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FORTBILDUNG
Diabetische Neuropathie: aktuelle Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie
Die typischen Symptome einer diabetischen Neuropathie, wie Missempfindungen und Schmerzen in den Extremitäten, schränken die Lebensqualität der Betroffenen erheblich ein. Darüber hinaus erhöht die Erkrankung das Risiko für Komplikationen sowie die Mortalität. Leider wird die Neuropathie oft spät erkannt. Aktuelle Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie erleichtern das Management der Erkrankung in der Praxis. Die Therapie sollte auf 3 Säulen ruhen, und zwar auf der kausalen Behandlung (z. B. Blutzuckereinstellung), der pathogenetisch orientierten Pharmakotherapie (z. B. Benfotiamin, Alpha-Liponsäure) und der symptomatischen Therapie.
Ovidiu Alin Stirban
Etwa jeder dritte Patient mit Diabetes entwickelt eine diabetische Neuropathie. Diese kann das autonome Nervensystem und/oder das somatische Nervensystem betreffen. Beide Formen der diabetischen Neuropathie gehen nicht nur mit einer deutlich verringerten Lebensqualität einher, sondern korrelieren auch mit einem erhöhten Risiko für weitere Komplikationen und einer erhöhten Mortalität. Bei Diabetikern mit kardiovaskulärer, autonomer diabetischer Neuropathie (KAN), deren Kennzeichen unter anderem Ruhetachykardie, reduzierte Herzfrequenzvariabilität und orthostatische Hypotonie sind, ist das Sterberisiko im Vergleich zu Patienten ohne KAN im Verlauf von bis zu 15 Jahren um den Faktor 3,5 erhöht (3). Die distal sensomotorische Polyneuropathie (DSPN), die etwa drei Viertel aller diabetischen Neuropathien ausmacht, kann die Lebensqualität der Betroffenen durch quälende Schmer-
MERKSÄTZE
� Eine diabetische Neuropathie ist bei Diabetikern häufig und besteht oft bereits im Frühstadium der Erkrankung.
� Zur Früherkennung ist ein regelmässiges Screening erforderlich, das allerdings in der Praxis noch nicht konsequent umgesetzt wird.
� Um ein Fortschreiten der Nervenschäden zu verhindern und die Symptomatik zu verringern, sollten alle Möglichkeiten der Intervention genutzt werden. Dazu zählen Optimierung der Blutzuckereinstellung, Anleitung zu einem gesunden Lebensstil, Blockade pathogener Stoffwechselwege mit Benfotiamin und/oder Alpha-Liponsäure, Vitaminsubstitution (z. B. Vitamin B12) und adäquate Therapie neuropathischer Schmerzen.
� Bei der Behandlung von Patienten mit diabetischer Neuropathie besteht derzeit eine Unterversorgung.
zen und Missempfindungen in den unteren Extremitäten erheblich beeinträchtigen. 13 bis 26 Prozent der Diabetiker leiden unter einer schmerzhaften Form der Erkrankung (3). In bis zu 50 Prozent der Fälle kann die DSPN asymptomatisch verlaufen (4). Aus diesem Grund wird die Diagnose häufig erst mit grosser Verzögerung gestellt. Die DSPN ist von grösster Relevanz, weil sie einen Risikofaktor für ein diabetisches Fusssyndrom (DFS) darstellt. In 85 bis 90 Prozent der Fälle ist die Nervenschädigung an der Ätiologie des DFS beteiligt und damit äusserst bedeutsam hinsichtlich der Risiken für Fussulkus und Amputation (3). Typische Beschwerden im Rahmen der DSPN sind: s neuropathische Symptome in den Extremitäten (v. a. in den
Füssen, seltener in den Händen) wie einschiessende oder stechende Schmerzen, Kribbeln, «Ameisenlaufen», Brennen, Krämpfe, Kälte- oder Taubheitsgefühl, Schmerzen bei einfacher Berührung zum Beispiel mit der Bettdecke s neuropathische Defizite («negative Symptome»), die von Patienten lange Zeit nicht bemerkt werden, wie Abnahme der Warm-/Kalt-, Berührungs- oder Vibrationsempfindung beziehungsweise der Schmerzempfindung.
Trotz der gravierenden Auswirkungen der DSPN auf Lebensqualität, Morbidität und Mortalität bestehen grosse Defizite bei der Diagnostik der DSPN. In der PROTECT-Studie mit 1850 Teilnehmern, darunter 943 Typ-2-, 126 Typ-1- und 781 Nichtdiabetiker, wussten fast 70 Prozent der Teilnehmer an einem Neuropathiescreening, bei denen eine Neuropathie nachgewiesen wurde, zuvor nichts von einer Erkrankung der peripheren Nerven. Selbst von den Befragten, die Schmerzen oder Brennen in den Füssen als Beschwerden angaben, war die Ursache dafür zwei Dritteln nicht bekannt (12). Rund ein Viertel bis 30 Prozent der Teilnehmer mit nachgewiesener DSPN hatten eine schmerzlose Verlaufsform, rund 15 Prozent eine atypische DSPN mit Schmerzen nur beim Gehen (13). Parästhesien beziehungsweise Taubheitsgefühl an den Füssen waren die häufigsten Symptome. Die Schmer-
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Neuropathische Symptome
Neuropathische Zeichen/Defizite/Beeinträchtigungen
Screening
Patientenanamnese: • neuropathische Schmerzcharakteristik1 • Schmerzintensität (NRS oder VAS) • nicht schmerzhafte Symptome (z. B. Parästhesien, Taubheitsgefühl, sensorische Missempfindungen, Stürze)
Funktionstest der kleinen Nervenfasern Funktionstest der grossen Nervenfasern
• Schmerzempfinden (Pinprick)*
• Vibrationsempfinden (Stimmgabel)*
*zum Screening kann ein einzelner Test ausreichend sein; ist das Testergebnis beidseitig anomal, weist dies auf eine DSPN hin, und eine erweiterte Diagnostik kann erforderlich sein
• beidseitige Beeinträchtigung des Vibrationsempfindens beim Stimmgabel- (grosse Nervenfasern) und/oder Pinprick-Test (kleine Nervenfasern)**
Klinische Diagnose
Zusätzliche Funktionstests der kleinen Nervenfasern • Temperaturempfinden
Zusätzliche Funktionstests der grossen Nervenfasern • Berührungs-/Druckempfinden (10-g-Monofilament) • Propriozeption • Knöchelreflex***
Diagnostische Instrumente zur Quantifizierung von
Diagnostische Instrumente zur Quantifizierung von neuropathischen Defiziten können
neuropathischen Symptomen können eingesetzt werden2 eingesetzt werden3, ggf. quantitative sensorische Testung (QST)
• Patientenanamnese: andere Ursachen einer Polyneuropathie erwägen! • Beurteilung von Laborparametern für die Differenzialdiagnose (ratsam: Vitamin B12, Serumproteinelektrophorese, eGFR, TSH, Blutbild, Leberenzyme, Vitamin D, Magnesium) Schmerzhafte DSPN: • Das Vorliegen neuropathischer Schmerzen und Zeichen einer DSPN im gleichen Verteilungsmuster weist auf eine schmerzhafte DSPN hin. • Neuropathische Schmerzen in einem plausiblen neuroanatomischen Verteilungsmuster, z. B. distalsymmetrisch, können auch bei Fehlen einer
klinisch evidenten DSPN vorliegen. • Interferenzen mit Tagesaktivitäten oder Schlaf
**Minimalkriterien für die DSPN-Diagnose in der klinischen Praxis ***Cave: gesunde Ältere können keine Reflexe zeigen
Bestätigung der Diagnose+
Bestätigung einer Neuropathie in den kleinen Nervenfasern • Messung der intraepidermalen Nervenfaserdichte (IENFD)*
Bestätigung einer Neuropathie in den grossen Nervenfasern • Messung der Nervenleitgeschwindigkeit
+ ggf. Überweisung des Patienten zum Neurologen, die Bestätigung einer DSPN-Diagnose basiert auf den TorontoKonsensuskriterien (Tesfaye et al., Diabetes Care 2010; 33: 2285-2293) * in der Regel beschränkt auf sehr seltene Fälle mit unklarer Diagnose
Abbildung 1: DSPN-Screening- und -Diagnosealgorithmus (1: der DN4-Fragebogen [Douleur Neuropathic en 4 Questions] kann zur Beurteilung der neuropathischen Schmerzcharakteristik eingesetzt werden; 2: schliesst Scores wie z. B. den Neuropathie-Symptom-Score [NSS] ein; 3: schliesst Scores wie z. B. den Neuropathie-Disability-Score [NDS] ein; DSPN: distalsensomotorische Polyneuropathie; eGFR: geschätzte glomeruläre Filtrationsrate; NRS: numerische Rating-Skala; VAS: visuelle Analogskala; TSH: thyreoideastimulierendes Hormon)
Kasten:
Risikofaktoren für eine diabetische Neuropathie
▲ Diabetesdauer ▲ Diabeteseinstellung (Hyperglykämie) ▲ arterielle Hypertonie ▲ periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) ▲ Mediasklerose vom Typ Mönckeberg ▲ diabetische Retino- und Nephropathie ▲ Depression ▲ viszerale Adipositas ▲ Hyperlipidämie ▲ Alkohol, Nikotin ▲ mangelnde körperliche Aktivität ▲ demografische Faktoren (Alter, Körpergrösse, Körpergewicht)
zen nahmen in der Regel mit dem Schweregrad der Neuropathie zu. Daten wie die Ergebnisse des KORA-S-4-Surveys weisen auf eine deutliche Unterversorgung in der Therapie hin: Lediglich 38 Prozent der Personen mit schmerzhafter DSPN erhielten Schmerzmittel und nur 6 Prozent der Teilnehmer mit DSPN eine Pharmakotherapie gegen die Neuropathie (14). Um das Management der DSPN in der Praxis zu erleichtern, wurde aktuell von 15 internationalen Neuropathieexperten ein Konsensuspapier mit Empfehlungen zum Screening, zur Diagnose und zur Therapie der DSPN veröffentlicht (1). Das Expertengremium weist darauf hin, dass meist sowohl die kleinen als auch die grossen Nervenfasern geschädigt sind. Deshalb sollten bei einem Screening auf DSPN geeignete Tests zur Beurteilung unterschiedlicher Nervenfasertypen eingesetzt werden (Abbildung 1).
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Basismassnahmen
Klinische Diagnose einer DSPN (mit oder ohne neuropathische Symptome)
Lebensstilmodifikation, Blutglukosekontrolle, Kontrolle von kardiovaskulären und anderen Risikofaktoren, sorgfältige Fusspflege Berücksichtigung relevanter anomaler Laborbefunde
(z. B. Vitamin B12, Serumproteinelektrophorese, eGFR, TSH, Blutbild, Leberenzyme, Vitamin D, Magnesium) Erfassung von Komorbiditäten, Potenzial für Arzneimittelinteraktionen
Spezifische Therapieoptionen
Asymptomatische, milde bis moderate DSPN
Symptomatische, nicht schmerzhafte DSPN (Parästhesien, Taubheitsgefühl, sensorische Störungen)
Schmerzhafte DSPN
• Alpha-Liponsäure
Pathogenetisch orientierte Therapie+ • Alpha-Liponsäure • Benfotiamin
Symptomatische Therapie neuro+/– pathischer Schmerzen (s. auch Abb. 3)
• analgetische Pharmakotherapie • nicht pharmakologische Optionen
Quelle: mod. nach (1) DSPN: distal sensomotorische Polyneuropathie, eGFR: geschätzte glomeruläre Filtrationsrate TSH: thyreoideastimulierendes Hormon + verbessert auch Defizite/Beeinträchtigungen/Symptome
Abbildung 2: Therapiealgorithmus
Screening und Diagnostik
Da eine diabetische Neuropathie keineswegs eine Spätkomplikation des Diabetes mellitus ist (5), sollte das Screening frühzeitig erfolgen. Zum Zeitpunkt der Diabetesdiagnose bestehen bei einigen Typ-2-Diabetes-Patienten schon jahrelang eine Hyperglykämie und/oder eine gestörte Glukosetoleranz. Daher kann eine diabetische Neuropathie bereits zum Zeitpunkt der Diabetesdiagnose präsent sein. In einer Studie wurde bei jeder vierten älteren Person mit Prädiabetes eine diabetische Neuropathie (DSPN) nachgewiesen (6). Insbesondere bei gleichzeitigem Vorliegen einer gestörten Nüchternglukose und Glukosetoleranz ist die Prävalenz einer DSPN und einer KAN erhöht (7). Von der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) wird ein Screening auf eine DSPN und/oder eine KAN bei Patienten mit Typ-2-Diabetes zum Zeitpunkt der Diabetesdiagnose und bei Patienten mit Typ-1-Diabetes spätestens 5 Jahre nach Diagnosestellung empfohlen (3). Zum Screening auf DSPN gehören eine Anamnese, eine Inspektion und eine klinische Untersuchung der Füsse, die Erfassung der neuropathischen Symptome und Defizite sowie einfache neurologische Tests (Abbildung 1). Als einfaches Screeningtool zur Erstabklärung neuropathischer Schmerzen wird im Konsensuspapier der DN4-Fragebogen (Douleur Neuropathique en 4 Questions) empfohlen (1). Neuropathische Schmerzen nehmen typischerweise während der Nacht zu und können sowohl den Schlaf als auch die Tagesaktivitäten beeinträchtigen. Zur Beurteilung der Intensität neuropathischer Schmerzen kann die numerische 11-Punkt-LikertSkala oder eine visuelle Analogskala eingesetzt werden. Generell ist die Anwendung validierter Neuropathiescores
und -fragebögen wichtig, um neuropathische Symptome und Defizite zu erfassen und zu bewerten. Als Minimalkriterium für die Diagnose einer DSPN in der klinischen Praxis einigte sich die Expertengruppe auf den Nachweis einer beidseitigen Verschlechterung des Vibrationsempfindens der unteren Extremitäten, zum Beispiel beurteilt mit der Rydel-Seiffer-Stimmgabel (grosse Nervenfasern), und/oder des Schmerzempfindens (kleine Nervenfasern). Empfohlen wird die Messung des Vibrationsempfindens dorsal auf der Grosszehe. Dabei sollten altersabhängige Grenzwerte berücksichtigt werden (1). Für die Beurteilung des Druck- und des Berührungsempfindens wird ein Test mit dem 10-g-Monofilament empfohlen, alternativ kann zum Beispiel ein Q-Tip verwendet werden. Ein auffälliger Test auf dem Rücken der Grosszehe liefert Hinweise für eine DSPN, ein auffälliges Ergebnis an der Fusssohle weist zudem auf ein erhöhtes Risiko für eine Fussulzeration hin. Zur Beurteilung der Funktion der kleinen Nervenfasern werden primär Testungen des Schmerzempfindens des Fusses (mit NeurotipsTM/Neuropen®, Pinprick oder Ähnlichem) sowie des Temperaturempfindens (mit Tip Therm®, einer kalten Stimmgabel oder Ähnlichem) empfohlen. Wer über entsprechende Geräte verfügt, kann zusätzlich zur Beurteilung der autonomen Nervenfunktion die Schweissproduktion oder die elektrochemische Leitfähigkeit der Haut messen (1). Zur Erfassung einer KAN sind laut Praxisempfehlungen der DDG mindestens 2 autonome Reflextests erforderlich, und zwar der Herzfrequenzvariabilitätstest sowie der Orthostasetest (3). Bei allen Patienten mit pathologischen Testergebnissen, auffälligen anamnestischen Befunden oder klinischen Sympto-
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Klinische Diagnose einer schmerzhaften DSPN Beurteilung von Kontraindikationen und Komorbiditäten
1. Schritt
Monopharmakotherapie*
Gabapentinoide (Pregabalin/Gabapentin)
Trizyklische Antidepressiva (TCA), bevorzugt Amitriptylin
Serotonin-NorepinephrinWiederaufnahme-Hemmer (SNRI), bevorzugt Duloxetin
Wenn nötig, bis zur maximal verträglichen Dosis titrieren
Bei partieller bzw. unzureichender Schmerzlinderung: unter Berücksichtigung von Kontraindikationen
und Komorbiditäten zweiten Therapiebaustein hinzufügen
Bei fehlender Schmerzlinderung bzw. nicht tolerablen Nebenwirkungen: Wechsel auf eine andere Monopharmakotherapie
Kombinationstherapie
+/–
Nicht pharmakologische Therapieoptionen:
• transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) • frequenzmodulierte elektromagnetische Neuralstimulation (FREMS) • Hochtontherapie • Akupunktur • physikalische Therapie • psychologische Unterstützung
SNRI oder TCA oder Tramadol**
Gabapentinoide
Gabapentinoide
Wenn nötig, bis zur maximal verträglichen Dosis titrieren
Bei immer noch ungenügender Schmerzkontrolle: unter Berücksichtigung von Kontraindikationen und Komorbiditäten
dritten Therapiebaustein hinzufügen
Bei nicht tolerablen Nebenwirkungen: Wechsel auf eine andere Kombinationstherapie
Starke Opioide**
Capsaicin 8% Pflaster
Bei therapieresistenten Patienten
in spezialisierten Zentren
Rückenmarkstimulation
2. Schritt
3. Schritt
Quelle: mod. nach (1) *pathogenetisch orientierte Therapiemassnahmen können berücksichtigt werden **möglichst nur kurzzeitige Anwendung
Abbildung 3: Algorithmus Schmerztherapie
men werden weiterführende Untersuchungen empfohlen (3). Ergibt sich kein Verdacht auf eine Neuropathie, sollte das Screening 1-mal jährlich wiederholt werden.
wiederum die Bildung gefässschädigender Abbauprodukte wie AGE [advanced glycation end products] forcieren [10]).
Differenzialdiagnosen
Die diabetische Neuropathie ist eine Ausschlussdiagnose, da es sich um eine Schädigung der peripheren Nerven handelt, die infolge eines Diabetes mellitus ohne andere Ursachen auftritt (3). Aber nicht jede Neuropathie bei Diabetespatienten ist zwingend eine diabetische Neuropathie. Die wichtigsten Differenzialdiagnosen aus Sicht der Allgemeinmediziner sind laut Expertenkonsens Neuropathien aufgrund von Alkoholabusus, Urämie, Hypothyreose, Paraproteinämie, monoklonaler Gammopathie, neurotoxischer Medikation, Vitamin-B12-Mangel, peripherer arterieller Erkrankung, Krebs sowie entzündlicher und infektiöser Erkrankungen (1). Bei vielen Diabetikern mit Nervenfunktionsstörungen liegt eine gemischte Pathogenese vor, zum Beispiel die Kombination einer diabetischen Neuropathie 1. mit einer alkoholischen Neuropathie (Alkoholanamnese
immer erheben!) 2. mit einem Vitamin-B12-Mangel, vor allem unter Therapie
mit Metformin oder einem Protonenpumpenhemmer (Vitamin-B12-Spiegel oder Holotranscobalamin bestimmen lassen) (8) 3. mit einem Vitamin-B1-Mangel, der bei Diabetespatienten aufgrund der erhöhten Ausscheidung von Vitamin B1 im Urin ebenfalls häufig ist (9) (ein Defizit fördert Nervenschäden und Störungen im Glukosemetabolismus, die
In einer retrospektiven Studie mit 103 Diabetikern mit DSPN wurden bei mehr als der Hälfte zusätzliche Neuropathieursachen gefunden, am häufigsten Nieren- und chronische Darmerkrankungen (11).
Therapie ruht auf 3 Säulen
Die wichtigsten Ziele der Therapie sind die Linderung der oft stark lebensqualitätsmindernden Symptome, die Zurückbildung der Nervenschäden beziehungsweise zumindest das Aufhalten der Progression der Erkrankung sowie die Prävention eines DFS. Da die Pathomechanismen bei einer diabetischen Neuropathie komplex sind, ist eine multifaktorielle Therapie notwendig. Ist die Intervention nicht erfolgreich, schreitet eine DSPN fort. Zu den wichtigsten Risikofaktoren für eine DSPN zählen neben Diabetesdauer die Ausprägung der Hyperglykämie, arterielle Hypertonie und Hyperlipidämie (3)(Kasten). Eine Hyperglykämie führt zu zellschädigenden Prozessen wie oxidativem Stress und Bildung aggressiver AGE, die Folgeerkrankungen verursachen. Im Konsensus zum Management der DSPN verweisen die Experten auf einen holistischen Ansatz, basierend auf 3 Grundpfeilern (1) (Abbildung 2): s Optimierung der Blutzuckerkontrolle, Lebensstilmodifi-
kationen und Kontrolle von kardiovaskulären und anderen Risikofaktoren
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s pathogenetisch orientierte Pharmakotherapie s symptomatische Pharmakotherapie im Falle einer schmerz-
haften DSPN.
Kausale Therapie Die kausale Therapie umfasst die optimale Diabetesbehandlung inklusive Lebensstilmodifikation und die Behandlung kardiovaskulärer Risikofaktoren. Es gibt einen grossen Konsens, dass sowohl bei Typ-1- als auch bei Typ-2-Diabetikern die Blutzuckerkontrolle optimiert werden sollte, um einer DSPN vorzubeugen beziehungsweise die Progression einer bereits bestehenden DSPN zu verlangsamen (1). Gute Evidenz dafür gibt es bisher aber nur bei Typ-1-Diabetikern. In der DCCT-Studie wurde durch eine intensivierte Insulintherapie das Auftreten einer DSPN um 69 Prozent (p = 0,006) nach 5 Jahren im Vergleich zur Kontrollgruppe reduziert (15). Die Progression der DSPN konnte um 57 Prozent gebremst werden. Bei Typ-2-Diabetikern schützt eine intensivierte Diabetestherapie nach bisherigen Studien weniger eindeutig vor einer Neuropathie, umso wichtiger scheint eine multifaktorielle Lebensstilintervention zu sein. In der Look-AHEAD-Studie war eine mehrjährige Lebensstilintervention bei Typ-2Diabetikern mit einer Reduktion neuropathischer Symptome assoziiert (16). In einer weiteren Studie mit Personen mit gestörter Glukosetoleranz und Neuropathie konnte nach 1-jähriger Lebensstilintervention mittels Hautbiopsie eine Zunahme der Nervenfaserdichte nachgewiesen werden (17).
Pathogenetisch orientierte Pharmakotherapie Ziel ist es, in die multifaktorielle Pathogenese der DSPN einzugreifen und pathogene Stoffwechselwege, die durch Hyperglykämien aktiviert werden – wie die Bildung reaktiver Sauerstoffradikale und AGE, die Überaktivität der Proteinkinase C, den Polyol- und Hexosaminstoffwechselweg –, zu blockieren. Für die klinische Anwendung stehen in Deutschland das Antioxidans Alpha-Liponsäure (ALA) und das fettlösliche Benfotiamin, ein Vitamin-B1-Prodrug, zur Verfügung. Beide Substanzen konnten in klinischen Studien Symptome der DSPN verbessern und haben auch in der Langzeittherapie ein gutes Sicherheitsprofil. Benfotiamin, das zirka 5-fach höher bioverfügbar als herkömmliches Thiamin ist (21), kann den bei Diabetikern häufigen Vitamin-B1-Mangel ausgleichen und so pathogene Stoffwechselwege hemmen. In einer 6-wöchigen plazebokontrollierten Studie mit 165 Patienten mit DSPN wurde mit hoch dosiertem Benfotiamin (600 mg täglich) in der Per-Protokoll-Analyse der Neuropathie-Symptom-Score signifikant verringert. Die Effekte waren bei hoch dosierter Therapie ausgeprägter als bei einer niedrigeren Dosis (300 mg täglich) und nahmen mit fortschreitender Studiendauer zu (22). Ähnliche Ergebnisse wurden in einer weiteren plazebokontrollierten Studie über 3 Wochen mit insgesamt 40 Diabetikern mit DSPN erzielt, die mit täglich 400 mg Benfotiamin behandelt wurden (23). In einer weiteren Studie mit einer Behandlungszeit von bis zu 12 Monaten (600 mg/Tag über 3 Monate, gefolgt von 300 mg/Tag) wurde eine kontinuierliche Verringerung neuropathischer Symptome beobachtet (24). Mit ALA, intravenös oder oral verabreicht, können sowohl neurologische Symptome als auch Defizite verbessert werden.
Für eine i.v. Therapie über 3 Wochen wurde dies in einer Metaanalyse mit insgesamt 1258 Personen mit DSPN belegt (18), für die orale Therapie (600 mg, 1200 mg oder 1800 mg/Tag) in einer 5-wöchigen Studie (19). In der Nathan-1-Studie, mit einer Dauer von 4 Jahren die längste Studie bei DSPN, wurde unter oraler Therapie mit 600 mg ALA/Tag im Vergleich zu Plazebo eine signifikante Reduktion von Defiziten nachgewiesen (20). Die pathogenetisch orientierte Pharmakotherapie, zusätzlich zu Lebensstilinterventionen und einer Optimierung der Blutzuckereinstellung, wird bei Patienten mit asymptomatischer DSPN, mit symptomatischer, nicht schmerzhafter DSPN und bei schmerzhafter DSPN empfohlen und sollte bei Patienten mit ausgeprägten neuropathischen Schmerzen mit einer symptomatischen Behandlung ergänzt werden (Abbildung 2) (1, 3, 25).
Symptomatische Schmerzbehandlung In einzelnen Metaanalysen wurden Medikamente zur Behandlung neuropathischer Schmerzen (Antidepressiva, Antikonvulsiva, Opioide, Capsaicinpflaster) zum Teil unterschiedlich bewertet. Abhängig von der Intensität der Schmerzen und vom individuellen Risikoprofil der Patienten sollte das am besten geeignete Medikament ausgewählt werden. Im Expertenkonsensus werden als Analgetika der ersten Wahl die Antikonvulsiva Gabapentin und Pregabalin und die Antidepressiva Duloxetin und Amitriptylin genannt (Abbildung 3); als Medikamente der zweiten Wahl werden Tramadol und als Wirkstoffe der dritten Wahl stärkere Opioide empfohlen (1). Zusätzlich können topische Analgetika wie Capsaicinsalbe oder -pflaster (3. Wahl) eingesetzt werden. Herkömmliche Analgetika wie nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) sind für die Behandlung neuropathischer Schmerzen nicht geeignet. Mit jeder Monotherapie wird laut klinischen Studien nur eine Ansprechrate von maximal 50 Prozent erreicht. Deshalb ist häufig eine Kombination mehrerer Analgetika erforderlich, wobei sorgfältig auf das Risiko für Arzneimittelinteraktionen geachtet werden sollte. Eine ungenügende Wirksamkeit der Schmerztherapie sollte erst nach 2- bis 4-wöchiger Behandlungsdauer in adäquater Dosis festgestellt werden (1). Auch nicht pharmakologische Optionen, wie psychologische Unterstützung, Physiotherapie, transkutane elektrische Nervenstimulation und Akupunktur, sollten laut Empfehlung des Expertengremiums trotz der relativ geringen Evidenzlage in Betracht gezogen werden (Abbildung 3).
Mangel ausgleichen
Gedacht werden sollte bei Diabetikern ausserdem an häufige Mangelerscheinungen wie Vitamin-B12- oder Magnesiummangel, die gegebenenfalls ausgeglichen werden sollten. Es gibt Hinweise dafür, dass durch eine Vitamin-B12- beziehungsweise Magnesiumsubstitution Symptome einer DSPN verringert werden können (1). So zeigte sich in einer aktuellen plazebokontrollierten, klinischen Studie, dass bei Typ-2Diabetes-Patienten mit DSPN und leicht erniedrigten Vitamin-B12-Spiegeln durch eine hoch dosierte orale VitaminB12-Supplementation (1000 µg/Tag) die neurophysiologischen Parameter und der Schmerzscore gegenüber der Kontrollgruppe signifikant gebessert werden konnten (26).
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Prävention eines diabetischen Fusssyndroms
Patienten mit neurologischen Defiziten haben ein erhöhtes Risiko, ein DFS zu entwickeln. Zur Vorbeugung sollten die Patienten zu folgenden Massnahmen angeleitet werden: 1. tägliche Inspektion der Füsse 2. Tragen von komfortablen, nicht zu engen Schuhen (bei
Bedarf sind die Patienten mit Diabetesschutzschuhen mit Weichpolstersohle, ggf. mit orthopädischer Schuhzurichtung, zu versorgen) 3. regelmässige Fusspflege unter Vermeidung von spitzen und scharfen Gegenständen 4. zeitnahe Vorstellung, sobald Wunden entstehen.
Bei allen Patienten mit diabetischer Neuropathie sollten, ab-
hängig von der individuellen Krankheitssituation, zumindest
halbjährliche Verlaufskontrollen erfolgen. Liegen zusätzlich
eine pAVK und/oder Fussdeformitäten vor, werden Kontrol-
len alle 3 Monate empfohlen (3). Während der COVID-19-
Pandemie gewannen laut Expertenkonsensus telemedizini-
sche Arzt-Patienten-Kontakte an Bedeutung, die zum Beispiel
für Verlaufskontrollen und die Beurteilung neuropathischer
Beschwerden genutzt werden können (1).
s
PD Dr. Ovidiu Alin Stirban Asklepios Klinik D-16547 Birkenwerder
Interessenlage: Der Autor gibt an, Vortragshonorare von Berlin Chemie, Boehringer Ingelheim, Lilly, Novartis, Novo Nordisk, Sanofi und Wörwag Pharma erhalten zu haben.
Dieser Artikel erschien zuerst in «doctors today» am 10 Februar 2022. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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