Transkript
INTERVIEW
«Auch sehr alte Menschen profitieren von Rehabilitationsmassnahmen»
Mit dem steigenden Anteil an älteren Menschen in der Bevölkerung ändern sich auch die Anforderungen an die Rehabilitation. Neben der organbezogenen Rehabilitation, zum Beispiel nach einer Fraktur, werden im Alter Reha-Massnahmen wegen Gebrechlichkeit, der sogenannten Frailty, zunehmend wichtig. Wir sprachen mit PD Dr. med. Marc Spielmanns, Klinik Wald, über altersspezifische Aspekte der Rehabilitation und die entsprechenden Anforderungen an Reha-Institutionen.
ARS MEDICI: Herr Dr. Spielmanns, Ihr Team berichtete kürzlich, dass auch Hochbetagte von Rehabilitationsmassnahmen profitieren können. Gibt es für Rehabilitationsmassnahmen trotzdem eine Altersgrenze? PD Dr. med. Marc Spielmanns: Nein, die gibt es nicht. Rehabilitation ist prinzipiell eher eine Massnahme für ältere Personen. Natürlich haben wir auch jüngere Patienten in der Rehabilitation, aber wenn ich mir die Daten von Reha-Patienten im Allgemeinen anschaue, liegt der Altersdurchschnitt zwischen 65 und 70 Jahren. Rehabilitation kann auch Hochbetagten nützen, wie wir in der von Ihnen angesprochenen retrospektiven Studie zeigen konnten (siehe Kasten). Es gibt bereits einige Publikationen mit ähnlichen Ergebnissen. Sie alle zeigen, dass auch sehr alte Menschen von Rehabilitationsmassnahmen profitieren, wenn man die Daten genau anschaut. So ist zum Beispiel der Zuwachs an Gehstrecke in absoluten Zahlen bei den Älteren zwar geringer, aber prozentual auf den Ausgangswert bezogen ist er mindestens genauso gut wie bei den Jüngeren.
Gibt es Reha-Massnahmen, die für ältere Personen besonders gut oder eher nicht geeignet sind? Spielmanns: Bei der organbezogenen Rehabilitation sind die Massnahmen unmittelbar zielorientiert, zum Beispiel bei den klassischen Reha-Patienten mit einer neuen Hüfte nach einem Sturz. Sie sollen wieder laufen lernen, sich belasten können und ihre Muskulatur wieder aufbauen; sie sollen sich vernünftig ernähren, und die Schmerztherapie muss gut laufen. Vielschichtiger ist das Problem bei Gebrechlichkeit, der Frailty. Hier steht nicht ein bestimmtes Organ oder ein definiertes muskuloskeletales Problem im Vordergrund. Frailty ist die Summe vieler kleiner Veränderungen, die dazu führen, dass der Mensch nicht mehr so funktioniert, wie er eigentlich funktionieren sollte. Das können Koordinationsprobleme, kognitive Einschränkungen, Sensibilitätsstörungen, Visusminderung oder schlechtes Hören sein – diese Patienten können auf jeder Ebene der Funktionalität Einschränkungen haben. Entsprechend muss man das Reha-Setting wählen, um genau diese Probleme zu adressieren. Generelle Inhalte einer geriatrischen Rehabilitation sind das Training von Koordination, Ausdauer und Kraft, eine gesunde Ernährung mit ausreichender Kalorien- und Nährstoffzufuhr, die Evalution der
Zur Person
PD Dr. med. Marc Spielmanns ist ärztlicher Direktor an der Klinik Wald und Chefarzt Pulmonale Rehabilitation der Zürcher RehaZentren Wald und Davos.
Polypharmazie und nicht zuletzt die psychosoziale Komponente der Frailty. Bei Demenz, die ein häufiges Problem ist, stösst man in der Rehabilitation teilweise an Grenzen. Es gibt aber auch Spitäler, wie zum Beispiel das Felix-Platter-Spital in Basel, die eine geschlossene Reha-Abteilung haben, sodass Menschen mit Demenz mit Reha-Massnahmen versorgt werden können.
Welche Ziele hat eine Rehabilitation wegen Frailty im Alter? Spielmanns: Das primäre Ziel ist, dass die Patienten möglichst lang zu Hause leben können. Meistens, und das wird in den anderen Rehabilitationskliniken ähnlich sein, erreichen wir tatsächlich, dass sie nach einem Reha-Aufenthalt wieder recht gut zu Hause zurechtkommen – vielleicht mit ein paar Hilfestellungen, die man organisieren muss.
Wenn ein Hausarzt den Eindruck hat, eine allgemein gegen Frailty gerichtete Reha wäre für einen Patienten sinnvoll, kann er diese dann selbst veranlassen? Spielmanns: Ich glaube, das wäre für Hausärzte ziemlich schwierig. Der einfachere Weg ist, diesen Patienten in eine Akutklinik zu überweisen, zum Beispiel in die Geriatrie, mit dem Ziel, ihn anschliessend in eine Reha zu schicken. Die
Foto: zVg
ARS MEDICI 17 | 2022
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INTERVIEW
Pneumologische Rehabilitation bei Patienten >80 Jahre
Die Daten von 3156 Patienten (45% Frauen) mit unterschiedlichen pneumologischen Krankheiten und einer pneumologischen Rehabilitation zwischen 2013 und 2019 liegen der retrospektiven Studie zugrunde. 413 Patienten waren älter als 81 Jahre. Die Werte folgender Parameter wurden vor und nach der Reha verglichen: ▲ Functional Independence Measure (FIM: Punktesystem zur Evalua-
tion von Alltagsfähigkeiten wie Selbstständigkeit, Kontinenz, Mobilität, Kommunikation, sozialen und kognitiven Fähigkeiten usw.) ▲ 6-Minuten-Gehtest ▲ Feeling-Thermometer (visuelle Skala von 1 bis 100 zur Selbsteinschätzung des Gesundheitszustands). Der prozentuale Anstieg im FIM betrug bei den 81- bis 85-Jährigen 5,25% (±13,69%) und bei den über 85-Jährigen 8,96% (±7,75%). Er lag damit in einer ähnlichen Grössenordnung wie bei den Jüngeren: ≤ 60 Jahre 6,11% (±14,7%), 61 bis 70 Jahre 5,93% (±14,44%) und 71 bis 80 Jahre 4,12% (±18,8%). Ähnliche Resultate zeigten sich im 6-MinutenGehtest und im Feeling-Thermometer.
Schulze TS et al.: Klinischer Benefit einer pneumologischen Rehabilitation bei sehr alten Patienten (> 80 Jahre). Poster 280. 62. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie in Leipzig, 25. bis 28. Mai 2022.
Antragsstellung, der Kampf um die Genehmigungen usw. würden einen Hausarzt wahrscheinlich in den Wahnsinn treiben. Natürlich wird ein Antrag oft erst einmal von der Krankenkasse abgelehnt. Dann muss man eine Wiedererwägung verfassen und gute Argumente dafür finden. Die Anträge sind recht umfangreich, und man muss auch genau das «wording» kennen, damit ein solcher Reha-Antrag bewilligt wird. Eine geriatrische Rehabilitation allein wegen Frailty durchzuboxen, ist nicht einfach.
Was ist bei der Indikationsstellung für Reha-Massnahmen bei älteren Patienten zu beachten? Spielmanns: Rehabilitationsbedürftigkeit, Rehabilitationsfähigkeit und eine gute Rehabilitationsprognose müssen gegeben sein. Die Bedürftigkeit besteht, wenn die Funktionsstörungen und Beeinträchtigungen nicht nur vorübergehend bestehen und über die kurative Versorgung hinaus intensive Therapiemassnahmen nötig sind, um diese zu bessern oder eine Verschlimmerung zu verhindern. Der Patient muss selbstverständlich für die Reha-Massnahme motiviert und in der körperlichen und psychischen Verfassung sein, sie auch durchzuführen.
Gibt es ambulante Reha-Angebote für ältere Patienten? Spielmanns: Die gibt es, wie zum Beispiel die ambulante geriatrische Tagesklinik am Felix-Platter-Spital in Basel. Die ambulante Rehabilitation ist ein sehr gutes Konzept bei organspezifischen Erkrankungen, wie zum Beispiel für eine kardiologische oder muskuloskeletale Reha. Sie stösst in der Geriatrie aber an gewisse Grenzen. Für sehr gebrechliche Personen ist es kaum zumutbar, jeden Morgen und jeden Abend den Weg zur Tagesklinik auf sich zu nehmen. Das ist für diese Menschen auch mental immer sehr belastend. Wenngleich eine ambulante Tagesklinik bei dem einen oder anderen
rüstigen über 80-Jährigen eine gute Alternative sein kann, sind solche Angebote für die meisten Hochbetagten nicht geeignet.
Gibt es altersspezifische Hindernisse für eine stationäre Reha? Spielmanns: Eine Rehabilitationsklinik wie unsere stösst bei komplett bettlägerigen Patienten an ihre Grenzen. Dafür ist sie von der Struktur her nicht gedacht, weil wir zumindest eine Teilselbstständigkeit voraussetzen. Anders ist das in Rehabilitationskliniken mit neurologischem Schwerpunkt, die zum Beispiel halbseitig gelähmte Schlaganfallpatienten aufnehmen. Aber auch hier dürfen es nicht zu viele sehr pflegebedürftige Patienten auf einmal sein, denn für sie braucht es fast eine 1:1-Betreuung, und so viel Personal hat keine Reha, selbst die neurologischen Reha-Kliniken haben das nicht. Es muss immer ein Mix aus relativ selbstständigen Patienten und sehr pflegebedürftigen Patienten sein. Ein zweiter Punkt ist, dass es bei chronifizierten Störungen schwierig ist, in der Rehabilitation noch Erfolge zu erzielen. Deshalb ist die Frührehabilitation wichtig. Einen Patienten mit einem akuten Schlaganfall wollen wir sehr früh in die Rehabilitation aufnehmen, weil dann das grösste Potenzial für einen Erfolg der Behandlung besteht. Das Gleiche gilt für die muskuloskeletale Rehabilitation, damit der Muskelabbau nicht zu weit voranschreitet und die Patienten wieder gut mobilisiert werden können.
Gibt es in der Schweiz genügend stationäre Reha-Plätze für
Hochbetagte?
Spielmanns: In der allgemeine Rehabilitation ist die Schweiz
im Vergleich zu anderen Ländern recht gut aufgestellt. In der
geriatrischen Rehabilitation sieht das leider anders aus: Hier
ist tatsächlich ein grosses Defizit vorhanden. Im Kanton Zü-
rich ist jetzt eine neue Verordnung der Gesundheitsdirektion
in der Vernehmlassung, wonach künftig jede Reha-Klinik eine
geriatrische Versorgung aufweisen muss. Es gibt dafür zwei
Modelle. Entweder die Reha-Klinik hat eine eigene geriatri-
sche Abteilung – das wäre die Maximalvariante, die sicherlich
gerechtfertigt ist. Oder die Klinik hat einen Geriater als Kon-
sildienst, der die Patienten in den organspezifischen Abteilun-
gen aufsucht, deren Rehabilitationspotenzial beurteilt und sie
dann mitbetreut.
Das grösste Problem ist, dass es viel zu wenig Geriater gibt.
Es kommen zwar Geriater aus Deutschland und Österreich
zu uns in die Schweiz, aber das reicht nicht aus, um die Lücke
zu schliessen.
Das Studium ist überall sehr organbezogen, die Geriatrie hat
leider keinen hohen Stellenwert in der Ausbildung und kein
attraktives Image in der Ärzteschaft. Hier müsste ein Um-
denken einsetzen, zumal die Tätigkeit als Geriater sehr be-
friedigend ist. Ich arbeite seit vielen Jahren in der Rehabilita-
tion, und es macht einen Riesenspass. Als Arzt hat man hier
extrem gute Erfolgserlebnisse – was in vielen anderen medi-
zinischen Sparten nicht der Fall ist. Wenn wir junge Leute hier
haben, Studenten und Assistenzärzte, finden sie es zwar toll,
aber letztlich landen fast alle in anderen Fachbereichen, und
nur die wenigsten gehen tatsächlich in die Rehabilitation oder
gar in die Geriatrie. Das ist sehr schade.
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Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
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