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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Risikobewertung
Statine: Wird ihr Nutzen überschätzt?
Statine können den LDL-CholesterinSpiegel senken und dadurch das Risiko für einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall vermindern. Darüber ist sich die Fachwelt einig. Weniger Einigkeit herrscht bei der Antwort auf die Frage, wie der tatsächliche Nutzen der LDLSenkung beziehungsweise der Statine zu bewerten ist. Dr. Paula Byrne, University of Medicine and Health Sciences, Dublin, und ihre Co-Autoren haben deshalb in einer neuen Metaanalyse 21 Statinstudien mit insgesamt rund 130 000 Patienten
unter die Lupe genommen (1). Es handelte sich um randomisierte, kontrollierte Studien mit einer mittleren Dauer von 4,4 Jahren (1,9–6,1 Jahre). In je einem Drittel der Studien ging es um Primärprävention, Sekundärprävention oder um gemischte Kollektive (sowohl Primär- als auch Sekundärprävention). Das Autorenteam konzentrierte sich auf 3 Parameter: Mortalität (jegliche Ursache), Herzinfarkt und Schlaganfall. Bei den Patienten mit Statinen sank das absolute Risiko im Vergleich zu den Patienten mit Plazebo (bzw. Routinebehandlung) im Durchschnitt wie folgt (95%-Konfidenzintervalle [KI] in Klammern): s Mortalität: –0,8% (0,4–1,2%) s Herzinfarkt: –1,3% (0,9–1,7%) s Schlaganfall: –0,4% (0,2–0,6%).
Die Minderung des relativen Risikos betrug 9 Prozent bezüglich der Mortalität (95%-KI: 5–14%), 29 Prozent für Herzinfarkt (95%-KI: 22–34%) und 14 Prozent für Schlaganfall (95%-KI: 5–22%). Somit hätten ihre Berechnungen eine ähnliche Grössenordnung ergeben, wie man sie als Reduktion des relativen Risikos aus anderen Statin-Metaanalysen kenne, zum Beispiel aus Studien der Arbeitsgruppe «Cholesterol Treatment Trialists» oder einem Cochrane-Review, so Byrne und ihre Co-Autoren.
Im Gegensatz zu anderen Studien und Metaanalysen zeigte sich in ihrer Arbeit jedoch keine eindeutige Beziehung zwischen LDL-Senkung und Minderung des kardiovaskulären Risikos. Die grosse statistische Heterogenität der Studien könnte ein Grund dafür sein, schreibt das Autorenteam. Angesichts diese Heterogenität müsse man die errechneten Werte für die Minderung des relativen und absoluten Risikos mit Vorsicht interpretieren – wobei diese Einschränkung auch auf alle anderen Metaanalysen zu Statinen zutreffe.
Was bedeutet das für die Praxis?
Punkt 1: Die Angabe der Minderung des relativen Risikos kann in die Irre führen: «In unserer Analyse betrug die Minderung des relativen Risikos
29 Prozent, die des absoluten jedoch
nur 1,3 Prozent. Mit anderen Worten:
Es müssten 77 Personen mit einem Sta-
tin für rund 4,4 Jahre behandelt wer-
den, um 1 Herzinfarkt zu vermeiden»,
schreiben Byrne und ihre Co-Autoren.
Punkt 2: Der Nutzen von Statinen ist
vom Ausgangsrisiko abhängig. «Ein
übergewichtiger, rauchender, 65 Jahre
alter Mann mit hohem Blutdruck und
hohen Cholesterinwerten hat ein völlig
anderes Risiko als eine 50-jährige
Nichtraucherin mit Normalgewicht»,
sagte Byrne dem Nachrichtendienst
United Press International (2).
Punkt 3: Die Annahme, dass für den
LDL-Wert «je tiefer, umso besser» gelte,
werde durch ihre Studie nicht bestätigt,
so Byrne (2).
Ausdrücklich warnte sie davor, dass Pa-
tienten ihr Statin einfach absetzen. Sie
sollten vielmehr mit ihrem Arzt über ihr
individuelles Risiko sprechen und dar-
über, wie stark dieses Risiko durch ein
Statin gesenkt werden könnte. Auf der
Nachrichtenplattform «The Conversa-
tion» erläuterte Byrne dies mit einem
Beispiel (3): Das 10-Jahres-Mortalitäts-
risiko des bereits erwähnten 65-Jähri-
gen mit Hypertonie und hohen Chole-
sterinwerten betrage 38 Prozent, das-
jenige einer 45-jährigen Nichtraucherin
hingegen nur 1,4 Prozent. Eine Minde-
rung des relativen Risikos um 9 Prozent
würde das absolute Risiko für den
Mann also von 38 auf 34,6 Prozent sen-
ken, dasjenige der Frau aber nur von
1,4 auf 1,3 Prozent.
RBO s
1. Byrne P et al.: Evaluating the Association Between Low-Density Lipoprotein Cholesterol Reduction and Relative and Absolute Effects of Statin Treatment: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Intern Med. 2022;e220134. Published online ahead of print, 2022 Mar 14.
2. Dunleavy BP: Statins lower cholesterol, but not necessarily heart attack risk, study finds. United Press International, 14. März 2022; https://www.upi.com/Health_ News/2022/03/14/statins-cholesterol-heartattack-risk-study/3951647263844/, abgerufen am 24. April 2022.
3. Byrne P: Benefits of statins may have been overstated – new study. 14. März 2022. https://theconversation.com/benefits-ofstatins-may-have-been-overstated-newstudy-175557, abgerufen am 24. April 2022.
Foto: RazorMax, Pixabay
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ARS MEDICI 9 | 2022