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EDITORIAL
Onlinetest anhand von 2 selbst geschätzten Wahrscheinlichkeiten, wie im obigen Fallbeispiel, die Gesamtwahrscheinlichkeit für eine mögliche Diagnose oder für den Erfolg einer möglichen Intervention berechnen. Je nach Fachgebiet war das Fallbeispiel anders, die Fragestellung aber gleich. Die Studie ergab, dass knapp 80 Prozent der Teilnehmer falsch lagen. Die Fehlerquote war bei beiden Geschlechtern gleich hoch, auch langjährige Erfahrung half nicht.
Die lieben Zahlen
Manch eine ärztliche Entscheidung für oder gegen eine Intervention hängt von der Schwellenwahrscheinlichkeit ab, die diese Intervention rechtfertigt. Da ist es also von Vorteil, wenn Risiken und Wahrscheinlichkeiten richtig berechnet werden. Wie würden Sie im folgenden Fall entscheiden? Sie entdecken im CT Ihres Patienten zufällig einen Lungenknoten. Sie schätzen die Wahrscheinlichkeit, dass es ein Karzinom ist, auf 50 Prozent. Die Genauigkeit der Biopsie, mit der Sie das abklären wollen, schätzen Sie auf 60 Prozent. Wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass Krebs diagnostiziert wird? In diesem Fall sind die Ereignisse A und B stochastisch voneinander unabhängig. Die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Ereignisse gleichzeitig eintreten, entspricht dem Produkt der beiden Wahrscheinlichkeiten (0,5 × 0,6), also 30 Prozent.
Auf die Idee zu dieser Untersuchung kamen die Studienautoren aufgrund eines Falls in der Geburtshilfe, der wegen einer Fehleinschätzung von Wahrscheinlichkeiten einen tragischen Ausgang nahm. Das Ergebnis der Studie zeige für fast alle Teilnehmer Nachholbedarf bei der Multiplikationsregel, mit der kombinierte Wahrscheinlichkeiten, bei der die einzelnen Wahrscheinlichkeiten nicht grösser sein können als ihr Produkt, berechnet werden können. Dies müsse in der Aus- und Fortbildung mehr zur Sprache kommen, so das Fazit der Autoren. Ob die Resultate auf die klinische Situation übertragen werden können, wissen sie trotz der Signifikanz ihrer Ergebnisse aber nicht. Hätten Sie die Lösung gewusst?
In der vorliegenden Ausgabe finden Sie Zusammen-
fassungen von Guidelines aus verschiedenen Fachbe-
reichen. Guidelines können für Entscheidungen zum
weiteren Vorgehen in verschiedenen Situationen hilf-
reich sein, denn sie berücksichtigen jeweils die bisher
verfügbare Evidenz aus randomisiert kontrollierten
Studien und damit auch zu Wahrscheinlichkeiten für
bestimmte Ereignisse.
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Eine amerikanische Studie förderte nun zutage, dass die Fähigkeit von Ärzten, Wahrscheinlichkeiten für verbundene Ereignisse zu berechnen, noch ausbaufähig ist. Die 215 freiwillig teilnehmenden Ärzte, im Durchschnitt 53 Jahre alt, mussten in einem kurzen
Valérie Herzog
Quelle: Arkes HR et al.: Analysis of physicians‘ probability estimates of a medical outcome based on a sequence of events. JAMA Netw Open. 2022;5(6):e2218804.
ARS MEDICI 14–16 | 2022
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