Transkript
Korsett oder Knochenzement?
Vorgehen bei osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen
FORTBILDUNG
Akute Rückenschmerzen bei über 50-Jährigen ohne einen Auslöser oder nach einem Bagatell- beziehungsweise Verhebetrauma sind immer verdächtig, dass eine osteoporotische Wirbelkörperfraktur vorliegen könnte. Eine verbesserte Diagnostik ermöglicht eine klare Indikationsstellung zur konservativen oder operativen Behandlung.
Ralph Kothe, Markus Pietrek, Gregor Schmeiser
Epidemiologische Studien gehen von etwa 6 bis 7 Millionen Patienten mit Osteoporose in Deutschland aus (1). Die Inzidenz von osteoporotisch bedingten Wirbelkörperbrüchen verdoppelt sich etwa pro Dekade (2). Dieses Krankheitsbild wird also in den nächsten Jahren weiter an Bedeutung gewinnen.
Gezielte Anamnese und Untersuchung
Minimalinvasive operative Techniken erlauben heute auch bei reduzierter Knochenqualität und entsprechender Komorbidität der Patienten eine komplikationsarme chirurgische Behandlung mit der Möglichkeit für eine sofortige Mobilisie-
MERKSÄTZE
� Akute Rückenschmerzen bei über 50-Jährigen ohne adäquates Trauma sind immer verdächtig. Es könnte eine osteoporotische Wirbelkörperfraktur vorliegen.
� Die initiale Röntgendiagnostik sollte, wenn möglich, immer im Stand erfolgen. Bei Verdacht auf Wirbelkörperfraktur sollte eine MRT durchgeführt werden.
� Bei frischen osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen ist zur Therapieentscheidung eine CT-Untersuchung notwendig.
� Zur Beurteilung der Fraktur sollte die OF-Klassifikation angewendet werden. Zur Therapieentscheidung hat sich der OF-Score etabliert.
� Das Ziel einer konservativen oder operativen Behandlung ist die rasche und möglichst schmerzarme Mobilisierung der Patienten.
� Bei Einleitung einer konservativen Therapie ist eine klinische und radiologische Verlaufskontrolle nach 1, 2, 4 und 6 Wochen notwendig.
� Die operativen Behandlungsverfahren sollten minimalinvasiv mit möglichst geringer Zugangsmorbidität durchgeführt werden.
� Unabhängig von der Therapie sollten bei allen osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen eine weitergehende Diagnostik (DXA und Osteoporosebasislabor) sowie die Einleitung einer systemischen Osteoporosebehandlung erfolgen.
rung. Bei der Anamneseerhebung sollte gezielt nach Auslösern einer Fraktur gefragt werden (relevantes Trauma, Verhebetrauma, Husten oder Pressen). Zusätzlich sollten Risikofaktoren für eine osteoporotische Wirbelkörperfraktur abgeklärt werden (orale Steroidtherapie, Malignome, Zustand nach Magenresektion, Morbus Parkinson, Immobilität, Diabetes mellitus oder rheumatoide Arthritis) (2). Typisch sind belastungsinduzierte Kreuzschmerzen, wobei im Liegen oft keine oder nur geringe Beschwerden angegeben werden. Bei der klinischen Untersuchung findet sich häufig ein Klopfschmerz über dem betroffenen Segment. Eine gezielte neurologische Untersuchung sollte immer durchgeführt werden.
Bedeutung der Bildgebung
Wenn es klinisch möglich ist, sollte als Erstes immer eine Röntgenuntersuchung der Lenden- und Brustwirbelsäule in 2 Ebenen im Stand durchgeführt werden. Bei unklaren Befunden oder Nachweis einer Fraktur ist eine Magnetresonanztomografie (MRT) indiziert. Damit lässt sich das Alter einer Fraktur sicher bestimmen, und differenzialdiagnostische Ursachen wie Tumoren oder bakterielle Entzündung können ausgeschlossen werden. Eine Kontrastmittelgabe ist in der Regel nicht notwendig. Beim Nachweis einer frischen Wirbelkörperfraktur sollte zur weiteren Therapieplanung eine Computertomografie-(CT-)Untersuchung mit sagittaler und koronarer Rekonstruktion als Ergänzung durchgeführt werden.
Basisdiagnostik
Im weiteren Verlauf sollte zeitnah die empfohlene Basisdiagnostik bei Osteoporose komplettiert werden. Diese besteht neben der Anamnese, dem klinischen Befund und der genannten bildgebenden Diagnostik aus einer Knochendichtemessung und einem Basislabor (2). Die Knochendichtemessung soll überprüfen, ob eine Osteoporose nach der Definition der World Health Organization (WHO) vorliegt (T-Score < –2,5). Das empfohlene Standardverfahren zur Knochendichtemessung ist die Osteodensitometrie mittels der Dual-X-ray-Absorptiometrie (DXA) an der Lendenwirbelsäule und am proximalen Femur (2). Die Laboruntersuchung dient zur Überprüfung der wichtigsten laborchemisch erfassbaren Risikofaktoren und sekundärer Osteoporosen. Differenzialdiagnostisch infrage kommen andere Osteopathien wie beispiels-
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weise ein Hyperparathyreoidismus. Folgende Parameter sollten untersucht werden: s Serumkalzium s Serumphosphat s Kreatinin s alkalische Phosphatase s Gamma-Glutamyltransferase (γ-GT) s kleines Blutbild s C-reaktives Protein s Serumeiweisselektrophorese s thyreoideastimulierendes Hormon (TSH) s 25-Hydroxy-Vitamin D3.
Therapieplanung
Die Indikationsstellung zur operativen Behandlung bei osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen ist immer eine individuelle Entscheidung. Zur besseren Objektivierung wurde von der Arbeitsgruppe Wirbelsäule der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) ein sogenannter OF-
Tabelle:
OF-Score zur Indikationsfindung bei osteoporotischen Wirbelfrakturen (AG Osteoporotische Frakturen der DGOU)
Merkmale Morphologie (OF 1–5) Knochendichte Dynamik der Sinterung Schmerz (unter Analgesie) Neurologie Mobilisation (unter Analgesie) Gesundheitszustand
Schweregrad 1–5 T-Score < –3 Ja, nein (1 Woche) VAS ≥ 4, < 4 Ja Nein, ja ASA > 3, Demenz ja, BMI < 20, Unselbstständigkeit, Gerinnungshemmung ja
Punkte 2–10 1 1, –1 1, –1 2 1, –1 Je –1, maximal –2
Ist ein Merkmal nicht zu beurteilen bzw. unbekannt, werden 0 Punkte vergeben; 0–5 Punkte = konservative Therapie, 6 Punkte = relative Operationsindikation, > 6 Punkte = Operationsindikation; VAS: visuelle Analogskala, ASA-Score der American Society of Anesthesiologists, BMI: Body-Mass-Index
Abbildung 1: Klassifikation osteoporotischer Wirbelkörperfrakturen (© Ralph Kothe)
Score (OF: osteoporotische Frakturen) entwickelt, welcher sowohl klinische Parameter als auch die Frakturmorphologie anhand einer speziellen Frakturklassifikation (OF-Klassifikation) berücksichtigt (Tabelle und Abbildung 1) (3, 4). Ein Score von 0 bis 5 Punkten spricht für eine konservative Behandlung, bei einem Score über 6 Punkten empfiehlt sich eine operative Therapie (4, 5). Der OF-Score ist ein dynamischer Score, der sich im Verlauf der Behandlung verändern kann. Bei allen Frakturen, welche initial konservativ behandelt werden, ist deshalb eine klinische und radiologische Verlaufskontrolle unbedingt erforderlich. Zur Beurteilung einer möglichen Sinterung der Fraktur ist eine Röntgenkontrolle im Stand nach 1, 2, 4 und 6 Wochen zu empfehlen (5).
Konservative Behandlung
Vorrangiges Ziel der konservativen Behandlung ist die rasche Schmerzlinderung, sodass die Patienten möglichst schnell wieder mobilisiert werden können. Hierzu stehen die medikamentöse Schmerztherapie, die Physiotherapie sowie die Verordnung von Orthesen zur Verfügung. Die physiotherapeutische Behandlung zielt dabei nicht nur auf eine Verbesserung der Schmerzen, sondern auf eine Reduktion der Sturzangst ab (6). Bei der Korsettverordnung sollten aktive Rückenorthesen zum Einsatz kommen (7, 8). Die Tragedauer orientiert sich dabei am Beschwerdebild der Patienten. In der täglichen Praxis bedeutet dies zumeist eine Tragedauer von 6 bis 12 Wochen. Als frakturmorphologische Risikofaktoren für das Misslingen einer konservativen Therapie gelten ein Kollaps des frakturierten Wirbelkörpers (OF 4), eine Sinterung der Fraktur im Verlauf sowie ein sogenannter «intravertebral cleft» (ausgeprägte Bruchzone unterhalb der Deck- oder Grundplatte) (9).
Operative Behandlung
Neben der Frakturmorphologie sind weitere Faktoren wie die Statik der Wirbelsäule, eine eventuell zusätzliche neurogene Kompression sowie das Alter und die Komorbiditäten der Patienten für die Wahl des operativen Verfahrens von Bedeutung. Generell sollten, wenn möglich, minimalinvasive Operationstechniken zur Anwendung kommen, sodass eine rasche Mobilisierung der Patienten erfolgen kann. Bei langstreckigen perkutanen Instrumentierungen haben sich die Computernavigation sowie die intraoperative dreidimensionale (3-D-)Bildgebung als besonders hilfreich erwiesen. Sie erlauben eine hohe Genauigkeit der Implantatverankerung bei gleichzeitig signifikanter Strahlenreduktion für das Operationspersonal (10). Eine perkutane Augmentation des frakturierten Wirbelkörpers mit PMMA-Knochenzement (PMMA: Polymethylmethacrylat) wird vor allem bei den als stabil anzusehenden OF-2-Frakturen und gelegentlich bei OF-3-Frakturen durchgeführt. Bei der Vertebroplastie wird ein eher niedrig visköser PMMA-Knochenzement in den betroffenen Wirbel injiziert, bei der Ballonkyphoplastie ein Zement höherer Viskosität nach Aufrichtung in eine entsprechend präformierte Höhle appliziert (Abbildung 2). Wegen des geringeren Risikos von Zementextravasaten und einer besseren Aufrichtung des Wirbelkörpers hat sich die Kyphoplastie in den letzten Jahren gegenüber der Vertebroplastie weitestgehend durchgesetzt (11, 12).
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stützung unter ausreichender analgetischer Abdeckung an-
streben. Zusätzliche aufrichtende, aktive Rumpforthesen
können bei kyphotischer Fehlhaltung die Rückenmuskulatur
unterstützen und somit in Einzelfällen sinnvoll sein. Sie sollten
aber aufgrund der belastungsstabilen postoperativen Situa-
tion nicht regelhaft zur Anwendung kommen. Zudem ist die
Compliance für ein regelmässiges Tragen nach einem opera-
tiven Eingriff oft nicht vorhanden.
s
PD Dr. Ralph Kothe, Dr. Markus Pietrek, Dr. Gregor Schmeiser Klinik für Spinale Chirurgie Schön-Klinik Eilbek D-22081 Hamburg
Abbildung 2: Operative Behandlungsmöglichkeiten osteoporotischer Wirbelkörperfrakturen (© Ralph Kothe)
Bei instabilen osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen (OF 3 und OF 4) ist die alleinige Augmentation mit PMMA-Knochenzement nicht ausreichend. Hier ist eine zusätzliche dorsale Stabilisierung mit transpedikulären Schrauben-Stab-Systemen notwendig. Diese sollte über einen minimalinvasiven perkutanen Zugang erfolgen, wobei die kanülierten Pedikelschrauben zur besseren Verankerung im Wirbelkörper zusätzlich zementaugmentiert werden (Abbildung 2). Bei ausgedehnten ventralen Defekten (OF 4) kann es notwendig sein, die ventrale Säule durch einen Wirbelkörperersatz wiederherzustellen. Dies gilt insbesondere für aktive Patienten mit einem hohen Belastungsanspruch an die Versorgung. Auch hier erlauben minimalinvasive Zugangstechniken eine operative Versorgung mit vertretbarer Zugangsmorbidität, sodass eine rasche Mobilisierung der Patienten möglich ist. Ein wesentlicher Vorteil der modernen Implantate zum Wirbelkörperersatz ist die modulare Bauweise mit grossen Endplatten und kleinerem distrahierbaren Wirbelkörper. Dadurch kann die Wahrscheinlichkeit für ein sekundäres Einsinken des Implantats in die angrenzenden Wirbelkörper deutlich reduziert werden (Abbildung 2). Bei all diesen genannten Operationstechniken ist bei einer begleitenden Nervenkompression oder symptomatischen Spinalkanalstenose eine zusätzliche mikrochirurgische Dekompression erforderlich. Zudem sollte immer eine Biopsie des frakturierten Wirbelkörpers entnommen werden, um Tumoren (z. B. multiples Myelom) oder Infekte sicher ausschliessen zu können (13, 14).
Interessenlage: Die Autoren haben keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien erstmals in «doctors today» 5/22. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren.
Literatur: 1. Hadji P et al.: The Epidemiology of Osteoporosis-Bone Evaluation Study
(BEST): an analysis of routine health insurance data. Dtsch Arztebl Int. 2013;110:52-57. 2. Dachverband Osteologie (DVO) e.V.: Leitlinie Osteoporose 2017, Langfassung. https://www.dvosteologie.org/uploads/Leitlinie%202017/ Finale%20Version%20Leitlinie%20Osteoporose%202017_end.pdf). Zugegriffen: 02.01.2022. 3. Schnake KJ et al.: Development of a classification system (OF-classification) and of a score for therapeutic decision making (OF-score) for osteoporotic thoracolumbar fractures. Eur Spine J. 2013;22:S2590. 4. Blattert TR et al.: Nonsurgical and surgical management of osteporotic vertebral fractures: recommendations of the Spine Section of the German Society for Orthopaedics and Trauma (DGOU). Global Spine J. 2018;8(2S):50S-55S. 5. Schnake KJ et al.: Thorakolumbale Frakturen beim alten Menschen. Klassifikation und Therapie. Unfallchirurg. 2017;120:1071-1085. 6. Gibbs JC et al.: Exercise for improving outcomes after osteoporotic vertebral fracture. Cochrane Database Syst Rev. 2019;7:CD008618. 7. Li M et al.: A comparison study on the efficacy of SpinoMed® and soft lumbar orthosis for osteoporotic vertebral fracture. Prosthet Orthot Int. 2015;39:270-276. 8. Meccariello L et al.: Dynamic corset versus three-point brace in the treatment of osteoporotic compression fractures of the thoracic and lumbar spine: a prospective, comparative study. Aging Clin Exp Res. 2017;29:443449. 9. Scheyerer MJ et al.: Risk factors for failure in conservatively treated osteoporotic vertebral fractures: a systematic review. Global Spine J. 2022;12(2):289-297. 10. Tkatschenko D et al.: Navigated percutaneous versus open pedicle screw implantation using intraoperative CT and robotic cone-beam CT imaging. Eur Spine J. 2020;29:803-812. 11. Chang X et al.: Vertebroplasty versus kyphoplasty in osteoporotic vertebral compression fracture: a meta-analysis of prospective comparative studies. Int Orthop. 2015;39:491-500. 12. Ma XL et al.: Balloon kyphoplasty versus percutaneous vertebroplasty in treating osteoporotic vertebral compression fracture: grading the evidence through a systematic review and meta-analysis. Eur Spine J. 2012;21:1844-1859. 13. Allen RT et al.: Biopsy of osteoporotic vertebral compression fractures during kyphoplasty: unsuspected histologic findings of chronic osteitis without clinical evidence of osteomyelitis. Spine. 2009;34:1486-1491. 14. Mukherjee S et al.: Utility of routine biopsy at vertebroplasty in the management of vertebral compression fractures: a tertiary center experience. J Neurosurg Spine. 2014;21:687-697.
Nachbehandlung
Die postoperative Nachbehandlung sollte in allen Fällen eine frühzeitige Mobilisation mit physiotherapeutischer Unter-
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