Transkript
FORTBILDUNG
Somatoforme Störungen – eine kommunikative Herausforderung
Hausärztliches Management von Patienten mit körperlichen Beschwerden ohne organische Ursache
In der hausärztlichen Versorgung sind somatoforme Symptome verbreitet. Für den behandelnden Arzt gestaltet es sich häufig herausfordernd, eine stabile, Compliance-förderliche Beziehung zu betroffenen Patienten herzustellen. Eine Studie hat untersucht, wie Allgemeinärzte auf Patienten mit somatoformen Störungen eingehen und auf welche Strategien sie setzen.
Julian Wangler, Michael Jansky
Je nachdem, welche Studie man zugrunde legt, wird die Prävalenz nicht spezifischer, funktioneller und somatoformer Körperbeschwerden (NFS) in der Primärversorgung mit einem Anteil zwischen 15 und 31 Prozent angegeben (1–3). Solche Patienten werden typischerweise mit stark unterschiedlichen körperlichen Beschwerden (z. B. Rücken- und Gliederschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden, Erschöpfung) ohne hinreichenden organischen Befund in der Hausarztpraxis vorstellig (4, 5). Trotz fehlender Hinweise auf eine Ursache und wiederholter ärztlicher Versicherungen, dass die Krankheitszeichen nicht körperlich begründbar sind, sind die Patienten weiterhin von einer physischen Ursache überzeugt, die Möglichkeit einer psychischen Problematik wird meist nicht in Betracht gezogen (8).
MERKSÄTZE
� Bis zu ein Drittel der Patienten in der Primärversorgung leidet unter nicht spezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden.
� Wenn der Arzt organische Ursachen ausschliesst und stattdessen andere Erklärungsmuster ins Auge fasst, während der Patient auf einer organischen Ursache beharrt, kann dies eine kommunikative Herausforderung für die ArztPatienten-Beziehung bedeuten.
� Wie eine Interviewstudie ergab, messen Hausärzte einer gelassenen, unterstützenden und empathischen Grundhaltung sowie einer patientenzentrierten Gesprächsführung eine herausragende Bedeutung für eine erfolgreiche Behandlung bei. Dabei steht im Vordergrund, am Bewusstsein der Patienten zu arbeiten, dass es Beschwerdebilder ohne klare körperliche Ursache gibt.
� Einen wichtigen Beitrag beim Management somatoformer Störungen können körperliche Betätigung, niedrigschwellige psychosoziale bzw. -therapeutische Hilfsangebote und ggf. medikamentöse Unterstützung leisten.
Wenn Erwartungen enttäuscht werden
Wenn es um somatoforme Störungen geht, sieht Jablensky (9) 3 grundlegende Probleme in der Interaktion zwischen Behandler und Patient: 1. Patienten mit unklaren Körperbeschwerden legen oft ein
appellatives Verhalten an den Tag, das von einem hartnäckigen Drängen auf konkrete Untersuchungen bestimmt ist. 2. Sie treffen dabei bei Ärzten auf ein anamnestisches Verständnis und Vorgehen, das sicherstellen möchte, keine verborgene Krankheit zu übersehen und potenziell sämtliche auslösenden Faktoren einzubeziehen. 3. Wenn organische Ursachen nicht gefunden werden können, kann es zu einer Diskrepanz zwischen den jeweiligen Ursachenüberzeugungen kommen, die (weiteres) Konfliktpotenzial birgt. Somatoform erkrankte Patienten, die bei einem Arzt vorstellig werden, können eine «Musterirritation» (10) bei diesem auslösen: Übliche Schemata zur Erklärung und Behandlung körperlicher Beschwerden greifen nicht. Zugleich trägt der Patient anfangs unabsichtlich idealisierende Erwartungen an den Arzt heran, der seine Körpersymptome mit medizinischer Kompetenz gezielt identifizieren und beseitigen soll. Bei dem Arzt ist die Gefahr gegeben, die hohen Erwartungen des Patienten zu übernehmen – und unter Umständen an ihnen zu scheitern. Als Folge kann es passieren, dass Patienten Enttäuschung und Entwertung zum Ausdruck bringen, was aufseiten des Arztes zu Druck und Frustration führen kann. Eine Möglichkeit ist, dass der Arzt verunsichert wird, übersehene Erkrankungen befürchtet und dadurch den eigentlich unangemessenen Forderungen des Patienten (z. B. Überweisung zu weiterführender Diagnostik) nachgibt. Eine andere Möglichkeit ist eine «Verhärtung der Fronten», weil der Arzt organische Ursachen ausschliesst und dementsprechend andere Erklärungsmuster ins Auge fasst, während der Patient auf einer organischen Ursache beharrt. Die Folge: Beide Seiten sind unzufrieden (11).
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FORTBILDUNG
Einschneidende Lebensereignisse
Biologische und genetische
Faktoren
Extreme Körperbeobachtung, Gesundheitsängste, Hypochondrie
Somatoforme Störung
Berufliche Belastungen
Chronische Erkrankungen oder schwere
Krankheitserfahrungen
Soziale Konflikte, mangelnde
Unterstützung
Abbildung: Beispielhafte psychosoziale Ursachen somatoformer Störungen
ten als Partner auf Augenhöhe zu begegnen, also sich Beschwerden ausführlich anhören und ohne Vorbehalte aufgreifen (12). Für einen Teil der Ärzte ist es wichtig, frühzeitig Fragen zu stellen, die ihnen behilflich sind, Hintergrund, Lebenslage und Persönlichkeit des Patienten einzuschätzen (z. B. hohe Körperaufmerksamkeit, Hypersensitivität), da dies für das weitere Management und die Möglichkeiten an therapeutischen Massnahmen relevant sein kann. Mit der Zurückhaltung im Rahmen der tangentialen Gesprächsführung geht einher, dass keine falschen Erwartungen geweckt, nüchterne Aufklärung geleistet und überzogene Untersuchungen vermieden werden. Dies erfordert gegebenenfalls eine frühzeitige Relativierung unangemessener Wünsche und Forderungen (10). Hinsichtlich ihres Vorgehens berichten die interviewten Ärzte, dass sie darum bemüht seien, psychosoziale Themen (Abbildung) zunächst eher beiläufig und indirekt mit Begriffen aus dem Alltagsleben anzureissen (17). Dies sei ein kritischer Punkt, denn hätten Patienten frühzeitig den Eindruck, in die «psychologische Schublade gepackt» zu werden, könnten sie das Gefühl bekommen, mit ihrem Anliegen nicht ernst genommen zu werden. Wichtig sei es deshalb, «dem Patienten zu helfen, sich selbst besser kennenzulernen und einen offenen Blick für die ganzen Belastungsfaktoren zu haben. Das ist das, was ich auch als psychosomatische Grundversorgung sehen würde, wo wir Hausärzte schon gut helfen können», meinte eine befragte Ärztin.
Studie zu hausärztlichen Kommunikationsstrategien
Seit dem Jahr 2012 existiert für den deutschsprachigen Raum eine interdisziplinäre S3-Leitlinie zum Krankheitsbild der somatoformen Störung (13). Deren Handlungsempfehlungen eignen sich grundsätzlich auch für den hausärztlichen Bereich. Es fehlt jedoch an Studien, die den tatsächlichen Umgang von Hausärzten im alltäglichen Praxisgeschehen in den Blick nehmen. Insbesondere Kommunikationsstrategien zur Herstellung eines tragfähigen Arzt-Patienten-Verhältnisses, das die Grundlage für ein erfolgreiches Management ist, sind bis dato kaum erforscht worden. Zwischen Herbst 2019 und Frühjahr 2020 hat das Zentrum für Allgemeinmedizin und Geriatrie (ZAG) der Universitätsmedizin Mainz eine qualitative Interviewstudie mit insgesamt 34 Hausärzten in Südhessen durchgeführt. Unabhängig von der Frage einer in jedem Einzelfall vorliegenden Diagnosestellung nach ICD-10 bestand das Ziel darin, Stabilisierungsstrategien der Hausärzte sowie Ansätze zum Aufbau einer belastbaren Arzt-Patienten-Beziehung zu erfassen (Tabelle).
Empathische Grundhaltung ist wichtig
Die meisten der befragten Hausärzte machen deutlich, dass sie die eingehende und kontinuierliche Befassung mit dem Patienten in einer möglichst entspannten Gesprächssituation besonders grossschreiben (16). Ihrer Auffassung nach sind für eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Interaktion eine gelassene, unterstützende und empathische Grundhaltung sowie eine patientenzentrierte Gesprächsführung von herausragender Bedeutung. Bei der Gewinnung von Informationen sollte der Arzt darauf achten, dem somatoform erkrankten Patien-
Realistische Ziele setzen
Nach Ansicht der Befragten sollten regelmässige, das heisst von Beschwerden und Ängsten unabhängige, zeitlich begrenzte Termine vereinbart werden. Neben realistischen und möglichst überprüfbaren Gesprächs- und Therapiezielen betont ein Teil der Ärzte, dass man sich «nicht zu viel in zu kurzer Zeit vornehmen» dürfe. Dies führe dann zu einer angespannten Situation für Arzt und Patient (11). In Bezug auf konkrete Massnahmen zum Management somatoformer Patienten kommt es einigen Befragten zunächst darauf an, im Gespräch kontinuierlich am «Bewusstsein der Patienten zu arbeiten, […] dass es Beschwerdebilder ohne klare körperliche Ursache gibt». Hierzu werden teilweise Informationsmaterialien zusammengestellt. Beschwerdetagebücher sollen helfen, einzugrenzen und genauer zu bestimmen, unter welchen Alltagsbedingungen Symptome auftreten. «Dies signalisiert einerseits, dass man sein Gegenüber ernst nimmt, andererseits hilft es tatsächlich, den Ursachen wie zum Beispiel Schmerz etwas genauer auf die Spur zu kommen», war einer der befragten Ärzte überzeugt. Neben dem Verweis auf Entspannungstechniken heben mehrere Ärzte den Stellenwert regelmässiger körperlicher Betätigung als therapeutisches Instrument hervor. Hierbei gehe es nicht lediglich um eine Verlagerung von Aufmerksamkeitsroutinen, sondern um die Rückgewinnung von subjektiv empfundener Souveränität und Kontrollerleben im Alltag (18). Im Zuge der Entwicklung kompakter Onlinetherapieangebote durch bestimmte Krankenkassen versuchen einige Hausärzte, somatoforme Patienten, wo eine psychosoziale Betreuung nötig erscheint, an solche Angebote heranzuführen (19). «Ich habe damit gute Erfahrungen gemacht; Onlinetherapien sind eine echte Alternative, um bestimmten Patientengruppen zu helfen», so die Aussage eines befragten Arztes.
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Tabelle:
Strategien beim Management somatoformer Störungen mit Ziel einer Stabilisierung des Patienten und des Arzt-Patienten-Verhältnisses
Dimension Ansatzpunkt
Gesprächsführung
1) Tangentiale Gesprächsführung: Arzt-Patienten-Gespräch folgt Beschwerdebericht
des Patienten; Patient erhält Raum für Darlegung; Vermeidung konfrontativer
Gesprächstechniken; Ausstrahlung einer gelassenen, sachlichen und ernst nehmenden
Haltung
2) Versicherung der Glaubwürdigkeit der Beschwerden
3) Kennenlernen des Patienten, um eine Einschätzung seiner Persönlichkeit zu erhalten
4) Keine übertriebenen Erwartungen in Bezug auf Diagnostik und Therapie schüren;
überhöhte Patientenerwartungen dämpfen
5) Hinweise auf psychosoziale Probleme sollten vorsichtig als relevant markiert und eher
beiläufig mit Begriffen aus dem Alltagsleben angesprochen werden («Stress»,
«Belastung» usw.)
6) Diagnostische Befunde nicht negativ formulieren («Sie haben nichts»)
7) Längerfristiger Aufbau einer Motivation für eine möglichst ganzheitliche Behandlung
Behandlungsrahmen
1) Einräumen von mehr Beratungszeit (z. B. ausführliche Erläuterung, emotionale
und Zielstellungen Unterstützung)
2) Vereinbarung regelmässiger Termine (Zeitkontingent statt beschwerdegesteuert)
3) Formulierung realistischer, konkreter und überprüfbarer Therapieziele
(Verbesserung der Lebensqualität statt vollständige Heilung)
4) Einlegen von Zwischenschritten; nicht zu viele Ziele in zu kurzer Zeit
Therapeutische Massnahmen 1) Nutzung von ausgewählten Informationsmaterialien, um dem Patienten sukzessiv zu
und Strategien verdeutlichen, dass es Beschwerdebilder ohne klare körperliche Ursache gibt
2) Beschwerde- bzw. Angsttagebuch: Wann und in welcher Weise treten Beschwerden auf?
3) Verschreibung unterstützender Massnahmen, z. B. Verfahren zur Entspannung und
Stressbewältigung, Achtsamkeitstraining
4) Dosierte körperliche Aktivität als Zugang zu einem veränderten Körperbewusstsein
(Rückgewinnung von Vertrauen in den Körper, Abbau von Angst und Kontrollverlust)
5) Physiotherapeutische Angebote
6) Verweis auf niedrigschwellige psychosoziale bzw. -therapeutische Angebote
(z. B. spezielle Angebote der Krankenkassen)
7) Verweis bzw. Vermittlung zu psychosozialen Hilfsangeboten
(z. B. Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen)
8) Überweisung des Patienten zu einem Psychotherapeuten
9) Medikamentöse Therapie vorzugsweise nur bei ausgeprägten Komorbiditäten
Der Gedanke ist dabei, dass sich Betroffene regulären Therapien oft versperren, aber möglicherweise ein niedrigschwelliges, anonymisiertes Hilfsangebot akzeptieren (20). Die meisten der befragten Hausärzte meiden normalerweise medikamentöse Behandlungen bei somatoformen Störungen. Nur in Einzelfällen, in denen psychopharmakologische Interventionen etwa aufgrund gleichzeitig bestehender Depressionen, Angst-, Zwangs- oder Schlafstörungen bestehen, wird versucht, medikamentöse Lösungen einzubeziehen (21). Hier wird vorzugsweise versucht, bei Vorliegen von Schmerzen, Schlafstörung und zugleich einer depressiven Symptomatik unter Umständen mit einem einzigen Medikament zu behandeln. In diesem Kontext bestehen die Befragten allerdings auf eine funktionierende interdisziplinäre Zusammenarbeit.
Hausärztliche Kompetenz demonstrieren
Anhand der Ergebnisse der Studie lässt sich gut ablesen, dass Hausärzte eine gute und stabile Arzt-Patienten-Beziehung als zentrale Grundlage für eine erfolgreiche Behandlung erach-
ten. Sie demonstrieren damit Kompetenz und wichtige Vor-
aussetzungen, um die kommunikativen Herausforderungen
zu meistern, die bei der Behandlung von somatoformen Stö-
rungen zu erwarten sind.
s
Dr. Julian Wangler Prof. Dr. Michael Jansky Zentrum für Allgemeinmedizin und Geriatrie Universitätsmedizin Mainz D-55131 Mainz
Interessenlage: keine Angaben
Dieser Artikel erschien zuerst in «doctors today» 10/2021. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren.
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