Transkript
Nicht neurogene LUTS bei Männern
Zusammenfasssung der EAU-Leitlinie 2022
FORTBILDUNG
Im März 2022 hat die European Association for Urology (EAU) ein Update ihrer Leitlinie zum Management von Beschwerden des unteren Harntrakts (LUTS) bei Männern herausgegeben. Im folgenden Beitrag finden Sie die wichtigsten Empfehlungen zur konservativen und pharmakologischen Behandlung dieser Patienten.
European Association of Urology
Die EAU-Leitlinie zu Beschwerden des unteren Harntrakts (lower urinary tract symptoms, LUTS) bezieht sich hauptsächlich auf LUTS als Folge einer gutartigen Prostataobstruktion (benign prostatic obstruction, BPO), einer Detrusorüberaktivität, einer überaktiven Blase (overactive bladder, OAB) oder nächtlicher Polyurie bei Männern ≥ 40 Jahre. Als Behandlungsstrategie der ersten Wahl erachten die EAU-Experten Veränderungen des Lebensstils mit oder ohne pharmakologische Behandlung (Abbildung).
Konservative Behandlung
Bei leichten bis mittelschweren Symptomen, die den Patienten nur geringfügig beeinträchtigen, kann «watchful waiting» angeboten werden. Dazu gehören Lebensstilberatung, Informationen zur Selbstbehandlung und regelmässige Kontrolluntersuchungen. Bei manchen Männern bewirken Alltagsmassnahmen wie eine Verringerung der Flüssigkeitsaufnahme zu bestimmten Zeiten, eine Vermeidung/Verringerung des Koffein- oder Alkoholkonsums und die Anwendung spezieller Entleerungstechniken oder mentaler Strategien zur Ab-
Steckbrief
Wer hat die Guideline erstellt? European Association for Urology (EAU)
Wann wurden sie erstellt? 2022
Für welche Patienten? Männliche Patienten mit Beschwerden des unteren Harntrakts (LUTS)
Was ist neu? ▲ Der Leitlinie wurde ein neuer Abschnitt zum Management der
Harninkontinenz hinzugefügt.
lenkung von der Blase eine Verbesserung der Symptomatik. Des Weiteren raten die Experten, den Zeitpunkt der Medikamentenapplikation anzupassen sowie gegebenenfalls bestimmte Arzneimittel durch andere mit einer weniger harntreibenden Wirkung zu ersetzen.
Alpha-1-Blocker
Alpha-1-Blocker sind für Männer mit mittelschweren bis schweren LUTS geeignet. Sie bewirken eine Verringerung von Harnwegsbeschwerden gemäss International Prostate Symptom Score (IPSS) und eine Erhöhung der Spitzenharnflussrate (Qmax). Derzeit verfügbare Alpha-1-Blocker sind Alfuzosin (Xatral® und Generika), Doxazosin (Cardura® und Generika), Silodosin (Urorec®), Tamsulosin (Pradif® und Generika), Terazosin (Hytrin BPH®) und Naftopidil (in der Schweiz nicht verfügbar). Alfuzosin, Terazosin und Doxazosin sind mit einem erhöhten Risiko für vaskulär bedingte Ereignisse verbunden. Die Einnahme von Alfuzosin, Doxazosin, Tamsulosin oder Terazosin wurde mit einem erhöhten Risiko für das intraoperative «floppy iris syndrome» in Verbindung gebracht. Ejakulationsstörungen treten unter Alpha-1-Blockern signifikant häufiger auf als unter Plazebo, insbesondere bei selektiveren Substanzen wie Tamsulosin und Silodosin.
5-Alpha-Reduktase-Hemmer (5-ARI)
Zur Behandlung von mässigen bis schweren LUTS in Verbindung mit einer Prostatahyperplasie und/oder erhöhter PSA-Konzentration stehen Dutasterid (Avodart®) und Finasterid (Proscar® und Generika) zur Verfügung. Aufgrund des langsamen Wirkungseintritts sind 5-ARI nur für eine Langzeitbehandlung geeignet. Sie verbessern nach 2- bis 4-jähriger Behandlung bei LUTS in Verbindung mit Prostatahyperplasie den IPSS um 15 bis 30 Prozent, verringern das Prostatavolumen um 18 bis 28 Prozent und erhöhen die Qmax um 1,5 bis 2,0 ml/s. Zudem können 5-ARI das Fortschreiten der Prostatahyperplasie im Hinblick auf eine akute Harnretention und
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Beta-3-Agonisten
Der Beta-3-Agonist Mirabegron (Betmiga®) ist mit einer signifikanten Wirksamkeit im Hinblick auf Speichersymptome, die tägliche Miktionshäufigkeit, den Harndrang und die Harndranginkontinenz verbunden. Die EAU-Experten empfehlen Mirabegron für Männer mit mittelschweren bis schweren LUTS, die hauptsächlich unter Blasenspeichersymptomen leiden. Zu den häufigsten unerwünschten Ereignissen gehören Bluthochdruck, Harnwegsinfektionen, Kopfschmerzen und Nasopharyngitis. Mirabegron ist kontraindiziert bei Patienten mit hohem unkontrollierten Blutdruck (systolischer Blutdruck > 180 mmHg oder diastolischer Blutdruck > 110 mmHg oder beides).
Phosphodiesterase-5-Hemmer (PDE5I)
PDE5I verbessern signifikant den IPSS und den International Index of Erectile Function Score (IIEF), aber nicht die Qmax. Bislang ist nur Tadalafil (Cialis® und Generika) 5 mg 1-mal täglich zur Behandlung von LUTS zugelassen. Die Langzeiterfahrungen mit Tadalafil beschränken sich bei Männern mit LUTS auf eine Studie mit einem Follow-up von 1 Jahr. Somit liegen zur Wirksamkeit und Verträglichkeit in längeren Zeiträumen keine Informationen vor.
Abbildung: Algorithmus zur konservativen und/oder medikamentösen Behandlung von LUTS bei Männern (PDE5I: Phosphodiesterase-5Inhibitoren)
Phytopharmaka
Extrakte der Sägepalme verbessern die Qmax, senken die Anzahl nächtlicher Miktionen und beeinträchtigten die sexuelle Funktion nur geringfügig. Sägepalmextrakte sind deshalb eine Option für Männer, die vor allem unerwünschte sexuelle Wirkungen vermeiden wollen. Die Patienten sollten jedoch darüber informiert werden, dass die therapeutische Wirksamkeit gering ausfallen kann.
die Notwendigkeit für eine Operation verhindern. Beide Vertreter dieser Medikamentenklasse haben sich als vergleichbar wirksam erwiesen. Die wichtigsten unerwünschten Wirkungen stehen im Zusammenhang mit der Sexualfunktion. Sie umfassen eine verminderte Libido, erektile Dysfunktion und, seltener, Ejakulationsstörungen.
Antimuskarinika
Antimuskarinika sind für Männer mit mittelschweren bis schweren LUTS geeignet, die hauptsächlich unter Blasenspeichersymptomen leiden. Derzeit sind Darifenacin (Emselex®), Fesoterodin (Toviaz®), Oxybutynin (nicht in der Schweiz), Propiverin (Mictonorm®, Mictonet®), Solifenacin (Vesicare® und Generika), Tolterodin (Detrusitol®) und Trospiumchlorid (Spasmo-Urgenin®, Spasmex®) zur Behandlung bei OAB/ Speichersymptomen zugelassen. Eine Monotherapie mit Antimuskarinika kann Harndrang, Harninkontinenz und erhöhte Tagesmiktionshäufigkeit deutlich verbessern. Antimuskarinika können allerdings mit einem erhöhten Restharnvolumen nach der Miktion (post-void residual, PVR) verbunden sein. Eine akute Retention ist bei einem PVR-Volumen von < 150 ml zu Behandlungsbeginn jedoch selten. Männer mit einem PVR > 150 ml sollten keine Antimuskarinika erhalten.
Alpha-1-Blocker plus 5-ARI
In den Studien MTOPS und CombAT war diese Kombination im Hinblick auf Symptomatik und Qmax wirksamer als die jeweiligen Monotherapien. Niedriger waren das Risiko für eine akute Harnretention und die Notwendigkeit für eine Operation mit der Kombination im Vergleich mit einer Monotherapie mit Alpha-1-Blockern. Zudem verringerte sich unter der Kombination das Risiko für eine langfristige klinische Progression (Zunahme des IPSS) im Vergleich zu Plazebo um 66 Prozent und ausgeprägter als unter einer Finasterid- oder Doxazosinmonotherapie. In der Studie CombAT hatte die Kombination im Vergleich zu Tamsulosin allein nach 4 Jahren das relative Risiko für eine akute Harnretention um 68 Prozent, für eine BPH-bedingte Operation um 71 Prozent und für eine Verschlechterung der Symptome um 41 Prozent gesenkt. Die Kombination ist für Männer mit mittelschweren bis schweren LUTS und einem erhöhten Risiko für eine BPH-Progression (z. B. bei Prostatavolumen > 40 ml) geeignet.
Alpha-1-Blocker plus Antimuskarinikum
Die Kombination Alpha-1-Blocker/Antimuskarinikum ist zur Verbesserung von Harndrang, Dranginkontinenz, Miktionshäufigkeit, Nykturie oder des IPSS wirksamer als Alpha-1-Blocker allein. Bei Männern mit einem PVR < 150 ml ist die Kombination nur mit einem geringen Risiko verbunden. Die Kombination Alpha-1-Blocker/Antimuskarinikum ist für Patienten mit mittelschweren bis schweren LUTS geeignet,
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EAU-Guidelines on Management of male lower urinary. tract symptoms (LUTS) incl. benign prostate obstruction (BPO) https://www.rosenfluh.ch/qr/luts-maenner
deren Nykturie in Verbindung mit LUTS steht, und Antimuskarinika können zur Behandlung einer Nykturie im Zusammenhang mit OAB angewendet werden. 5-ARI sind für Männer eine Option, deren Nykturie auf LUTS und Prostatahyperplasie (> 40 ml) beruht. PDE5I sind zur Behandlung einer Nykturie nicht geeignet.
wenn die Linderung der Speichersymptome mit einem der beiden Medikamente allein nicht erreicht werden kann. Bei einem PVR-Volumen > 150 ml soll die Kombination nicht verschrieben werden.
Alpha-1-Blocker plus Beta-3-Agonist
Die Kombination aus einem Alpha-1-Blocker und Mirabegron führt im Vergleich zu Alpha-1-Blockern allein zu einer Abnahme der Anzahl an Harnentleerungen und täglichen Harndrangepisoden. Die Kombination ist indiziert, wenn mit einer Alpha-1-Blocker-Monotherapie keine ausreichende Wirksamkeit erzielt werden kann.
Management der Nykturie
Antidiuretika verlängern die Dauer des ungestörten Schlafs und verringern die nächtliche Miktionshäufigkeit. Bei Patienten ab 65 Jahre besteht unter antidiuretischer Therapie allerdings ein erhöhtes Risiko für eine Hyponatriämie. Die Einnahme von Alpha-1-Blockern wird ebenfalls mit einer Verbesserung der Schlafdauer und der Abnahme nächtlicher Miktionen in Verbindung gebracht. Antimuskarinika können den nächtlichen Harndrang, nicht jedoch signifikant die nächtliche Miktionshäufigkeit verringern. Die EAU-Experten empfehlen zunächst eine Behandlung der Ursachen der Nykturie. Dazu gehören systemische Erkrankungen, Schlafstörungen, Funktionsstörungen des unteren Harntrakts oder eine Kombination verschiedener Faktoren. Ausserdem sollten mit dem Patienten Verhaltensänderungen besprochen werden, um die nächtlich ausgeschiedene Harnmenge sowie die Anzahl der Nykturieepisoden zu reduzieren und die Schlafqualität zu verbessern. Bei Männern < 65 Jahre ist Desmopressin (z. B. Minirin®, Nocutil®) eine geeignete Option, um die nächtliche Polyurie zu verringern. Männer > 65 Jahre können mit niedrig dosiertem Desmopressin behandelt werden. Alpha-1-Blocker sind für Männer geeignet,
Management der Harninkontinenz
Der Abschnitt zum Management der Harninkontinenz wurde
neu in die EAU-Leitlinie 2022 aufgenommen. Es gibt nur
begrenzte Belege dafür, dass Massnahmen zur Änderung des
Lebensstils wie Gewichtsreduktion, Rauchstopp oder Ernäh-
rungsumstellung die Harninkontinenz günstig beeinflussen.
Auch eine Verbesserung von Begleiterkrankungen oder eine
Veränderung der Medikation zur Behandlung von Grund-
erkrankungen ist bezüglich der Harninkontinenz von unter-
geordneter Bedeutung. Die Experten raten jedoch zu einer
Überprüfung aller Medikamente, die mit der Entwicklung
oder Verschlimmerung der Harninkontinenz in Verbindung
gebracht werden können.
Im Rahmen der konservativen Behandlung kann für Patien-
ten mit Harninkontinenz eine stimulierte Blasenentleerung
oder ein Blasentraining von Nutzen sein. Für Männer, die sich
einer radikalen Prostataoperation unterziehen, sind Becken-
bodentraining mit oder ohne Biofeedback und/oder eine
Elektrostimulation eine geeignete Option.
Sind konservative Massnahmen nicht ausreichend wirksam,
kann eine Monotherapie mit einem Antimuskarinikum ver-
mehrten Harndrang, Harninkontinenz und eine erhöhte
Miktionshäufigkeit am Tag deutlich verbessern. Mirabegron
ist zur Verbesserung der Dranginkontinenz ebenso wirksam
wie ein Antimuskarinikum. Duloxetin (Cymbalta® und Ge-
nerika) ist zur Behandlung für Männer mit Belastungsinkon-
tinenz geeignet.
s
Petra Stölting
Quelle: Gravas S et al.: EAU-Guidelines on Management of male lower urinary tract symptoms (LUTS) incl. benign prostate obstruction (BPO). European Association of Urology 2022.
Interessenlage: Die Guideline wurde mit finanzieller Unterstützung der EAU erarbeitet. Externe Finanzierungsquellen waren nicht involviert.
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