Transkript
Depression im Alter
Es lohnt sich, genau hinzuschauen
BERICHT
Depressionen im Alter sind häufig und können sich unter anderem mit Gedächtnisstörungen äussern. In diesem Fall ist es wichtig, diese einer Ursache zuzuordnen. Denn sie könnten auch durch eine Verschlechterung einer somatischen Komorbidität verursacht sein. Was in der Abklärung und in der Therapie der Altersdepression zu beachten ist, darüber berichtete der Geriater Dr. Bernard Flückiger, Chefarzt Adullam-Spital Basel/Riehen, am FOMF Allgemeine Innere Medizin Update Refresher in Basel.
Depression ist die häufigste psychische Störung im Alter. In der Altersklasse der 65- bis 75-Jährigen liegt die Prävalenz gemäss Bundesamt für Statistik bei 6,5 Prozent, bei über 75-Jährigen steigt sie bis auf 10,5 Prozent, vor allem bei Frauen. 50 Prozent der Altersdepressionen treten erstmals zwischen dem 60. und dem 75. Lebensjahr auf, 50 Prozent sind Rezidivepisoden mit Erkrankungsbeginn vor dem 60. Lebensjahr, berichtet der Geriater. Die Depression im Alter ist relevant. Die Suizidrate steigt im Alter trotz sinkender Selbstmordversuche. Grund dafür ist die effizientere Durchführung. Jede 2. Frau, die Selbstmord verübt, ist über 60 Jahre alt. Eine Hochrisikogruppe stellen jedoch ältere Männer ab 75 Jahre dar. Mögliche Ursachen einer Depression können Komorbiditäten, Tumoren, chronische Schmerzen und auch Medikamente (Kasten) sein. Erschwerend im Alter kommen aber noch veränderte Lebensumstände dazu, wie zum Beispiel eine Pensionierung, Verlust des Lebenspartners, Verlust der Selbstständigkeit oder Abhängigkeit von einer Betreuungsperson. Eine Altersdepression äussert sich laut Flückiger oft mit gleichzeitigen Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Weitere Symptome können Kopfschmerzen, Missempfindungen wie «Kribbeln am Körper», innere Unruhe, Tremor, Schlafstörungen, Magen-Darm-Beschwerden oder Schwindelgefühle sein. Ein Verdacht auf eine Depression sollte jedoch bei Vorhandensein von mindestens 2 bis 4 Hauptsymptomen oder anderen Symptomen (Tabelle 1) erhoben werden, wenn sie mehr als 2 Wochen persistieren.
KURZ & BÜNDIG
� Depression hat mit Kognitionsstörungen, Störung der Alltagsfähigkeiten und Suizidalität gravierende Konsequenzen.
� Vor Diagnosestellung somatische Ursachen ausschliessen.
� Therapie anhand des Depressionsmusters auswählen.
� Nicht medikamentöse Therapie (Psychotherapie, psychosoziale Interventionen, Aktivierung) erwägen.
� Medikamentöse Therapie nach 6 Monaten überprüfen.
Anhand der Geriatric Depression Scale (GDS) mit 15 (Langversion) oder 4 Fragen (Kurzversion) kann der Verdacht auf Depression erhärtet werden, die ab 6 beziehungsweise 2 Punkten als bestätigt gilt. Es gibt auch einen Test mit 2 Fragen, der eine Sensitivität von 96 Prozent (Spezifität 57%) aufweist. Dieser lässt sich gut in ein Patientengespräch einflechten. Frage 1: Fühlten Sie sich in den letzten Monaten niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder hoffnungslos? Frage 2: Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst gern tun? Bei einer Beantwortung beider Fragen mit Ja ist eine Depression wahrscheinlich.
Plötzlich antriebsarm
Bei geriatrischen Patienten, die bis vor Kurzem noch mobil waren, nun aber plötzlich Unselbstständigkeit, Antriebsarmut und Gedächtnisstörungen (MMS, Uhrentest) zeigen und im GDS-4- wie im 2-Fragen-Test alle Fragen mit Ja beantworten, kann es sich lohnen, vor Beginn einer Depressionstherapie die somatischen Symptome näher zu untersuchen. Manchmal könne eine dekompensierte Herzinsuffizienz den Lebensmut rauben und eine entsprechende Behandlung die vorbestehende Mobilität wiederherstellen, so Flückiger. Auch eine Hypothyreose oder Medikamente (z. B. Betablocker) können zu einem depressiven Zustandsbild führen. Eine Substitution der Schilddrüsenhormone oder das Ausschleichen der betreffenden Medikamente können die Stimmungslage und die Kognition erheblich bessern. Vor der Diagnose Depression sollten deshalb laut dem Experten Ursachen von zugrunde liegenden somatischen Erkrankungen ausgeschlossen werden. Treten Gedächtnisstörungen auf, können sie Folge einer Depression sein, aber auch Zeichen einer Demenz. Die Schnittmenge von kognitiven Defiziten und einem affektiven Syndrom sei nicht unerheblich und schwierig zu diagnostizieren, so Flückiger. Während die Demenz schleichend progredient verläuft, unterliegt die Depression eher Tagesschwankungen. Zudem sind Demente im Gegensatz zu Depressiven oft desorientiert bei normaler Aufmerksamkeit, während diese bei einer Depression vermindert ist. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist die Anosognosie: Depressive geben eher zu, dass es ihnen nicht gut geht, Demente dagegen dementieren das weitgehend. Gedächtnisstörungen bei älteren Patienten sollten, wenn immer möglich, einer Ur-
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BERICHT
Kasten:
Mögliche Ursachen von Depressionen
Komorbiditäten: koronare Herzkrankheit, zerebrovaskulärer Insult, Leukenzephalopathie, Diabetes, neurologische Erkrankungen (z. B. M. Parkinson) Tumoren: Elektrolytstörungen, Stoffwechselstörungen Chronische Schmerzen Medikamente: Betablocker, Digitalis, Neuroleptika, Zytostatika
Tabelle 1: Depression: Wichtige Symptome im Alter
Hauptsymptome ▲ gedrückte Stimmung ▲ Interesse-/Freudlosigkeit ▲ Ängste vor Krankheit ▲ Klagen über Gedächtnisstörungen ▲ Verlangsamung ▲ Selbstvernachlässigung ▲ Hoffnungslosigkeit
Andere häufige Symptome ▲ Konzentrationsstörungen ▲ schwindendes
Selbstwertgefühl ▲ Schuldgefühl ▲ Hemmung/Unruhe ▲ Schlafstörung ▲ Appetitminderung ▲ Misstrauen/Reizbarkeit
Quelle: Dr. Bernard Flückiger, FOMF AIM Basel 2022
sache zugeordnet werden, empfiehlt der Experte. Bei Verdacht auf Depression und vorhandener kognitiver Störung kann ein Therapieversuch auf Depression Klarheit bringen.
Unruhe und Abgeschlagenheit, erfolgen. Dabei sind Neben-
wirkungsprofile und Interaktionen zu beachten (Tabelle 2),
und das gewählte Medikament soll langsam auftitriert wer-
den. Die Zieldosis sei bei älteren Menschen in der Regel tiefer
als bei jüngeren Erwachsenen, so Flückiger. Falls die Wir-
kung nicht wunschgemäss ausfällt, sollen keine abrupten
Dosisänderungen oder Wechsel vorgenommen werden. Das
bestehende Präparat muss erst ausgeschlichen werden, bevor
gewechselt werden kann. Auf tri- oder tetrazyklische Anti-
depressiva soll nach Möglichkeit verzichtet werden, ebenso
auf Kombinationsprodukte. Bestehen gleichzeitig Schlafstö-
rungen, empfiehlt sich ein sedierendes und anxiolytisches
Antidepressivum wie zum Beispiel Mirtazapin oder Trazo-
don. Ein Erfolg sollte sich nach 6 bis 8 Wochen einstellen,
eine Überprüfung der Therapie empfiehlt sich nach 4 bis
6 Monaten.
Bis zu ein Drittel der Patienten spricht auf den ersten Thera-
pieversuch allerdings nicht an. Bevor die Therapie geändert
wird, empfiehlt sich eine Überprüfung der Dosierung, der
Therapiedauer, der Compliance und nicht zuletzt auch der
Diagnose. Manchmal können auch pathogene Faktoren zu
einer schlechten Resorption des Medikaments führen, was
ebenfalls zu berücksichtigen ist.
Neben der medikamentösen Therapie sollte auch immer eine
nicht medikamentöse Therapie erwogen werden, insbeson-
dere Psychotherapie, psychosoziale Interventionen oder
Aktivierung. Nicht medikamentöse Interventionen werden
von Psychologen, aber auch von Pro Senectute angeboten, so
der abschliessende Tipp des Geriaters.
s
Therapie auf Problematik abstimmen
Die Wahl des Antidepressivums soll anhand des Depressionsmusters, wie zum Beispiel Schlafstörungen, Angststörungen,
Valérie Herzog
Quelle: «Depression im Alter», FOMF Allgemeine Innere Medizin, 25. bis 29. Januar in Basel.
Tabelle 2: Medikamentöse Therapie der Depression
Wirkstoff
Präparat
Nebenwirkungen (Auswahl)
Wirkprofil
SSRI
Citalopram, Sertralin
Hyponatriämie, Nausea, innere Unruhe, antriebsneutral,
Schlafstörungen angstlösend
SSRI
Fluoxetin, Paroxetin
Hyponatriämie, Nausea, innere Unruhe, stimulierend
Schlafstörungen
SARI
Trazodon, Vortioxetin
Hyponatriämie, Mundtrockenheit
sedierend, angstlösend,
kognitionsverbessernd
SNRI
Venlafaxin, Duloxetin
Übelkeit, Mundtrockenheit,
stimulierend,
Kopfschmerzen, Schläfrigkeit,
schmerzmodulierend
Schlaflosigkeit, Schwitzen
NaSSA
Mirtazapin
Orthostase, Gewichtszunahme,
sedierend, angstlösend,
Appetitsteigerung schmerzmodulierend
SNDRI
Bupropion
Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen,
stimulierend
erniedrigte Krampfschwelle
TZA
Amitryptilin,
anticholinerg
sedierend, angstlösend
Trimipramin, Imipramin
MT-Agonist
Agomelatin
Nausea, Schwindel
sedierend
MAO-Hemmer Moclobemid Interaktionen
Phytotherapeutikum Johanniskraut
Interaktionen
Abkürzungen: SSRI: selektive Serotonin-Reuptake-Hemmer, SARI: Serotoninantagonist und -Reuptake-Hemmer, SNRI: Serotonin-NoradrenalinReuptake-Hemmer, NaSSA: noradrenerges und spezifisch serotonerges Antidepressivum, SNDRI: selektive Noradrenalin-Dopamin-ReuptakeHemmer, TZA: trizyklische Antidepressiva, MT: melatonerger Rezeptor, MAO: Monoaminoxidasehemmer Quelle: Dr. Bernard Flückiger, FOMF AIM Basel 2022
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