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EDITORIAL
Bestätigte Binsenweisheit
Vitamin- und Mineralstoffsupplemente sind beliebt. Sie vermitteln so manchen ein gutes Gefühl, etwas für seine Gesundheit zu tun, und entheben ihn scheinbar der lästigen Aufgabe, auf eine ausgewogene Ernährung zu achten. Dabei nützen derlei Supplemente gesunden Menschen ohne gravierende Mangelzustände mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts: Sie schützen weder vor Krebs noch vor kardiovaskulären Erkrankungen, und sie wirken auch nicht lebensverlängernd – zumindest konnte man das noch nie eindeutig nachweisen. Hingegen ist klar, dass manche Supplemente, nämlich Betakarotin und Vitamin E eher Schaden anrichten können. Das ist der Stand der Erkenntnis, der sich in den letzten 30 Jahren trotz unzähliger Studien nicht verändert hat. Die US Preventive Services Task Force (USPSTF), ein unabhängiges Gremium, das präventive Massnahmen jedweder Art im Auftrag der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde evaluiert, hat soeben aktuelle Empfehlungen zum Gebrauch von Vitaminen und Mineralstoffen zum Zweck der Prävention von Krebs und kardiovaskulären Erkrankungen publiziert. Die Empfehlungen gelten für gesunde Erwachsene ohne Vitamin- oder Mineralstoffmangel, nicht aber für Kinder,
Schwangere oder Frauen, die schwanger werden wol-
len, und auch nicht für Personen, die in Heimen leben.
Es ist das dritte Update seit 2003, und die Empfehlun-
gen haben sich seit damals nicht verändert: Von Beta-
karotin- und Vitamin-E-Supplementen rät man aus-
drücklich ab. Für alle anderen Vitamin- und Mineral-
stoffsupplemente in Form von Mono- oder Kombina-
tionspräparaten könne man mangels ausreichender
Evidenz nicht sagen, ob sie nun eher nützten oder scha-
deten.
Da reibt man sich verwundert die Augen. Grundlage
des ersten USPSTF-Reports aus dem Jahr 2003 war die
Literatur aus den Jahren 1966 bis 2001 mit 10 Kohorten-
und 25 randomisierten Studien. 2014 folgte das erste
Update. Nun kam die Literatur der Jahre 2005 bis 2012
hinzu, und 26 Studien wurden für die Analyse berück-
sichtigt. Dem aktuellen Update 2022 liegen 84 Studien
zugrunde, 52 davon wurden nach dem letzten Report
neu publiziert. Und trotzdem soll die Evidenz immer
noch nicht für eine klare Aussage ausreichen?
Sich erneut hinter der beliebten Formulierung «wei-
tere Studien sind notwendig» zu verschanzen, scheint
mir nicht glaubwürdig. Vielleicht trauen sich die Mit-
glieder der Task Force nicht, klar Stellung zu beziehen?
Vielleicht haben sie Angst vor findigen Anwälten, die
sie möglicherweise umgehend verklagen würden? Si-
cher, das ist alles reine Spekulation, aber es handelt
sich schliesslich um einen riesigen Markt mit hoher
Gewinnmarge. Verzagte Task-Force-Mitglieder wären
mir lieber als eine andere mögliche Erklärung: Sollten
unzählige Forscherinnen und Forscher Zeit und Geld
tatsächlich mit so vielen schlecht gemachten Studien
vergeudet haben?
Die Binsenweisheit, dass gesunde Menschen in der Re-
gel keine Vitamin- oder Mineralstoffsupplemente be-
nötigen, scheint mir mit dem neuen Update jedenfalls
ein weiteres Mal bestätigt zu werden.
s
Renate Bonifer
US Preventive Services Task Force, Mangione CM et al.: Vitamin, Mineral, and Multivitamin Supplementation to Prevent Cardiovascular Disease and Cancer: US Preventive Services Task Force Recommendation Statement. JAMA. 2022;327(23):2326-2333.
ARS MEDICI 13 | 2022
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