Transkript
EDITORIAL
Wann und wie ist Endstation?
Der Text von Sacha Batthyany übers Sterbefasten von Frau Pfister im «NZZ am Sonntag»-Magazin ist ziemlich eindrücklich. Gespickt mit vielen nachdenklich, traurig, auch fröhlich stimmenden Sätzen. Auch mit Sätzen, die ich nicht verstehe. Grammatikalisch schon, aber nicht emotional. Und manchmal auch nicht mit dem Verstand. So ein Satz lautet: «Selbst im Altersheim verdrängen viele, dass dies ihre letzte Station sein wird; sie besuchen Computerkurse und beschäftigen sich mit tausend Dingen, um nicht über ihr Ende nachdenken zu müssen.»
Muss man denn über das Ende nachdenken? Man kann, auch wenn man 30 ist, morgen so krank werden, dass man kaum darum herumkommt, an sein Ende zu denken. Aber muss man das jederzeit? Memento mori! Zu jeder Stund? Für wen ist es denn noch – oder überhaupt – sinnvoll, Computerkurse zu besuchen? Für den Grossvater meines Mitarbeiters, der mit gut 80 merkt, dass er den Kontakt zu einigen Leuten verliert, dass er als digitaler Analphabet in tausend kleinen Angelegenheiten diskriminiert wird? Seine durchschnittliche Lebenserwartung beträgt wenige Jahre – lohnt es sich für ihn nicht mehr, ein Tablet anzuschaffen, weil absehbar ist, dass er nie mehr von den Vorteilen eines solchen Computers wird profitieren können? Und sein Sohn, kurz vor der Pensionierung, alleinstehend, soll er ebenfalls aufgeben? Hat ja doch keinen Sinn mehr, ist eh alles nur ablenkende Beschäftigung zum Tod beziehungsweise zum Vergessen (und Vergessenwerden) hin. Im Ernst: Ab wann lohnt es sich denn nicht mehr, Neues, kaum zu Nutzendes, ja sogar Nutzloses zu entdecken? Ab Station Altersheim?
Frau Pfister erzählt von einer Freundin im Altersheim, die immer jähzorniger geworden war. «Sie hat nicht loslassen können, die Arme.» Noch so eine Forderung. Seit Jahren Mode: Man muss loslassen können. Muss man das? Gut, vermutlich fällt einem der letzte und endgültige Abschied tatsächlich leichter, wenn man alles loslassen kann und es auch wirklich will: die Freunde und Bekannten, die Fotos, die Bilder, die Erinnerungen, auch die materiellen. Wirklich? Mein verstorbener Freund B. sah das anders. Bewusst anders. Er klammerte sich bis zuletzt an all seine Güter – und es waren deren viele, vom Cadillac-Oldtimer (den er schon lang nicht mehr selbst fahren konnte) bis zur Hodler-Zeichnung, die er an irgendeiner Auktion erstanden hatte. Er freute sich stur jeden Tag von Neuem an jedem noch so kleinen Gegenstand, der ihm wichtig war, und sei’s nur ein Blechspielzeug aus Afrika. Er werde die neunäugige Dzi-Perle, die ihm ein alter Mann während seines Flower-Power-Trips in Afghanistan geschenkt habe, ganz sicher und ums Verrecken nicht vergessen und sie tierisch vermissen kurz vor seinem letzten Atemzug und traurig sein, sie am Ende doch hergeben zu müssen. Aber loslassen, nein, sicher nicht freiwillig; dieser verdammte Tod müsse sie ihm schon gewaltsam entwenden.
Macht Loslassenkönnen das Sterben leichter? Oder passt das sture Festhalten an geistigem und materiellem Eigenem stärker zu unserer Art von Leben? Wir verwöhnten Baby-Boomer gaben noch nie gern her. Schon gar nicht unsere Selbstbestimmung. Wir haben das unersättliche Bedürfnis, über alles selbst zu entscheiden, auch über den eigenen Tod. Ob das das Sterben leichter macht? Kaum. Aber es gibt nun mal tausende Wege, diese Welt zu verlassen. So richtig leicht scheint keiner.
Immerhin, der Bericht über Frau Pfister hat – mir jeden-
falls – wieder einmal gezeigt: Es sind die Sätze und Hand-
lungen, die man nicht versteht, nicht verstehen will, an
denen einen etwas stört, über die nachzudenken und zu
sprechen es sich lohnt. Man muss seine Meinung danach
nicht geändert haben, nicht mal ansatzweise. Aber sogar
die beibehaltene Meinung ist danach eine etwas andere.
Danke Frau Pfister und Herr Batthyany.
s
Richard Altorfer
Quelle: NZZ am Sonntag Magazin 23/2022, S. 8 ff. https://magazin.nzz.ch/ empfehlungen/sterbefasten-wie-frau-pfister-nichts-mehr-ass-und-trankld.1686988?mktcid=nled&mktcval=149&kid=nl149_2022-6-4&ga=1
ARS MEDICI 12 | 2022
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