Transkript
INTERVIEW
Cochrane Schweiz neuer Partner von DOCINSIDE
Leichter Zugang zu kompakten Wissensformaten für die Praxis
In ARS MEDICI fassen wir in Zusammenarbeit mit Cochrane Schweiz bereits seit einiger Zeit die Inhalte ausgewählter Cochrane Reviews für Sie zusammen. Wir freuen uns, Ihnen Cochrane Schweiz nun auch als neuen Partner unserer Plattform DOCINSIDE vorstellen zu dürfen. Damit sind die Angebote der Cochrane Library und von Cochrane Schweiz ebenso über www.docinside.ch zu finden. Was Cochrane alles zu bieten hat und welche praktischen Formate Sie für Ihre Recherche erwarten, erfahren Sie im Interview mit Dr. med. Erik von Elm, dem Direktor von Cochrane Schweiz.
ARS MEDICI: Von Cochrane haben die meisten Personen im Gesundheitswesen schon mal gehört, aber viele wissen nicht, was sich dahinter eigentlich verbirgt. Was bietet Cochrane alles an? Dr. med. Erik von Elm: Das Hauptangebot von Cochrane als internationalem Netzwerk sind Evidenzsynthesen, und das wichtigste Format ist der systematische Review. Er ist das Hauptprodukt, das Cochrane seit seiner offiziellen Gründung 1993 anbietet. Von Anfang an war klar, dass diese Art der Information an einem Ort zusammengeführt und für Personen mit verschiedenen Rollen im Gesundheitssystem, die Evidenz benötigen, verfügbar gemacht werden muss. Dieser Anspruch wurde mit der Cochrane Library realisiert. Dort sind die Reviews als Volltexte in der Cochrane Database of Systematic Reviews (CDSR) verfügbar. Parallel zur Gründung und zum Aufbau der Cochrane Collaboration begann auch die Entwicklung der evidenzbasierten Medizin, kurz EBM. Dieses Prinzip ist mittlerweile schon selbstverständlich geworden. Heute wird es vielleicht auch ein bisschen verdrängt von anderen Konzepten wie etwa der Personalized Healthcare. Das ist einerseits ein Erfolg der EBM, andererseits aber auch gleichzeitig eine Schwierigkeit. Manchmal ist es gar nicht mehr der Rede wert, dass Entscheidungen auf Evidenz basieren und nicht auf Meinungen und Denkschulen, wie es in der Medizin lange üblich war. Der Begriff der Evidenz ist den meisten bekannt, allerdings ist die Implementierung in die Praxis oft unzureichend. Auch die Schweiz ist nicht unbedingt eine Vorreiterin in der konsequenten Umsetzung von Evidenz in den Entscheidungsprozessen, angefangen mit den Leitlinien.
Fliessen evidenzbasierte Entscheidungen in anderen Ländern leichter in die Guidelines ein? von Elm: In Ländern wie Grossbritannien finden evidenzbasierte Entscheidungen leichter Eingang in die Guidelines, und ihr Stellenwert wird besser erkannt. Zudem haben Diskussionen zu Forschungsergebnissen eine andere Qualität, wenn man klar unterscheidet, ob es sich um das Resultat einer einzelnen Studie handelt, die möglicherweise von Sponsoren
Foto: zVg
Zur Person
Dr. med. Erik von Elm ist Direktor und Mitbegründer von Cochrane Schweiz. Er ist wissenschaftlicher Oberarzt am Institut Unisanté Lausanne, hat an der Universität Tübingen (Deutschland) promoviert und sich in Epidemiologie (MSc London School of Hygiene and Tropical Medicine, GB) und Public Health (FMH Prävention und Gesundheitswesen, Schweiz) weitergebildet. Er vertritt die nationalen Cochrane-Zentren im Cochrane Council, ist Autor zahlreicher Fachartikel und Ad-hoc-Reviewer für führende biomedizinische Zeitschriften wie JAMA, Lancet und BMJ sowie mehrere internationale Forschungsförderer.
gefördert wurde, oder um das Ergebnis eines systematischen Reviews, der zahlreiche Studien zusammenfasst und diese kritisch bewertet. Dieses Element der Synthese, um zuverlässigere und sicherere Aussagen treffen zu können, wird in vielen Entscheidungsprozessen zu wenig gewürdigt. Natürlich haben die einzelnen Studien innerhalb eines Reviews eine unterschiedliche Bedeutung und werden entsprechend gewichtet. Grosse Einzelstudien haben meist eine höhere Aussagekraft und in der Metaanalyse ein grösseres Gewicht als kleine Studien.
Wie sieht die Erstellung eines systematischen CochraneReviews aus? von Elm: Cochrane-Reviews werden ausschliesslich in Autorengruppen angefertigt, weil zwischendurch immer wieder eine gegenseitige Kontrolle erforderlich ist. Man kontrolliert die Schritte, an denen man werten und Entscheidungen treffen muss, beispielsweise ob eine Studie noch in den Review eingeschlossen werden soll oder doch nicht mehr zum Thema gehört. Zudem muss man ohne Bewertung der Ergebnisse entscheiden, das heisst, man darf eine Studie nicht ausschliessen, weil die Ergebnisse in eine ungewollte Richtung weisen. All das erfordert ein hohes Mass an Transparenz. Deswegen
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muss ein Review von mindestens zwei Personen, noch besser von mehreren angefertigt werden. Es gibt wenige CochraneReviews, die nur von zwei Autoren bearbeitet wurden. Auch braucht es in einer Autorengruppe immer verschiedene Kompetenzen, sowohl methodische Kompetenzen, etwa was die Literatursuche und die Bewertung der Studienqualität betrifft, als auch klinische Kompetenzen, damit man die richtigen Endpunkte berücksichtigt und die Bedeutung der Ergebnisse für den Praktiker diskutieren kann.
Wie finden und finanzieren sich die Autorengruppen? von Elm: Die Autorengruppen finden meistens im akademischen Umfeld zusammen, in Universitätsspitälern oder in Instituten, die auch aus öffentlichen Mitteln finanziert werden. In manchen Ländern, vor allem den englischsprachigen oder in Deutschland, ist es auch möglich, Fördergelder für systematische Reviews zu bekommen. In der Schweiz ist das allerdings eher schwierig. Dabei wäre es wichtig, nicht nur die Primärforschung, sondern mit den Reviews auch das Bindeglied zwischen den primären Forschungsergebnissen und deren Umsetzung in die Leitlinien zu finanzieren. Für die Autorengruppen stehen bei Cochrane die Review-Gruppen als Ansprechpartner zur Verfügung, die jeweils einen definierten Themenbereich abdecken und als Editorial Office fungieren. Darüber ist im Organigramm von Cochrane noch das zentrale Editorial Office angesiedelt, das die Qualität prüft und die Cochrane-Reviews zusammen mit dem Verlag Wiley produziert.
Die Erstellung eines Reviews nimmt also immer eine gewisse Zeit in Anspruch? von Elm: Ja, all das braucht Zeit. Cochrane möchte gern schneller werden, und im Kontext der Pandemie ist das auch gelungen. Da es sich um einen mehrstufigen Prozess handelt, ist eine Beschleunigung jedoch schwierig. Die Erarbeitung eines Reviews findet in drei Phasen statt: s Zunächst wird ein Titel bei der Cochrane-Review-Gruppe
registriert, und in der ersten Phase wird geprüft, ob Ähnliches schon vorhanden oder bei einer anderen Autorengruppe in Arbeit ist, um Redundanzen zu vermeiden. Das ist anderswo nicht üblich, wird aber bei Cochrane so praktiziert. Es gibt immer nur einen Cochrane-Review zur gleichen Fragestellung, denn mehrere Reviews zu ein und derselben Fragestellung wären in der Praxis für Entscheider wenig hilfreich. Schon dieser erste Schritt braucht eine gewisse Zeit. s Im Anschluss wird von den Autoren das Protokoll erstellt, peer-reviewed und in der Cochrane Library publiziert. s Danach fängt die eigentliche Review-Arbeit erst an: die Literatursuche in den elektronischen Datenbanken und anderen Quellen, das Aussortieren (Screening), die Extraktion und Analyse der Inhalte, die kritische Bewertung der Studienqualität, die Kombination der oft heterogenen Informationen und alle weiteren Schritte bis zur Publikation. Cochrane versucht in diesem Ablauf schneller zu werden, wo es machbar ist. Denn die Nutzer benötigen die Evidenz so gut und so schnell wie möglich. Das wurde auch im Kontext der Pandemie deutlich, beispielsweise bei der Fragestellung, ob Masken zur Vorbeugung oder bestimmte Medikamente zur Behandlung der Infektion mit SARS-CoV-2 wirken. Um
dringende Fragestellungen dieser Art anzugehen, haben wir mithilfe von methodischen Abkürzungen das Format der Rapid Reviews eingerichtet. Manche Rapid Reviews zu COVID-19 wurden in dieser kurzen Zeit auch schon aktualisiert. Hier ist man also schon nah am aktuellen Stand der Evidenz. Dabei steht aber immer die Frage im Raum, ob das ohne Qualitätsverlust machbar ist oder ob doch zu viele Kompromisse eingegangen werden müssen.
Wie häufig werden die Cochrane-Reviews aktualisiert? von Elm: Die Autorengruppen verpflichten sich bei der Annahme der Titelregistrierung auch zur Aktualisierung des Reviews. Früher hatten wir den hohen Anspruch, dass unabhängig vom Thema alle zwei Jahre ein Update durchzuführen ist. Das hat sich aber als wenig praktikabel herausgestellt. Inzwischen ist man toleranter geworden, denn es ist nicht bei allen Themen erforderlich, den ganzen Review-Prozess alle zwei Jahre neu durchzuführen. Wenn die Literatursuche ergibt, dass innerhalb von zwei Jahren nicht viel Neues dazugekommen ist, reicht es aus, dies zu dokumentieren. Anders ist es bei aktuellen und sehr dynamischen Themen wie COVID-19, da gab es schon nach einem halben Jahr zahlreiche neue Studien. Glücklicherweise existieren Studienregister, sodass man sehen kann, welche Studien in welcher Phase in der Pipeline sind, und abschätzen kann, ob eine Aktualisierung des Reviews bald erforderlich sein wird. Wenn sich eine Fragestellung überholt hat und keine neuen Studien dazukommen, etwa wenn Therapien durch neue ersetzt wurden, gibt es auch Reviews, die geschlossen werden. Auch hier ist Cochrane abgerückt von der starren Vorgabe, dass Reviews aktualisiert werden müssen. In manchen Bereichen ist es problematisch, dass es zu wenig Studien gibt: Häufig werden Studien nur aufgrund von kommerziellen Interessen durchgeführt, zum Beispiel zur Marktzulassung von Medikamenten. Wenn diese nicht mehr vorhanden sind, zum Beispiel ein Patent ausgelaufen ist, würde man sich oft eine öffentliche Forschungsfinanzierung wünschen, damit die Wirkung und Anwendung dieser Medikamente weiter beforscht werden können. Dies betrifft auch Fragestellungen, bei denen es nicht um Medikamente geht, beispielsweise zur Wirksamkeit von Präventionsmassnahmen. Hier wäre es wichtig, in Vergleichsstudien zu prüfen, ob das, wofür staatliche Mittel aufgewendet werden, auch eine nachweisbare Wirksamkeit hat.
Gibt es Geldquellen für diese Art der Forschung? von Elm: Die gibt es. Der Schweizer Nationalfonds hat ein Programm aufgelegt, um sogenannte Investigator Initiated Clinical Trials (IICT) zu fördern. Und es gibt auch Stiftungen, die solche Projekte finanzieren. Diese Gelder liegen aber von den Summen her weit hinter den Forschungsbudgets der Industrie.
Wie viele Cochrane-Zentren gibt es weltweit? Und seit wann gibt es das Zentrum in der Schweiz? von Elm: Mittlerweile gibt es in recht vielen Ländern eine Cochrane-Vertretung, insgesamt etwa 60. Cochrane Schweiz wurde 2010 gegründet und hat seinen Sitz am Centre universitaire de médecine générale et santé publique (Unisanté) an der Universität von Lausanne. Hier arbeiten in einem kleinen Team Personen mit unterschiedlichem Hintergrund aus den
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Gesundheitswissenschaften, der Physiotherapie, den Ernährungswissenschaften und der Medizin zusammen. Cochrane Schweiz ist in allen drei Sprachregionen der Schweiz tätig.
Kann das Angebot von Cochrane frei genutzt werden? von Elm: In der Schweiz ist die Cochrane Library mit über 8000 systematischen Reviews und den weiteren Formaten frei verfügbar. Normalerweise wird diese Ressource in einer elektronischen Datenbank kostenpflichtig über Lizenzen oder Abos zur Verfügung gestellt. Das ist auch die Haupteinnahmequelle der zentralen Cochrane-Teams, aber nicht für uns als nationale Cochrane-Zentren. Die Schweiz ist eines der wenigen Länder mit einer Nationallizenz, die den Zugriff von allen Computern mit Schweizer Standort kostenlos zugänglich macht. Das kam nicht zufällig zustande. Dahinter stand vielmehr ein sehr starkes Engagement der Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), die schon vor Jahren koordinierend tätig geworden ist und ein Konsortium von Stakeholdern zusammenstellen konnte. Dazu gehören neben dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) und der FMH vor allem auch die Uni-
versitätsbibliotheken mit medizinischen Abteilungen, die vorher Lizenzen für die Cochrane Library bezahlt haben. Diese Stakeholder finanzieren gemeinsam die Nationallizenz, sodass die Cochrane Library nun nicht mehr nur der eigenen Zielgruppe zur Verfügung steht, sondern allen. Mit dem frei zugänglichen Angebot wurde auch eine Hürde beseitigt, die eine Nutzung via Authentifizierungen oder Logins mit sich bringt. Das wurde ausprobiert, allerdings mit mässigem Erfolg im Hinblick auf die Nutzerzahlen. Weil diese Art des Zugangs für die Nutzerinnen und Nutzer oft umständlich ist, greifen viele dann doch auf einfacher zugängliche, aber qualitativ vielleicht nicht so gute Quellen zurück. Das offene Angebot hat dazu geführt, dass die Cochrane Library in der Schweiz seit 2016 viel stärker genutzt wird als vorher. Ich freue mich immer, wenn ich an den Referenzlisten von Empfehlungen sehe, dass ein Gremium einen Cochrane-Review anstelle von Einzelstudien herangezogen hat, so zum Beispiel bei der aktuellen Smarter-Medicine-Top-5-Liste von Pädiatrie Schweiz. Um so etwas zu gewährleisten, müssen entsprechende Angebote frei verfügbar sein. Dazu ist die Nationallizenz das beste Mittel.
Cochrane Library: elektronische Bibliothek mit über 8800 systematischen Reviews https://www.cochranelibrary.com/
Cochrane Schweiz: Webseite des nationalen Cochrane-Zentrums https://swiss.cochrane.org/de
Cochrane-Kompakt: Zusammenfassungen in vereinfachter Sprache von über 2300 CochraneReviews (auf Deutsch) https://www.cochrane.org/de/evidence
Cochrane Q&A: zweisprachige (d/f) Auswahl von Cochrane-Reviews zu Gesundheitsthemen von allgemeinem Interesse https://cochrane.unisante.ch/de
«Wissen Was Wirkt»: Cochrane bloggt auf Deutsch https://wissenwaswirkt.org/
Cochrane-Library-Nationallizenz: SAMW- Zugang zur Fachliteratur https://www.samw.ch/de/Projekte/Uebersicht-der-Projekte/Cochrane-Library.html
Cochrane Clinical Answers: Information in tabellarischer Form https://www.cochranelibrary.com/cca/about
Welche Formate sind denn am besten geeignet, um Antworten auf Fragen aus der Praxis zu liefern? von Elm: Es gibt zu jedem Review auch eine Zusammenfassung in vereinfachter englischer Sprache. Das richtet sich an diejenigen, die nicht so sehr an den Zahlenwerten, sondern vor allem an den Schlussfolgerungen interessiert sind. In Cochrane Kompakt stehen über 2000 deutsche Übersetzungen dieser Zusammenfassungen frei zur Verfügung. Zudem sind fast alle Zusammenfassungen auf Französisch übersetzt. Italienische Übersetzungen haben wir bis anhin allerdings nicht. Für die Übersetzungen arbeiten wir mit den Zentren in der jeweiligen Sprachregion zusammen. Auf unserer eigenen Plattform Cochrane Q&A stellen wir eine Auswahl von Reviews von allgemeinem Interesse in zehn Themengebieten vor. Ein anderes, sehr handliches Format in der Cochrane Library sind die Cochrane Clinical Answers. Dies ist ein Format für diejenigen, die sich nicht durch den Ergebnisteil eines Reviews arbeiten wollen, sondern die Information in tabellarischer Form vorziehen. Hier findet man mit wenigen Klicks zu konkreten Fragestellungen Antworten, die nach Endpunkten sortiert sind. Bisher wurde eine Auswahl von rund 3000 klinisch relevanten Fragestellungen in dieser Form aufgearbeitet. Des Weiteren beinhaltet die Cochrane Library ein Register von fast 2 Millionen Vergleichsstudien für Nutzer, die sich für die einzelnen Studien hinter den Reviews interessieren, das Cochrane Central Register of Controlled Trials (CENTRAL). Hier findet man Studienabstracts aus fünf medizinischen Datenbanken wie etwa Medline und Embase, aber zusätzlich auch solche aus kleineren oder anderssprachigen Journals. Diese sind oft nicht in den grossen Datenbanken indexiert und werden von Cochrane-Gruppen manuell durchsucht. Für Reviews in manchen Bereichen wie zum Beispiel der Komplementärmedizin oder Rehabilitation sind diese Publikationen durchaus von Bedeutung.
Das Interview führte Christine Mücke
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