Transkript
FOKUS PHARMAKOTHERAPIE
Lokalisierte, periphere neuropathische Schmerzen
Lidocainpflaster wirksamer und verträglicher als orale Medikamente
In zwei Real-world-Studien waren Lidocainpflaster bei lokalisierten, peripheren neuropathischen Schmerzen unterschiedlichen Ursprungs und bei postherpetischer Neuralgie mit einer ausgeprägteren Schmerzlinderung und einer besseren Verträglichkeit verbunden als orale First-line-Medikamente.
Krankheiten wie Gürtelrose oder Diabetes, aber auch Operationen können zu neuropathischen Schmerzen führen, welche die Funktionsfähigkeit und die Lebensqualität der Betroffenen im Alltag massiv beeinträchtigen. Bei vielen Patienten beschränkt sich der Schmerz auf bestimmte, klar abgegrenzte Bereiche (1). Zur Behandlung empfehlen internationale Guidelines als Optionen der ersten Wahl meist orale Medikamente wie trizyklische Antidepressiva, die Antiepileptika Pregabalin (Lyrica® und Generika) und Gabapentin (Neurontin® und Generika) oder die selektiven Serotonin-Norephedrin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSNRI) Duloxetin (Cymbalta® und Generika) und Venlafaxin (Efexor® und Generika). Topische Pflaster mit Lidocain (700 mg; Neurodol®) oder Capsaicin (8%; Qutenza®) gelten als Second-line-Alternativen. Der primäre Einsatz von Lidocainpflastern wird derzeit nur bei postherpetischer Neuralgie (PHN) oder bei Sicherheitsbedenken gegenüber der systemischen Medikation in Betracht gezogen. Letzteres gilt vor allem für gebrechliche und alte Personen. Lidocainpflaster könnten jedoch bei allen lokalisierten, peripheren neuropathischen Schmerzen als First-line-Option sinnvoll sein, da eine gezielte Analgesie des schmerzhaften Areals mit einer geringeren systemischen Wirkstoffexposition und somit mit geringeren Risiken für systemische Nebenwirkungen und Medikamenteninteraktionen verbunden ist als orale Medikamente (1). Lidocain wird aus dem Pflaster an der Applikationsstelle kontinuierlich freigesetzt, wobei nur etwa 3 ± 2 Prozent in den systemischen Kreislauf gelangen (2).
Randomisierte, kontrollierte Studien stellen derzeit den besten Standard zur Beurteilung therapeutischer Wirksamkeiten dar. Realworld-Daten aus dem Praxisalltag liefern zusätzliche Evidenz, da hier Behandlungsergebnisse bei wesentlich heterogeneren Patientengruppen erfasst werden können (2).
Lidocainpflaster bei lokalisierten neuropathischen Schmerzen
Michael Überall vom Institut für Neurowissenschaften in Nürnberg (Deutschland) und seine Arbeitsgruppe untersuchten deshalb kürzlich in einer nicht interventionellen, retrospektiven 6-monatigen Realworld-Kohortenstudie die Wirksamkeit und die Verträglichkeit eines Lidocainpflasters (700 mg) bei lokalisierten, peripheren neuropathischen Schmerzen unterschiedlichen Ursprungs im Vergleich zu oralen First-line-Medikamenten. Als primäre Wirksamkeitspopulation definierten die Forscher Patienten, die an anderen neuropathischen Schmerzen litten als einer PHN (1). Im Rahmen ihrer Untersuchung werteten die Forscher anonymisierte Daten des Deutschen Schmerzregisters aus. Alle Studienteilnehmer hatten zuvor auf mindestens eins der empfohlenen oralen First-lineMedikamente nicht angesprochen. Die Behandlungsgruppen wurden mithilfe von Propensity Score Matching zusammengestellt. Primärer Wirksamkeitsendpunkt war die absolute Veränderung des durchschnittlichen 24-Stunden-Schmerzindex (24-Stunden-PIX) im Vergleich zum Ausgangswert in den Behandlungswochen 4, 12 und 24 sowie über den gesamten Behandlungszeitraum.
Insgesamt wurden 3081 Datensätze pro Behandlungsgruppe identifiziert. Von den Patienten jeder Gruppe litten 1711 an PHN, 732 an diabetischer Polyneuropathie, 531 an postoperativer Neuropathie und 107 an anderen lokalisierten neuropathischen Schmerzen. Das Lidocainpflaster war im Vergleich zur oralen Medikation mit einer ausgeprägteren Schmerzlinderung verbunden. In der primären Wirksamkeitspopulation betrug die mittlere absolute Veränderung des durchschnittlichen 24-Stunden-PIX über den Behandlungszeitraum von 24 Wochen mit dem Lidocainpflaster –30,49 mm (SE [standard error]: 0,32) und unter oraler Medikation –17,39 mm (0,32; p < 0,001). Ähnliche Ergebnisse wurden in der gesamten Studienpopulation beobachtet: Hier lag die mittlere absolute Veränderung des durchschnittlichen 24-Stunden-PIX mit dem Lidocainpflaster bei –30,77 (0,21) und unter oraler Medikation bei –17,71 (0,21; p < 0,001). Zu Beginn hatten alle Patienten ergänzend zur Studienmedikation zusätzliche Schmerzmittel erhalten. Nach 6 Monaten konnten signifikant mehr mit dem Lidocainpflaster behandelte Patienten die zusätzliche Analgesie absetzen als Patienten unter oraler Studienmedikation (43,1% vs. 10,5%; p < 0,001). Des Weiteren war das Lidocainpflaster im Vergleich zur oralen Medikation mit einer signifikant ausgeprägteren Verbesserung schmerzbedingter Alltagsbeeinträchtigungen und der Lebensqualität verbunden (p < 0,001 für beide). Medikamentenbedingte unerwünschte Ereignisse traten mit dem Lidocainpflaster seltener auf als unter oralen Medikamenten (9,4% vs. 58,8%; p < 0,001). Beim Lidocainpflaster handelte es sich hauptsächlich um Reaktionen am Applikationsort, bei oral behandelten Patienten vorwiegend um Störungen des zentralen Nervensystems, psychiatrische Probleme und gastrointestinale Beschwerden sowie Schläfrigkeit und Schwindel. Die Abbruchrate aufgrund medikamentenbedingter unerwünschter Er- ARS MEDICI 12 | 2022 415 FOKUS PHARMAKOTHERAPIE eignisse war mit dem Lidocainpflaster signifikant niedriger als unter oraler Medikation (4,6% vs. 33,6%; p < 0,001) (1). Lidocainpflaster bei postherpetischer Neuralgie In einer weiteren Auswertung anonymisierter Patientendaten des Deutschen Schmerzregisters untersuchten die Wissenschaftler unter den gleichen Studienbedingungen die Wirksamkeit und die Verträglichkeit des Lidocainschmerzpflasters (700 mg) im Vergleich zu oralen First-line-Medikamenten bei Patienten mit PHN (2). Im Rahmen dieser Untersuchung identifizierten die Forscher 1711 Datensätze pro Behandlungsgruppe (2). Bei Patienten mit PHN war das Lidocainpflaster ebenfalls mit einer signifikant ausgeprägteren Schmerzlinderung verbunden als orale Medikamente. Die Reduzierung des primären Wirksamkeitsendpunkts, der absoluten Veränderung des 24-Stunden-PIX im Vergleich zum Ausgangswert, war mit dem Lidocainpflaster nach 4, 12 und 24 Wochen signifikant ausgeprägter als unter oraler Medikation. In Woche 24 hatte sich der durchschnittliche 24-Stunden-PIX mit dem Lidocainpflaster von 64,4 ± 14,4 (mm; VAS) auf 32,8 ± 19,4 verringert, unter oraler Medikation von 64,4 ± 14,4 auf 47,2 ± 23,6. Nach 24 Wochen konnten auch in dieser Studie signifikant mehr mit dem Lidocainpflaster behandelte Patienten die zusätzliche Analgesie absetzen als Patienten unter oraler Medikation (94,1% vs. 70,9%; p < 0,001). Zudem war das Lidocainpflaster mit deutlicheren Verbesserungen der schmerzbedingten Beeinträchtigungen und der Lebensqualität verbunden als orale Medikamente (p < 0,001 für alle Parameter). Der Anteil der Patienten mit medikamentenbedingten unerwünschten Wirkungen war mit dem Lidocainpflaster signifikant geringer als unter oraler Medikation (8,9% vs. 58,1%; p < 0,001). Bei den Patienten mit PHN wurden ähnliche Nebenwirkungsprofile beider Behandlungsoptionen beobachtet wie in der oben vorgestellten Studie. Die Behandlung mit dem Lidocainpflaster wurde von signifikant weniger Patienten aufgrund unerwünschter Wirkungen abgebrochen als die orale Therapie (4,8% vs. 33,1%; p < 0,001) (2). Fazit der Studienautoren Insgesamt kamen die Autoren zu dem Schluss, dass die Real-world-Daten aus bei- den Studien die Wirksamkeit und die gute Verträglichkeit des Lidocainpflasters in der medizinischen Routineversorgung bestäti- gen. Zudem war das Lidocainpflaster signi- fikant wirksamer als orale systemische Me- dikamente (1, 2). PS s Quellen: 1. Überall MA et al.: Localized peripheral neuropa- thic pain: topical treatment with lidocaine 700 mg medicated plaster in routine clinical practice. Pain Manag. 2022;12(4):521-533. 2. Überall MA et al.: Lidocaine 700 mg medicated plaster for postherpetic neuralgia: real-world data from the German Pain e-Registry. Pain Manag. 2022;12(2):195-209. 416 ARS MEDICI 12 | 2022