Transkript
FORTBILDUNG
Blutdruck bei Hochbetagten moderat senken
Für Patienten ab 85 Jahre gelten besondere Regeln
Systolische und diastolische Blutdruckziele bei hochbetagten Menschen über 85 Jahre unterscheiden sich von denen jüngerer Patienten. Allgemein gilt, hohen Blutdruck zu behandeln, aber auch nicht zu tief abzusenken, um unter anderem die Koronarperfusion nicht zu beeinträchtigen. Als Diagnosekriterium spielt zudem bei Hochbetagten der aortale Blutdruck eine wichtigere Rolle als der brachial gemessene Blutdruck.
Martin Middeke
Ab 31 000 Tagen gelten wir als hochbetagt. Die Gerontologie bezeichnet die über 85-Jährigen als die alten Alten, die Hochbetagten. Die 60- bis 85-Jährigen werden als die jungen Alten eingestuft. Diese Einteilung ist wie viele andere Grenzwerte und Definitionen in der Medizin recht willkürlich. Nützlich sind diese Einteilungen und Definitionen für epidemiologische Untersuchungen und Therapiestudien. Zur antihypertensiven Therapie im hohen Alter liefert die HYVET-Studie (HYVET: Hypertension in the Very Elderly Trial) sehr gute Daten (1). Es wurden 3845 Teilnehmer zwischen 80 und 105 Jahren für die randomisierte, kontrollierte Studie rekrutiert: 73 Prozent im Altersbereich 80 bis 84 Jahre, 22 Prozent im Bereich 85 bis 89 Jahre und 5 Prozent über 90 Jahre. Der durchschnittliche Blutdruck zu Beginn der Studie lag bei 173/91 mmHg. Es bestand somit eine für die Altersgruppe typische, überwiegend systolische Hypertonie. Ein Drittel der Patienten hatte eine isolierte systolische Hypertonie (ISH). Das Therapieziel war eine «vorsichtige» Blutdrucksenkung auf 150/80 mmHg. Die antihypertensive Behandlung wurde mit Indapamid in Monotherapie (26% der Teilnehmer) oder als Kombination mit Perindopril (74%) versus Plazebo durchgeführt. Sie war im Vergleich zum Plazeboarm so erfolgreich, dass die Studie vorzeitig nach 22 Monaten abgebrochen wurde. Die Blutdrucksenkung nach 2 Jahren betrug 30/12 mmHg in der Verumgruppe und 15/7 mmHg in der Plazebogruppe. Die antihypertensive Therapie führte frühzeitig zu einer signifikanten Senkung der Gesamtmortalität
MERKSÄTZE
� Eine antihypertensive Therapie kann auch bei Hochbetagten die Gesamtmortalität senken.
� Antihypertensiva sind einschleichend zu dosieren.
� Der aortale Blutdruck ist im hohen Alter ein besserer Parameter als der brachiale Blutdruck.
und insbesondere der Herzinsuffizienz. Das ist umso erstaunlicher, als nur 12 Prozent der Teilnehmer eine kardiovaskuläre Vorerkrankung hatten und 7 Prozent einen Diabetes. Eine italienische Fall-Kontroll-Studie (2) bei über 85-jährigen behandelten Hypertonikern ergab eine signifikante Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse bei den Patienten, die seit einigen Jahren bereits behandelt und therapieadhärent waren.
Antihypertensiva langsam steigern
Die ISH im Alter entsteht sui generis als Folge einer arteriellen Gefässsteifigkeit. Die antihypertensive Behandlung der ISH im Alter ist sehr erfolgreich. Als Antihypertensiva kommen bevorzugt ACE-Hemmer (ACE: angiotensin-converting enzyme), AT1-(Angiotensin-II-Rezeptor-Subtyp-1-)Antagonisten, Diuretika und Kalziumantagonisten in Betracht. Kalziumantagonisten haben im Alter einen besonderen Stellenwert, da sie den aortalen Druck besonders gut senken können (siehe unten). Bei der Senkung des systolischen Blutdrucks darf der diastolische Blutdruck bei Patienten ohne koronare Herzkrankheit (KHK) auch unter 70 mmHg absinken. Bei Patienten mit KHK beziehungsweise nicht revaskularisierter KHK sollte dieser Bereich möglichst nicht unterschritten werden, um die Koronarperfusion nicht zu beeinträchtigen. Zur Auswahl stehen alle Antihypertensiva der ersten Stufe (RAAS-Hemmer [RAAS: Renin-Angiotensin-Aldosteron-System], Diuretika und Kalziumantagonisten). Die Einleitung der antihypertensiven Medikation soll vorsichtig geschehen, das heisst initial mit niedrigen Dosen und langsamer Steigerung (Titration). Sicherheitskontrollen der Nierenfunktion und der Elektrolyte sind auch bei subjektivem Wohlbefinden durchzuführen.
Vorsicht mit abendlichen Dosen
Eine abendliche Medikation ist nur indiziert, wenn zuvor eine fehlende Nachtabsenkung (non dipping oder inversed dipping) mit der ambulanten Langzeitblutdruckmessung (ABDM) nachgewiesen wurde. Im höheren Alter wird aber
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FORTBILDUNG
Systolischer Blutdruck (Praxis) mmHg
150 < 140 130 120 Behandlungsbeginn: ≥ 140 mmHg ≥ 160 mmHg Primäres Therapieziel für alle Patienten 130–120 mmHg 140–120 mmHg 140–130 mmHg 110 18–65 > 65–79
≥ 80
Altersgruppen (Jahre)
Abbildung 1: Behandlungsbeginn und Therapieziele in Abhängigkeit vom Alter (nach [5])
sen, eine Senkung < 130 mmHg systolisch zu vermeiden. Zurückhaltung mit einer zu starken Blutdrucksenkung ist insbesondere bei Heimbewohnern und gebrechlichen Patienten zu beachten. Kriterien für den Beginn beziehungsweise die Fortsetzung einer antihypertensiven Therapie im hohen Alter: s individuelle Entscheidung mit erheblichem Ermessens-
spielraum s vorbestehende verträgliche und wirksame Therapie s konstanter systolischer Blutdruck > 150 mmHg s gute körperliche und geistige Verfassung s selbstständig lebend und wohnend s Zurückhaltung bei Gebrechlichkeit/Frailty s Grundsatz «primum nihil nocere» s Ausschluss von orthostatischer Hypotonie/Schwindel s keine erkennbar begrenzte Lebenserwartung s Fehlen schwerer, nicht kardialer Erkrankungen s bei Multimorbidität und Polypharmazie eventuell Reduk-
tion der antihypertensiven Medikation.
Abbildung 2: Originalcomputerausdruck (Arteriograf, Tensiomed) einer abnormalen Pulswelle mit Augmentation des systolischen Blutdrucks (aortaler Augmentationsindex: +47%): 86-jähriger Patient, brachialer Blutdruck: 153/83 mmHg, errechneter aortaler Blutdruck systolisch: 160 mmHg, Pulswellengeschwindigkeit (PWV): 16,2 m/s (< 12) (PD: Pulsdruck, P1: Maximum der initialen Druckwelle [systolischer Blutdruck], P2: Maximum der reflektierten Druckwelle, Aix: Augmentationsindex) häufig eine normale Nachtabsenkung (normal dipping) oder gelegentlich eine überschiessende Nachtabsenkung (extreme dipping) beobachtet. Hier birgt eine abendliche Medikation die Gefahr (stummer) nächtlicher Ischämien (zerebral, kardial, renal). Gelegentlich kann eine zu starke Nachtabsenkung zu einem «arousal» führen: Die Weckreaktion führt zu einem reaktiven Blutdruckanstieg, der bei anschliessender Selbstmessung des Blutdrucks in der Nacht zur Fehlinterpretation führt. Definitionsgemäss kann der nächtliche Blutdruck (im Schlaf) mit der Selbstmessung nicht erfasst werden. Das führt häufig zu Missverständnissen in der Praxis. Die europäischen Leitlinien aus dem Jahr 2018 (3) empfehlen vernünftigerweise einen Zielkorridor für den systolischen Blutdruck von 130 bis 139 mmHg (Abbildung 1) und diastolisch von < 80 mmHg. Es wird ausdrücklich darauf hingewie- Aortaler Blutdruck als Zielparameter Es gibt immer mehr Hinweise dafür, dass insbesondere im höheren Alter der zentrale aortale Blutdruck als Zielpara- meter grössere Bedeutung hat als der brachiale Blutdruck, der bei der konventionellen Blutdruckmessung ermittelt wird. Im höheren Lebensalter führt die arterielle Gefässsteifigkeit zur Augmentation des systolischen Blutdrucks durch die retro- grade/reflektierte Druckwelle (Abbildung 2), die verstärkt und beschleunigt zum Herz zurückläuft und die Ventrikellast in der Systole erhöht. Die Zunahme der linksventrikulären Last führt zur Verstei- fung des linken Ventrikels mit verminderter Compliance, zu gestörter ventrikuloarterieller Koppelung, zur Entwicklung einer diastolischen Herzinsuffizienz und im weiteren Verlauf zur linksventrikulären Hypertrophie. Gleichzeitig wird die kardiale Perfusion in der Diastole durch die Abnahme des diastolischen Perfusionsdrucks und die ver- kürzte Diastolendauer vermindert. Das führt zu einem Miss- verhältnis von kardialem O2-Bedarf und kardialer Ver- sorgung: Der Sauerstoffbedarf steigt mit Zunahme der Ven- trikelarbeit, und die Versorgung wird kompromittiert. Die moderne Pulswellenanalyse (PWA) mit Ableitung der Druckkurve über den gesamten Herzzyklus ermöglicht die Detektion und die Visualisierung der systolischen Augmenta- tion (4), die Messung der Pulswellengeschwindigkeit als Para- meter der arteriellen Gefässsteifigkeit und die Berechnung des aortalen Blutdrucks. Dieser kann selbst bei normalen Druck- werten in der Armarterie erhöht sein. Dieses Phänomen wird als maskierte aortale Hypertonie beschrieben (4). s Prof. Dr. med. Martin Middeke Hypertoniezentrum München HZM Excellence Centre of the European Society of Hypertension D-80333 München Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert. Dieser Artikel erschien zuerst in «doctors today» 11/2021. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. 444 ARS MEDICI 13 | 2022 Literatur: 1. Beckett NS et al.; for the HYVET Study Group: Treatment of Hypertension in Patients 80 Years of Age or Older. New Engl J Med. 2008;358:1887-1898. 2. Corrao G et al.: Protective effects of antihypertensive treatment in pa- tients aged 85 years or older. J Hypertens. 2017;35:1432-1441. 3. Williams B et al.: 2018 ESC/ESH Guidelines for the management of arte- rial hypertension. Eur Heart J. 2018;39:3021-3104. 4. Middeke M: Zentraler aortaler Blutdruck: Bedeutender Parameter für Diagnostik und Therapie, Dtsch Med Wochenschr. 2017;142:1430-1436. 5. Düsing R, Middeke M: Europäische Hypertonie-Leitlinie 2018: ein Spiegel der schwierigen Datenlage. Dtsch Arztebl. 2018;115:A-1267,B1070,C-1062. FORTBILDUNG ARS MEDICI 13 | 2022 445