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Zusammenfassungen: Valérie Herzog (vh), Petra Stölting (PS); Herausgeber: Dr. med. Erik von Elm, Annegret Borchard Cochrane Schweiz, swiss.cochrane@unisante.ch
Cochrane Library aktuell
Ferritinbestimmung für Eisenmangel und Eisenüberladung unterschiedlich zuverlässig
Ferritin ist ein Eisenspeicherprotein, dessen Konzentration im Plasma und im Serum das Niveau des Eisenspeichers widerspiegelt: Ein tiefer Ferritinspiegel zeigt einen Eisenmangel an, ein erhöhter Ferritinspiegel ein Risiko für eine Eisenüberladung. Weil Ferritin aber ein Akutphaseprotein ist, kann der Spiegel auch aufgrund von Entzündung und Infektion steigen. Ob die Ferritinkonzentration im Serum oder im Plasma zur Diagnose eines Eisenmangels sowie zur Beurteilung des Risikos für ein Eisenüberladungssyndrom zuverlässig genug ist, war Fragestellung eines systematischen Cochrane-Reviews. Zur Beantwortung dieser Frage wurden 72 Studien (n = 6059) zum Eisenmangel und 36 Studien (n = 1927) zur Eisenüberladung eingeschlossen. Eisenmangelscreening bei Personen ohne Krankheitszeichen: Bei gesunden Erwachsenen zeigten 3 Studien eine Sensitivität zwischen 63 und 100 Prozent bei einem optimalen FerritinCut-off-Wert, die Spezifität lag bei 92 bis 98 Prozent bei unterschiedlichen Cut-off-Werten je nach Studie. Bei gesunden Kindern erbrachte 1 Studie eine Sensitivität von 74 Prozent und eine Spezifität von 77 Prozent. Bei gesunden Schwangeren zeigte 1 Studie eine Sensitivität von 88 Prozent und eine Spezifität von 100 Prozent. Personen, die einen Arzt aufsuchten: Bei einer Eisenmangelprävalenz von 35 Prozent (d. h. 350 pro 1000 Personen) und einer angenommenen Spezifität von 85 Prozent wurden 315 Personen mit Eisenmangel (Ferritinwerte 12–200 µg/l) richtig erkannt und 35 mit Eisenmangel nicht als solche erkannt, was eine Sensitivität von 90 Prozent ergibt (63 Studien; n = 5042). Die geschätzte diagnostische Odds Ratio betrug 50.
Unter den nicht gesunden Erwachsenen und mit einem Ferri-
tin-Cut-off-Wert von 30 µg/l lag die Sensitivität bei 79 Prozent
(95%-Konfidenzintervall [KI]: 58%, 91%) und die Spezifität
bei 98 Prozent (95%-KI: 91%, 100%). Die geschätzte dia-
gnostische Odds Ratio lag bei 140, was für einen hoch infor-
mativen Test steht (9 Studien, n = 512, geringe Evidenzsicher-
heit).
Eisenüberladung: Alle 36 Studien wurden mit nicht gesunden
erwachsenen Personen (n = 1927) durchgeführt. Studien mit
Säuglingen, Kindern oder schwangeren Frauen gab es nicht.
Die Evidenzsicherheit war sehr gering. Bei einer Prävalenz
von 42 Prozent (d. h. 420 pro 1000 Personen) und einer an-
genommenen Spezifität von 65 Prozent wurden 332 Personen
mit Eisenüberladung richtig diagnostiziert und 85 falsch, was
eine Sensitivität von 80 Prozent ergibt. Die geschätzte dia-
gnostische Odds Ratio betrug 8.
Fazit: Bei einem Cut-off-Wert von 30 µg/l hat das im Blut
gemessene Ferritin eine genügend grosse Sensitivität und ist
sehr spezifisch, um einen Eisenmangel bei Personen, die einen
Arzt aufsuchen, zu diagnostizieren (geringe Evidenzsicher-
heit). Bei Patienten mit entsprechendem Verdacht zeigen hohe
Ferritinkonzentrationen eine Eisenüberladung bei sehr gerin-
ger Evidenzsicherheit an. Bei asymptomatischen Patienten
dagegen ist die Evidenz zur Erkennung eines Eisenmangels
oder einer Eisenüberladung mittels Ferritinbestimmung un-
genügend.
vh s
Quelle: Garcia-Casal MN et al.: Serum or plasma ferritin concentration as an index of iron deficiency and overload. Cochrane Database Syst Rev. 2021;5(5):CD011817.
Anticholinerge Last als möglicher Risikofaktor für Demenz
Schätzungen zufolge erhalten zwischen 20 und 50 Prozent der älteren Menschen Medikamente mit anticholinergen Eigenschaften. Darunter befinden sich beispielsweise manche Antiallergika, Schlafmittel oder Antidepressiva. Es ist möglich, dass der kumulative Effekt dieser Medikamente, die sogenannte anticholinerge Last, das Risiko für eine spätere kognitive Beeinträchtigung oder eine Demenzentwicklung erhöht. Die anticholinerge Last eines Patienten kann mit der Medikationsliste anhand von verschiedenen Skalen ermittelt werden. Eine davon ist die Anticholinergic Cognitive Burden Scale (ACB). Ob ältere Erwachsene ohne initiale Gedächtnisprobleme unter Anticholinergika später eher eine Demenzerkrankung entwickeln als Personen ohne eine Anticholinergikatherapie, war Fragestellung eines systematischen Cochrane-Reviews.
Dazu wurden prospektive und retrospektive longitudinale Kohortenstudien und Fall-Kontroll-Studien mit kognitiv gesunden > 50-jährigen Erwachsenen mit einer Minimallaufzeit von 1 Jahr eingeschlossen. Von 25 infrage kommenden Studien (n = 968 428) lieferten 8 Studien (n = 320 906) verwertbare Daten für eine Metaanalyse. In den Studien wurden verschiedene Skalen eingesetzt. Die ACB-Skala lieferte als einzige Skala genügend Daten für eine skalenbasierte Metaanalyse. Die Analysen weisen auf ein erhöhtes Risiko für eine Kognitionsverschlechterung oder eine Demenzentwicklung bei älteren Personen mit anticholinerger Last hin (Odds Ratio [OR]: 1,47; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,09 bis 1,96). Das Risiko scheint mit der Schwere der anticholinergen Last anzusteigen. Für Medikamente mit einer hohen anticholinergen
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Last zeigte sich ein mehr als doppelt so hohes Risiko für eine Kognitionsverschlechterung oder eine Demenzentwicklung (OR: 2,63; 95%-KI: 1,09 bis 6,29). Die Evidenzsicherheit war jedoch allgemein gering. Fazit: Die Resultate legen nahe, dass kognitiv gesunde Erwachsene, die Medikamente mit anticholinergem Effekt einnehmen, ein erhöhtes Risiko haben, später eine kognitive Verschlechterung oder eine Demenz zu entwickeln – unab-
hängig von Geschlecht, Alter und Komorbiditäten. Die Evi-
denzsicherheit ist jedoch gering.
vh s
Quelle: Taylor-Rowan M et al.: Anticholinergic burden (prognostic factor) for prediction of dementia or cognitive decline in older adults with no known cognitive syndrome. Cochrane Database Syst Rev. 2021;5(5):CD013540.
ABC-Kalkulator: http://www.acbcalc.com/
Hypertonietherapie senkt Demenzrisiko nicht
Beobachtungsstudien legen nahe, dass Patienten mit hohem Blutdruck in der Folge Demenz oder Gedächtnisprobleme entwickeln können und dass eine Behandlung der Hypertonie mit tieferen Inzidenzen von Kognitionsverschlechterung und Demenzentwicklung in Zusammenhang steht. Klare Evidenz dafür besteht für die Hypertoniebehandlung nach Hirnschlag. Ob das auch für Hypertoniepatienten ohne zerebrovaskuläre Erkrankung zutrifft, überprüfte ein Update eines früheren systematischen Cochrane-Reviews. In die Analyse wurden 12 randomisierte Studien (n = 30 412) eingeschlossen. Davon verglichen 8 Studien die Hypertonietherapie mit Plazebo, 2 Studien verglichen eine intensive versus Standardblutdrucksenkung, und 2 Studien verglichen verschiedene Antihypertonika miteinander. Die Studien liefen zwischen 1 und 5 Jahre. Bei den plazebokontrollierten Studien zeigte sich kein Unterschied zwischen der aktiven und der Plazebogruppe bezüglich Risiko für eine Demenzentwicklung (Odds Ratio [OR]: 0,89;
95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,72 bis 1,09; 4 Studien;
n = 15 427). Eine leichte Verbesserung im Mini-Mental-
State-Exam, verglichen mit Plazebo, wies jedoch auf einen
bescheidenen Nutzen der Therapie hin (Mean Difference:
0,20; 95%-KI: 0,10 bis 0,29; 4 Studien; n = 9435). Die Evi-
denzsicherheit war wegen Studienlimitationen und Indirekt-
heit sehr niedrig. Die Studiendauer war für diese Fragestellung
zu kurz, und die kognitive Verschlechterung und die Demenz-
entwicklung in den meisten Studien waren nur als sekundärer
Endpunkt definiert.
Fazit: Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass es keine
gesicherte Evidenz dafür gibt, dass eine Hypertonietherapie
vor einer Demenzentwicklung schützt.
vh s
Quelle: Cunningham EL et al.: Pharmacological treatment of hypertension in people without prior cerebrovascular disease for the prevention of cognitive impairment and dementia. Cochrane Database Syst Rev. 2021;5(5):CD004034.
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