 100 g/l könne man sie bei ausgeprägten
Symptomen erwägen, so Halter.
s
Renate Bonifer
Quelle: Vortrag «Anämie» von Prof. Jörg Halter an der medArt Basel am 23. Juni 2022.
Literatur: 1. Fertrin KY: Diagnosis and management of iron deficiency in chronic in-
flammatory conditions (CIC): is too little iron making your patient sick? Hematology Am Soc Hematol Educ Program. 2020;2020(1):478-486. 2. van Zeventer IA et al.: Peripheral blood cytopenias in the aging general population and risk of incident hematological disease and mortality. Blood Adv. 2021;5(17):3266-3278.
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