Transkript
SUMMER SCHOOL
Rheumatoide und muskuloskelettale Erkrankungen
Empfehlungen zum kardiovaskulären Risikomanagement
Patienten mit entzündlichen rheumatischen Erkrankungen haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen. Das gilt nicht nur für Menschen mit rheumatoider Arthritis, sondern auch für Patienten mit anderen rheumatischen und muskuloskelettalen Erkrankungen. Für Letztere hat die EULAR kürzlich Empfehlungen zum kardiovaskulären Risikomanagement veröffentlicht.
Dass Patienten mit rheumatoider Arthritis (RA), ankylosierender Spondylitis und Psoriasisarthritis ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko aufweisen, ist seit Längerem bekannt. Doch gibt es zunehmend Evidenz dafür, dass die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität auch bei anderen rheumatischen und muskuloskelettalen Erkrankungen (RMD) erhöht ist; dazu zählen Gicht, Vaskulitis, systemische Sklerose (SSc), Myositis, gemischte Bindegewebserkrankungen (mixed connective tissue disease, MCTD), Sjögren-Syndrom (SS), systemischer Lupus erythematodes (SLE) und das Antiphospholipidsyndrom (APS).
Steckbrief
Wer hat die Guideline erstellt? European Alliance of Associations for Rheumatology (EULAR)
Wann wurde sie erstellt? 2021
Für welche Patienten? Patienten mit rheumatischen Erkrankungen wie beispielsweise Gicht, Vaskulitis, systemischer Sklerose, Myositis, gemischten Bindegewebserkrankungen, Sjögren-Syndrom, systemischem Lupus erythematodes sowie Antiphospholipidsyndrom.
Was ist neu? ▲ Da verschiedene rheumatische und muskuloskelettale Erkrankun-
gen (RMD) mit einer erhöhten kardiovaskulären Morbidität und Mortalität einhergehen, hat die EULAR kürzlich Empfehlungen zum kardiovaskulären Risikomanagement bei RMD-Patienten vorgelegt. ▲ Verantwortlich für die Abklärung und das Management des kardiovaskulären Risikos bei betroffenen Patienten sind Rheumatologen in Zusammenarbeit mit Hausärzten, Internisten oder Kardiologen und Vertretern anderer Gesundheitsberufe.
Die chronische Inflammation scheint eine Schlüsselrolle in der Pathogenese kardiovaskulärer Erkrankungen bei RMD-Patienten zu spielen. Hinzu kommt, dass RMD-Patienten häufig mit Immunmodulatoren und Glukokortikoiden behandelt werden. Obwohl eine bessere Kontrolle der Inflammation das kardiovaskuläre Risiko bei einigen Patienten senken kann, ist nicht bekannt, ob bestimmte Nebenwirkungen dieser Medikamente mehr Gewicht haben als der antiinflammatorische Nutzen dieser Substanzen, sodass sie insgesamt das kardiovaskuläre Risiko möglicherweise erhöhen. Aus diesen Gründen stellte die EULAR eine Taskforce zusammen, welche die Aufgabe übernahm, Empfehlungen für das Management des kardiovaskulären Risikos bei Patienten mit den genannten rheumatischen und muskuloskelettalen Erkrankungen zu erarbeiten. Grundlagen dafür waren sowohl ein evidenzbasiertes Vorgehen (systematische Literaturrecherche) als auch ein Expertenkonsens. Die Taskforce setzte sich aus 20 Experten aus 11 europäischen Ländern zusammen (darunter 12 Rheumatologen und 2 Kardiologen sowie 2 Patientenvertreter und weitere Mitglieder).
4 übergeordnete Prinzipien
Die Mitglieder der Taskforce erarbeiteten 4 übergeordnete Prinzipien, welche die Bedeutung eines regelmässigen Screenings und einer Behandlung von modifizierbaren kardiovaskulären Risikofaktoren sowie der Patientenedukation betonen: A. Kliniker sollten daran denken, dass das kardiovaskuläre
Risiko bei RMD-Patienten erhöht ist. Dazu zählen Patienten mit Gicht, Vaskulitis, SSc, Myositis, MCTD, SS, SLE und APS. Für alle RMD gilt, dass eine Reduktion der Krankheitsaktivität wahrscheinlich auch das kardiovaskuläre Risiko senkt. B. Verantwortlich für die Abklärung und das Management des kardiovaskulären Risikos sind Rheumatologen in Zusammenarbeit mit Hausärzten, Internisten oder Kardiologen und Vertretern anderer Gesundheitsberufe.
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EULAR-Empfehlungen zum kardiovaskulären Risikomanagement bei rheumatoiden und muskuloskelettalen Erkrankungen www.rosenfluh.ch/qr/eular_gl_cv-risk
11. Bei Patienten mit Riesenzellarteriitis kann ein optimales Glukokortikoidtherapieschema, welches eine Balance zwischen Rezidivrisiko und Glukokortikoidnebenwirkungen herstellt, das kardiovaskuläre Risiko ebenfalls senken.
C. Bei allen RMD-Patienten sollte regelässig auf kardiovaskuläre Risikofaktoren gescreent werden. Das Risikomanagement sollte ein Screening auf kardiovaskuläre Risikofaktoren und deren strenge Kontrolle umfassen (Rauchstopp, Behandlung von Bluthochdruck, Dyslipidämien und Diabetes). Ein kardiovaskuläres Risikoassessment wird innerhalb von 6 Monaten nach Diagnosestellung empfohlen und sollte je nach Patientenmerkmalen und Risikoprofil wiederholt werden.
D. Patientenedukation und -beratung über das kardiovaskuläre Risiko, Therapieadhärenz und Lebensstilmodifikationen (gesunde Ernährung, regelmässige Bewegung) sind für das Management des kardiovaskulären Risikos dieser Patienten von grosser Bedeutung.
Empfehlungen für Patienten mit Gicht, Vaskulitis, SSc, Myositis, MCTD und SS
1. Für Patienten mit Gicht, Vaskulitis, SSc, Myositis, MCTD und SS empfehlen die Autoren eine umfassende Abklärung der klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren. Hierfür wird der Einsatz von üblichen Risikoscores empfohlen (z. B. Framingham-Risk-Score, Systematic Coronary Risk Evaluation etc.).
2. Bei ANCA-assoziierter Vaskulitis (ANCA: antineutrophile zytoplasmatische Antikörper) kann mit dem Framingham-Score das kardiovaskuläre Risiko unterschätzt werden. Informationen aus dem Modell der European Vasculitis Society (EUVAS) können modifizierbare Framingham-Risikofaktoren ergänzen und sollten deshalb berücksichtigt werden.
3. Bei Patienten mit Gicht, Vaskulitis, SSc, Myositis, MCTD und SS sollte sich die Blutdruckeinstellung nach den Empfehlungen für die Allgemeinbevölkerung richten.
4. Bei Gichtpatienten sollten Diuretika vermieden werden. 5. Bei Patienten mit SSc sollten Betablocker vermieden wer-
den. 6. Bei Patienten mit Gicht, Vaskulitis, SSc, Myositis, MCTD
und SS sollte sich das Lipidmanagement nach den Empfehlungen für die Allgemeinbevölkerung richten. 7. Bei Patienten mit Gicht, Vaskulitis, SSc, Myositis und SS wird der routinemässige Einsatz von Plättchenhemmern zur Primärprävention nicht empfohlen. Die Behandlung mit Plättchenhemmern sollte sich nach den Empfehlungen für die Allgemeinbevölkerung richten. 8. Für Gichtpatienten empfehlen die Autoren einen Harnsäurespiegel unter 0,36 mmol/l (6 mg/dl), um das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und kardiovaskuläre Mortalität potenziell zu senken. 9. Bei Gichtpatienten besteht aus kardiovaskulärer Sicht keine Präferenz für eine bestimmte harnsäuresenkende Therapie. 10. Bei Patienten mit ANCA-assoziierter Vaskulitis führen Remissionsinduktion und -erhaltung auch zu einer Senkung des kardiovaskulären Risikos.
Empfehlungen für Patienten mit SLE und APS
1. Bei Patienten mit SLE und/oder APS wird eine umfassende Abklärung von traditionellen kardiovaskulären und krankheitsbezogenen Risikofaktoren empfohlen, um deren Modifizierung steuern zu können.
2. Für SLE-Patienten sollten Blutdruckzielwerte von < 130/80 mmHg erwogen werden, da bei ihnen niedrigere Blutdruckwerte mit einem selteneren Auftreten von kardiovaskulären Ereignissen assoziiert sind. Falls eine Lupusnephritis vorliegt, sollen ACE-Hemmer (ACE: angiotensin-converting enzyme) oder Angiotensinrezeptorblocker verwendet werden, wenn der Protein-Kreatinin-Quotient im Urin > 500 mg/g beträgt oder wenn eine arterielle Hypertonie besteht. Für APS-Patienten gelten die gleichen Empfehlungen für das Blutdruckmanagement wie für die Allgemeinbevölkerung.
3. Bei Patienten mit SLE und/oder APS sollte sich die Behandlung von Dyslipidämien nach den Empfehlungen für die Allgemeinbevölkerung richten.
4. SLE-Patienten können Kandidaten für Präventionsstrategien sein, wie sie auch für die Allgemeinbevölkerung gelten. Dazu gehört niedrig dosierte Acetylsalicylsäure (ASS), je nach individuellem kardiovaskulären Risikoprofil. Bei asymptomatischen Trägern von Antiphospholipidantikörpern (aPL) mit hohem APS-Risiko mit oder ohne konventionelle Risikofaktoren wird eine niedrig dosierte, prophylaktische Behandlung mit ASS (75–100 mg täglich) empfohlen. Für SLE-Patienten ohne Thrombosen oder Schwangerschaftskomplikationen in der Vorgeschichte mit APS-Hochrisiko wird die prophylaktische Gabe von niedrig dosierter ASS empfohlen; liegt ein niedriges APS-Risikoprofil vor, kann die prophylaktische Behandlung mit niedrig dosierter ASS erwogen werden.
5. Bei SLE-Patienten sollte auf eine geringe Krankheitsaktivität geachtet werden, um dadurch auch das kardiovaskuläre Risiko zu senken.
6. Bei SLE-Patienten wird die Behandlung mit einer möglichst geringen Kortikosteroiddosis empfohlen, um das Risiko für potenzielle kardiovaskuläre Schäden zu minimieren.
7. Für SLE-Patienten kann kein spezifisches Immunsuppressivum mit dem Ziel, das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse zu senken, empfohlen werden.
8. Bei SLE-Patienten sollte eine Hydroxychloroquintherapie erwogen werden, um auch das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse zu reduzieren (Hydroxychloroquin wird für alle Patienten empfohlen, sofern keine Kontraindikationen vorliegen).
Noch viele offene Fragen
Die meisten in den aktuellen Empfehlungen berücksichtigten RMD sind eher selten. Deshalb ist es schwierig, gross angelegte Beobachtungsstudien durchzuführen, um die Auswirkungen von herkömmlichen und krankheitsspezifischen Risi-
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kofaktoren auf die kardiovaskuläre Krankheitslast zu untersuchen; auch klinische Studien über die langfristigen kardiovaskulären Effekte präventiver Therapien sind nicht einfach zu organisieren. Eine grosse Herausforderung für die Erarbeitung der vorliegenden Empfehlungen war der niedrige Evidenzgrad aufgrund spärlicher Studien zu vielen relevanten Fragen. Systemische RMD sind komplex und haben ein breites Spektrum an klinischen Manifestationen unterschiedlicher Schweregrade. Das kann die kardiovaskuläre Gesundheit über unterschiedliche Mechanismen beeinflussen. Die Autoren weisen darauf hin, dass Scores, die für die Vorhersage des kardiovaskulären Risikos in der Allgemeinbevölkerung entwickelt wurden, bei RMD möglicherweise zu kurz greifen und dass krankheitsspezifische Instrumente zur Erfassung des kardiovaskulären Risikos von RMD-Patienten in Studien untersucht werden sollten. Darüber hinaus sollte der zusätzliche Wert von bildgebenden Untersuchungen des Gefässsystems und von zirkulierenden
Biomarkern in der Bewertung des kardiovaskulären Risikos
von RMD-Patienten analysiert werden. Patientensubgruppen
mit höherem kardiovaskulären Risiko sollten identifiziert
sowie die langfristigen Auswirkungen von etablierten und
neuen RMD-Medikamenten auf kardiovaskuläre Risikofak-
toren und kardiovaskuläre Ereignisse erfasst werden.
Schliesslich weisen die Experten auf die Notwendigkeit gross
angelegter Awareness-Kampagnen hin, die bei Rheumatolo-
gen, aber auch bei Ärzten anderer Fachrichtungen sowie bei
betroffenen Patienten das Bewusstsein für kardiovaskuläre
Risiken erhöhen sollen.
s
Andrea Wülker
Quelle: Drosos GC et al.: EULAR recommendations for cardiovascular risk management in rheumatic and musculoskeletal diseases, including systemic lupus erythematosus and antiphospholipid syndrome. Ann Rheum Dis. 2022 Feb 2, Epub ahead of print, doi: 10.1136/annrheumdis-2021-221733.
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