Transkript
Zeckenstiche
Das FSME-Virus breitet sich aus
BERICHT
Seit fünf Jahren ist eine auffällige Ausdehnung des FSME-Virus nach Norden und Westen und ebenso nach Süden zu beobachten. Nach wie vor ist eine Impfung der einzig sichere Schutz gegen die Erkrankung, die auch bei Kindern zu sehr schweren Verläufen führen kann. Am Süddeutschen Zeckenkongress in München gaben zwei Spezialisten einen Überblick über die neuesten Entwicklungen.
Die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) gilt – nicht nur europaweit, sondern auch global – als die wichtigste durch Zecken übertragene Virusinfektion. Das Verbreitungsgebiet ist riesig, es reicht quer durch Eurasien von Mitteleuropa (inklusive Grossbritannien) bis Japan. Neuerdings seien sogar Nachweise aus Tunesien gemeldet worden, berichtete Prof. Dr. Gerhard Dobler vom Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr in München am diesjährigen 6. Süddeutschen Zeckenkongress in München.
Ausdehnung nach Norden und Westen
Heute unterscheidet man drei Virussubtypen, nämlich einen europäischen, einen sibirischen und einen fernöstlichen; in Asien findet man grosse Überschneidungsgebiete. Derzeit ist eine starke Ausbreitung der europäischen FSME-Variante festzustellen. So hat sich gemäss neueren Studien in den vergangenen fünf Jahren die FSME deutlich nach Norden (Zentralskandinavien), nach Westen (Westfrankreich, Spanien, Irland) und nach Süden (Türkei, Nordafrika) ausgedehnt. Dabei sei die nördliche Ausbreitung durch den Klimawandel zu erklären, die nach Westen jedoch nicht, so Dobler. Interessanterweise ist auf dem Gebiet der europäischen Variante inselartig zudem der sibirische Subtyp zu beobachten, der vom Balkan bis in die Ukraine sowie im nördlichen Baltikum und in Südfinnland auftaucht. Auch innerhalb der einzelnen Länder ist eine massive Zunahme zu verzeichnen. Beispielsweise hat sich in Deutschland, das bislang vor allem im Süden und in der Mitte in einer sogenannten hyperepidemischen Zone betroffen war, in nur drei Jahren die Zahl der Landkreise mit dem Vermerk «Hochrisikogebiet» deutlich in Richtung Osten und Norden erweitert. So stieg die Zahl der FSME-Fälle in Baden-Württemberg von rund 150 Fällen im Jahr 2019 auf rund 340 im warmen Jahr 2020 an, um dann im Jahr 2021 wieder auf rund 150 zu fallen. Auch in der Schweiz kam es in diesen 3 Jahren zu einer ähnlichen Entwicklung: Einem Anstieg im Jahr 2020 auf rund 450 Fälle folgte ein Abfall auf rund 290 Fälle im Jahr 2021. Interessanterweise war in Norddeutschland, aber ebenso in Staaten wie Schweden, Finnland oder Lettland 2021 keine solche Abnahme zu verzeichnen, im Gegenteil: Es kam zu einem weiteren Anstieg der FSME-Meldungen.
päischen Subtyp verläuft in erster Linie biphasisch. Vor der eigentlichen ZNS-Symptomatik kommt es bekanntermassen zu einem unspezifischen Infektionsstadium mit Grippesymptomen. Das kann zu einer relativ langen Inkubationszeit führen. Infektionen mit dem sibirischen und dem fernöstlichen Subtyp verlaufen hingegen überwiegend monophasisch mit nur kurzer Inkubationszeit. In manchen Fällen sei deshalb bei einer ersten Diagnose eine Antikörperbildung noch gar nicht nachweisbar, erklärte Dobler. Deshalb wird bei Reiserückkehrern aus dem Baltikum, aus Finnland, Russland, China oder Japan mit ZNS-Symptomatik und Verdacht auf FSME, bei denen die IgM-Antikörper negativ sind, im Abstand von 2 Wochen eine Bestimmung der IgG-Antikörper durchgeführt.
Impfung als einzig sicherer Schutz gegen FSME
Wirkt die gängige FSME-Impfung gegen den sibirischen und den fernöstlichen Subtyp? Die wenigen diesbezüglich vorliegenden Studien würden den Schluss zulassen, dass es nach 2 Impfungen durchaus einzelne Personen gebe, die gegen diese Stämme keine ausreichenden Antikörper gebildet hätten, so Dobler. Allerdings sei vermutlich nach der 3. Impfung ein ausreichender Schutz vorhanden. Insgesamt sei es sinnvoll, in hyperepidemischen Regionen die FSME-Impfung als «allgemein empfohlene Impfung» aufzuwerten, so der Epidemiologe. Auch für Reisende in Regionen mit dem sibirischen und dem fernöstlichen FSME-Subtyp ist grundsätzlich eine mindestens 3-malige Impfung zu empfehlen. Derzeit sind mit Encepur® und FSME-Immun® zwei Vakzine für Erwachsene und mit Encepur® Kinder und FSME-Immun® Junior zwei Impfstoffe für Kinder verfügbar. Alle Impfstoffe werden in Zellen von Hühnerembryos hergestellt und sind mit Formalin inaktiviert. Empfohlen sei, zwischen den beiden ersten Impfungen einen Abstand zwischen 14 und 28 Tagen einzuhalten, allerdings besässen die Impfschemata eine gewisse zeitliche Variabilität, so der Experte. Das bedeutet: Auch wenn die 1. und die 2. Impfung in einem zeitlichen Abstand von 7 bis maximal 60 Tagen erfolgen, ist – gemäss Studien – in den allermeisten Fällen mit der Entwicklung eines Immunschutzes zu rechnen. Die 3. Dosis sollte dann nach 9 bis 12 Monaten verabreicht werden.
Subtypen mit unterschiedlichen Verlaufsformen
Die schon erwähnten drei FSME-Subtypen unterscheiden sich in ihren Verlaufsformen. Eine Infektion mit dem euro-
Auffrischen der Impfung
Die 1. Auffrischimpfung wird in Deutschland nach 3 Jahren empfohlen, die nachfolgenden sollen alle 5 Jahre erfolgen.
ARS MEDICI 12 | 2022
397
BERICHT
14 000 Zeckenstiche pro Jahr, Tendenz steigend
In der Schweiz kommt es jährlich zu rund 14 000 Zeckenstichen, mit steigender Tendenz. So hat sich gemäss einer Studie aus der Westschweiz zwischen 2009 und 2018 der für Zecken geeignete Lebensraum um fast zwei Drittel, das heisst um über 4000 Quadratkilometer, vergrössert. Experten vermuten, dass die zunehmende klimatische Erwärmung diese Entwicklung begünstigen könnte. Speziell in Lagen zwischen 500 und 1000 Metern über dem Meer hätten sich die Verhältnisse zugunsten der Zecken verändert, so Zeckenexperte Felix Ineichen von der Suva. Einerseits kommen die Zecken früher aus ihren Winterquartieren, andererseits halten sich die Menschen über eine längere Periode im Freien auf. Diese Entwicklung schlägt sich in den Zahlen der Zeckenstiche nieder. Während es zwischen 2012 und 2016 zu durchschnittlich 10 000 Zeckenstichen pro Jahr gekommen ist, hat sich zwischen 2017 und 2021 diese Zahl um rund 4000 Fälle pro Jahr erhöht. Das entspricht einer Zunahme von 40 Prozent.
Quelle: Suva
Allerdings gilt auch hier: Wer erst nach 7 oder 10 Jahren eine solche einmalige Auffrischimpfung erhalte, besässe ab diesem Zeitpunkt wieder einen ausreichenden Impfschutz, es müsse also nicht wieder mit dem gesamten Impfschema neu begonnen werden, so Dobler. In der Schweiz wird ein längeres Auffrischungsintervall von 10 Jahren empfohlen. Diese Empfehlung, so Dobler, basiere nicht auf klinischen Studien, sondern auf der Entscheidung der Gesundheitsbehörden. Tatsächlich gebe es in Studien Hinweise, dass auch ein Intervall länger als 5 Jahre mit einem ausreichenden Impfschutz verbunden sei. Trotzdem sehen das deutsche Paul-EhrlichInstitut und weitere internationale Behörden die Studienlage als nicht ausreichend an, um eine Ausweitung des Impfintervalls zu befürworten. Allerdings hält Dobler eine Ausweitung des Impfintervalls für sinnvoll, weil dann das gleichzeitige Boostern von Tetanus und FSME möglich sei. Prinzipiell sei nichts gegen eine Impfung während der «Saison» im Sommer einzuwenden, jedoch könne dann bei einem Zeckenstich die Diagnostik erschwert sein. Deshalb sei ein Impfbeginn in der kälteren Jahreszeit zu empfehlen. So oder so: Der einzig sichere Schutz vor FSME ist die 3-malige Impfung.
Schwere Verläufe auch bei Kindern
«Es ist ein Irrglaube, dass Kinder nicht schwer an FSME erkranken können», warnte Prof. Dr. Gerhard Wolf von der Kinderklinik Traunstein. Ein biphasischer FSME-Verlauf bei Kindern zeigt sich gemäss einer Studie aus dem Jahr 2014 in der ersten Phase typischerweise mit Tonsillitis, Pharyngitis und viralen Infektionen, aber auch Bronchitis, Sinusitis, Myalgie und gastrointestinale Infektionen können auftreten. Nach einer Pause von 5 bis 6 Tagen sind dann die typischen Meningitissymptome mit Kopfschmerzen (bei 98%), Fieber (99%), Erbrechen (64%) und deutlichem Meningismus (92%) zu beobachten. Man geht davon aus, dass nach schwerem Verlauf zwei Drittel der Kinder unter Residualschäden, wie reduziertem IQ, vermindertem Sprachverständnis oder geringerer Informationsverarbeitung, leiden. «Das ist wesentlich häufiger, als man annehmen würde», so Wolf.
Schwerer Verlauf trotz 2-maliger Impfung
Der Spezialist berichtete von dem tragischen Fall eines 13-jäh-
rigen Kindes, das 3 und 2 Monate vor der Aufnahme ins
Spital gegen FSME geimpft worden war. Das junge Mädchen
klagte über rechtseitige Kopfschmerzen, Fieber, Übelkeit und
linksseitige Kraftminderung. Zudem traten vereinzelt Pete-
chien auf. «Die Antworten der Patientin waren verlangsamt,
und sie starrte immer wieder vor sich hin», erinnerte sich
Wolf. Solche Bewusstseinsstörungen können auch auf andere
Ursachen (u. a. Infektionen, Intoxikationen, zerebrale An-
fälle, Stoffwechsel, Schock) zurückzuführen sein, weshalb in
diesem Fall umfangreiche diagnostische Abklärungen erfolg-
ten. So wurde beispielsweise nach Hinweisen auf ein Trauma
gesucht und ein Glasgow Coma Score (GCS) für Bewusst-
seins- und Hirnfunktionsstörungen erhoben sowie ein Labor-
screening, eine Kernspintomografie und eine Lumbalpunk-
tion vorgenommen. Die Lumbalpunktion brachte sehr auf-
fällige Ergebnisse mit 1045/µl Leukozyten (Normalwert < 4), einer Erhöhung des Eiweisses auf 89 mg/dl (normal 15– 45 mg/dl) und einem extremen Anstieg von Interleukin-6 auf 14 650 pg/ml (normal < 24 pg/ml). Der FSME-IgG-L/S-Index stieg zum Zeitpunkt der ersten Bestimmung von 0,6 auf 2,5 nach 4 Tagen an, der FSME-IgM-L/S-Index von 1,1 auf 7,3. Andere potenzielle pathogene Viren konnten nicht nachge- wiesen werden. Das Kind zeigte eine zunehmende neurologi- sche Verschlechterung und einen schweren generalisierten, tonisch-klonischen Krampfanfall ohne hohes Fieber. Dieser konnte zwar mit Propofol und Narkose durchbrochen wer- den, machte jedoch eine Intubation erforderlich. Im Kern- spintomogramm zeigten sich die Basalganglien auf der rech- ten Hirnseite (Thalamus und Nucleus lentiformis) deutlich heller als auf der linken Seite. Diese Veränderungen seien ty- pisch für schwere FSME-Infektionen, in manchen Fällen komme es dabei sogar zu Basalgangliennekrosen, berichtete Wolf. Parallel zu diesen Untersuchungen wurden am Wohn- ort des Mädchens zwischen 500 und 1000 Zecken gesam- melt, die teilweise tatsächlich das FSME-Virus in sich trugen. Die Behandlung mit Immunglobulinen und Steroiden zeigte nur wenig Wirkung, und die versuchsweise Extubation nach einer Woche musste wegen respiratorischer Insuffizienz ab- gebrochen werden. Heute hat sich die Tetraparese zwar ver- bessert, aber das Kind ist trotzdem auf einen Rollstuhl ange- wiesen und besucht eine Schule für Körperbehinderte. Eine Statistik für Bayern zeigt, dass zwischen 2001 und 2020 bei Kindern unter 16 Jahren 271 FSME-Fälle aufgetreten sind. 7 Prozent wiesen eine FSME-Impfung auf (es ist unbe- kannt, ob diese komplett oder inkomplett war), rund die Hälfte aller Fälle zeigte Symptome des ZNS. Zwar habe das 13-jährige Mädchen vor der Erkrankung nur eine inkom- plette Impfung erhalten, trotzdem seien die Gründe für ein derartiges Impfversagen spekulativ, erklärte Wolf abschlies- send. s Klaus Duffner Quelle: 6. Süddeutscher Zeckenkongress, München, 23. März 2022. 398 ARS MEDICI 12 | 2022