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FORTBILDUNG
Wer gründlich sucht, wird oft fündig
Wie Sie Rückenschmerzen einordnen können
Bei der Diagnose und der Therapie akuter und chronischer Rückenschmerzen gibt es offene Fragen, die in diesem Artikel diskutiert werden sollen. Der Beitrag möchte zum kritischen Nachdenken und zur Diskussion anregen, um vielleicht eine individuell für den einzelnen Patienten geeignete Diagnostik und Therapie zu finden. Betrachtet werden soll der Rückenschmerz; nicht berücksichtigt werden radikuläre Beschwerden, wie sie zum Beispiel durch Nervenwurzelkompression bei einem Bandscheibenvorfall vorkommen, oder auch eine Claudicatio-Symptomatik bei Spinalkanalstenose.
Stephan Klessinger
Die Häufigkeit nicht spezifischer Rückenschmerzen, bei denen sich kein eindeutiger Hinweis auf eine spezifische Ursache finden lässt, wird mit > 80 Prozent angegeben (1, 2). Oft handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose: Liegt keine der in den «red flags» definierten ernsthaften Erkrankungen vor, wird von nicht spezifischem Schmerz gesprochen. Hierbei wird aber nicht berücksichtigt, dass es Schmerzursachen geben kann, die in den «red flags» nicht genannt werden.
Häufigkeit neu bewerten!
Alle Strukturen im Körper, die mit Nozizeptoren versorgt sind, kommen grundsätzlich als Schmerzursache infrage. Auch an der Wirbelsäule gibt es viele solcher Strukturen, wie zum Beispiel Bänder, Gelenke und Muskeln, die auch an anderen Stellen im menschlichen Körper Schmerzen erzeugen.
Sucht man primäre Quellen für die Häufigkeit nicht spezifischer Rückenschmerzen, wird häufig eine Arbeit von Deyo et al. (3) zitiert. Letztlich scheint der Ursprung der Häufigkeit aber auf eine Studie eines Londoner Hausarztes zurückzugehen, der Daten aus den 1960er-Jahren ausgewertet hat (4). Vielleicht ist es an der Zeit, neue Konzepte zur Pathogenese und die seitdem entwickelten Möglichkeiten der Bildgebung zu berücksichtigen und die Häufigkeit nicht spezifischer Rückenschmerzen neu zu bewerten. Inzwischen wird nämlich zunehmend gefordert, den «diagnostischen Nihilismus» bezüglich Rückenschmerzen zu beenden (5). In Deutschland existiert seit Ende 2017 eine Leitlinie zum spezifischen Kreuzschmerz (6), und tatsächlich lassen sich bei konsequenter Diagnostik bei den meisten Patienten spezifische Ursachen herausarbeiten (7).
MERKSÄTZE
� Möglicherweise sind spezifische Rückenschmerzen häufiger als bisher angenommen, und die Häufigkeit nicht spezifischer Rückenschmerzen wird überschätzt.
� Die Ursache spezifischer Rückenschmerzen ist abhängig vom Alter der Patientin oder des Patienten.
� In der bildgebenden Diagnostik lässt sich häufig nicht die Ursache für einen Rückenschmerz erkennen, insbesondere korrelieren degenerative Veränderungen in der Regel nicht mit Schmerzen.
� Anamnese und klinische Untersuchung sind bei Rückenschmerzen wichtig; häufig bedarf es aber invasiver Techniken, um eine spezifische Diagnose zu sichern.
� Eine spezifische Schmerzursache herauszufinden, ist sinnvoll, da für manche Diagnosen gezielte Therapieverfahren mit guter Evidenz vorhanden sind.
Bildgebung bei akuten und chronischen Rückenschmerzen
Durch die zunehmende Verbreitung von Computertomografie (CT) und insbesondere Magnetresonanztomografie (MRT) konnte eine Vielzahl von Pathologien an der Wirbelsäule sichtbar gemacht werden. Es war jedoch ein langer Weg zu lernen, dass man Rückenschmerzen nicht sehen kann. Degenerative Veränderungen sind in der MRT schon früh zu erkennen und oft keine Schmerzquelle, wie eine aktuelle Studie an asymptomatischen Kandidaten für die US Air Force im Alter von 18 bis 22 Jahren zeigen konnte (8): Bei 270 der 350 Patienten (77%) fanden sich pathologische Befunde in der MRT. Es gibt daher Leitlinien, die bei akuten und chronischen Lumbalgien keine Bildgebung empfehlen (9, 10). Allerdings ist eine MRT bei Verdacht auf eine systemische Erkrankung (z. B. Osteoporose, Metastase, Infektionen), bei radikulärer Symptomatik – insbesondere mit neurologischen Defiziten – und zur Operationsplanung wichtig. Zu entscheiden, welche Patienten mit chronischen Lumbalgien vielleicht doch eine Bildgebung benötigen, obwohl keine «red flags» vorliegen und obwohl kein neurologisches
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Kasten 1:
Patientenbeispiel 1: Rückenschmerzen durch Kinderstühle?
Eine 43 Jahre alte Kindergärtnerin leidet seit 9 Monaten unter Rückenschmerzen mit etwas Ausstrahlung in beide Beine, manchmal mit etwas Kribbeln verbunden. Bei der Untersuchung findet sich kein neurologisches Defizit. Vermutet wurde, dass die Beschwerden durch das beruflich bedingte Sitzen auf den kleinen Stühlen verursacht wurden. Es wurde eine Umschulung empfohlen. Entgegen den Empfehlungen der Leitlinien wurde schliesslich doch eine Magnetresonanztomografie durchgeführt, welche ein intraspinales Meningeom zeigte (Abbildung 1).
Defizit besteht, kann eine Herausforderung sein, wie das Patientenbeispiel 1 (Kasten 1) zeigt, in dem eine sehr seltene Ursache für einen chronischen Rückenschmerz beschrieben wird.
Häufige Ursachen spezifischer Rückenschmerzen
Viel häufiger sind Schmerzen, die von den Gelenken (Facettengelenke, Iliosakralgelenk [ISG]) und von den Bandscheiben ausgehen (11). Abbildung 2 zeigt, dass die Häufigkeit der unterschiedlichen Ursachen vom Alter des Patienten abhängt. Es ist nachvollziehbar, dass degenerative Veränderungen, von denen auch die Facettengelenke und das ISG betroffen sind, ab dem mittleren Alter zunehmen. Die Facettengelenke sind ab dem 55. Lebensjahr die häufigste Ursache für Rückenschmerzen. Der Aufbau der Facettengelenke ist vergleichbar mit dem anderer synovialer Gelenke, und daher können sie ebenso wie ein Knie- oder Fingergelenk die Schmerzursache sein. Es gibt sogar einen Gelenkkörper (Meniskoid), der beim Aufrichten aus Vorbeugung mit Rotation im Recessus lateralis einklemmen kann und dann durch Dehnung der Gelenkkapsel einen akuten, immobilisierenden Schmerz («Hexenschuss») hervorruft. Bei den «sonstigen Ursachen» in Abbildung 2 handelt es sich zum Beispiel um osteoporotische Frakturen, um M. Baastrup und um Wirbelsäulenmetastasen. Überraschend ist sicherlich die Häufigkeit eines diskogenen Schmerzes bei jungen Erwachsenen. Hierbei handelt es sich um eine schmerzhafte Strukturveränderung der Bandscheibe, die nicht mit einem Bandscheibenvorfall, aber auch nicht mit einer Osteochondrose gleichgesetzt werden darf. Typischerweise fehlen die Kompression einer Nervenwurzel und somit die radikuläre Symptomatik. Eher kommt es zu reinen Lumbalgien.
Abbildung 1: Sagittale und axiale Magnetresonanztomografie T1 mit Kontrastmittel, welche ein deutlich raumforderndes Meningeom in Höhe Lendenwirbelkörper 4 zeigen (© Klessinger)
Abbildung 2: Wahrscheinlichkeiten für Schmerzursachen bei chronischen Rückenschmerzen in Abhängigkeit vom Alter (nach [11]; blau: diskogener Schmerz, rot: Facettengelenkschmerzen, gelb: Schmerzen im Iliosakralgelenk, grün: sonstige Ursachen; © Klessinger)
Invasive Diagnostik
Die Anamnese und die klinische Untersuchung liefern uns wertvolle Hinweise auf die Art der Erkrankung und die Lokalisation der Schmerzen. Diese Hinweise sind jedoch wie die Bildgebung häufig nicht pathognomonisch für eine bestimmte Schmerzursache wie zum Beispiel Facettengelenkschmerz oder diskogener Schmerz (12). In den letzten Jahren gab es aber deutliche Fortschritte in Bezug auf die Evidenz diagnostischer und therapeutischer Interventionen an der Wirbelsäule (13). Werden diese Techniken konsequent angewendet, lässt sich bei einem Grossteil der Patienten eine Schmerzursache identifizieren (13). Angewendet werden zum Beispiel diagnostische Blockaden der Nerven, die die Facettengelenke versorgen (medial branch blocks), Injektionen in das ISG und die diagnostische Provokationsdiskografie. Problematisch ist, dass all diese Verfahren sehr gezielt und spezifisch und daher unter Bildgebung (Durchleuchtung, Ultraschall) angewendet werden müssen. Somit sind diese diagnostischen Verfahren aufwendig und an bestimmte spezialisierte Zentren gebunden. Es ist sicherlich nicht sinnvoll und notwendig, jeden Rückenschmerz auf diese Art und Weise abzuklären. Wenn aber eine invasive Diagnostik angestrebt wird, sollte diese konsequent und geplant durchgeführt werden, um eine Überdiagnostik zu vermeiden. Auch wenn sich dann bei den meisten Patienten eine spezifische Ursache finden lässt, muss immer berücksichtigt werden,
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Kasten 2:
Patientenbeispiel 2: Iliosakralgelenk oder Psyche?
Eine 64 Jahre alte Patientin stellt sich in der Notaufnahme vor mit akuten Schmerzen im Rücken rechts und Ausstrahlung in den Oberschenkel. Bei der Untersuchung paravertebraler Hartspann untere Lendenwirbelsäule (LWS) rechts. Es erfolgten Röntgenaufnahmen von Becken, Hüfte und LWS ohne Befund. Die Patientin wird mit Ibuprofen, Metamizol und Tilidin nach Hause geschickt. 4 Tage später erfolgt die stationäre Aufnahme bei anhaltenden Schmerzen. Die Magnetresonanztomografie der LWS ist altersentsprechend. Eine Testinfiltration des Iliosakralgelenks (ISG) verläuft ohne Besserung, dennoch Entlassung mit der Diagnose einer Sakroiliitis. 1 Tag nach Entlassung erneute stationäre Aufnahme, nun Verdacht auf somatoforme Schmerzstörung und generalisierte Angststörung. Ein psychiatrisches Konsil wurde empfohlen. Medikamentöse Einstellung mit Etoricoxib, Metamizol, Tilidin, Pregabalin, Duloxetin und Lorazepam. Die Patientin fand den Termin beim Psychiater allgemein sehr hilfreich, nur nicht in Bezug auf die Schmerzen. Schliesslich konnte eine ambulant durchgeführte Austestung der unteren Facettengelenke rechts mit röntgengeführten «medial branch blocks» die Schmerzursache ermitteln. Mittels röntgengeführter Injektionen konnte der Schmerz gebessert werden, die Medikamente wurden vollständig ausgeschlichen.
dass es Patienten mit unspezifischem Rückenschmerz gibt, bei denen auf keinen Fall zu viel Diagnostik durchgeführt werden darf. Das Patientenbeispiel 2 (Kasten 2) zeigt einen Fall, bei dem eine invasive Diagnostik nicht konsequent durchgeführt wurde. Die Blockade des ISG ergab keine Besserung, dennoch wurde die Diagnose einer Sakroiliitis gestellt. Die häufigste Schmerzursache in dieser Altersgruppe sind die Facettengelenke (Abbildung 2). Diese wurden aber nicht untersucht. Es ist sinnvoll, für den individuellen Patienten entsprechend dem Alter, der Anamnese und der Untersuchung sowie unter Einbeziehung der Bildgebung einen diagnostischen Plan auszuarbeiten, diesen konsequent zu verfolgen, aber dann die weitere Diagnostik zu beenden, wenn sich keine neuen Aspekte ergeben haben.
Therapieoptionen
Eine spezifische Schmerzursache zu diagnostizieren, ist natürlich insbesondere dann sinnvoll, wenn eine gezielte Therapie möglich ist. Wurde ein Facettengelenkschmerz durch kontrollierte, röntgengeführte «medial branch blocks» gesichert, bei denen gezielt der gelenkversorgende Nerv durch Lokalanästhesie vorübergehend ausgeschaltet wird, steht mit der Radiofrequenzdenervation dieses Nervs eine gezielte Therapie zur Verfügung. Bei korrekter Indikation kann eine Schmerzfreiheit nach 6 Monaten bei knapp 60 Prozent der Patienten erreicht werden. Die mittlere Wirkdauer der ersten Denervation beträgt etwa 15 Monate, eine Wiederholung ist möglich
(14). Die Denervation der Facettengelenke wird in der Leitlinie «Spezifischer Kreuzschmerz» (6) empfohlen. Schwieriger ist die Therapie des diskogenen Schmerzes. Unterschiedliche Substanzen wurden in die Bandscheiben injiziert, und verschiedenste chirurgische Therapieansätze existieren (IDET [intradiscal electrothermal annuloplasty], Nukleoplastie bis hin zur Spondylodese). Allerdings gibt es keine Therapie mit ausreichend guter Evidenz für den diskogenen Schmerz. Dennoch kann es sinnvoll sein, einen diskogenen Schmerz identifiziert zu haben, da somit keine weitere Diagnostik bezüglich der Schmerzursache erfolgen muss und eine psychosomatische Ursache ausgeschlossen ist (negativer therapeutischer Nutzen). Dennoch darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass natürlich Chronifizierungsprozesse eine grosse Rolle spielen, für die multimodale Therapiekonzepte besser sein können. Interventionelle Diagnostik und Therapie sowie multimodale psychosoziale Konzepte sollten sich idealerweise ergänzen. s
Prof. Dr. med. Stephan Klessinger Neurochirurgie Biberach Eichendorffweg 5 D-88400 Biberach
Interessenlage: Der Autor hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien zuerst in «doctors today» 11/2021. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
Literatur: 1. Raspe H: Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Robert Koch-Insti-
tut in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt. Heft 53 Rückenschmerzen: Robert Koch-Institut; 2012: ISBN 978-3-89606-216-1. 2. Andersohn F, Walker J: Faktencheck Gesundheit. Faktencheck Rücken. Ausmass und regionale Variation von Behandlungsfällen und bildgebender Diagnostik. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung; 2016. 3. Deyo RA: Diagnostic evaluation of LBP: reaching a specific diagnosis is often impossible. Arch Intern Med. 2002;162:1444-1447, discussion 14471448. 4. Dillane JB et al.: Acute Back Syndrome – A Study From General Practice. Br Med J. 1966;2:82-84. 5. DePalma MJ: Diagnostic Nihilism Toward Low Back Pain: What Once Was Accepted, Should No Longer Be. Pain Med. 2015;16(8):1453-1454. 6. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF): Nationale Versorgungsleitlinie Spezifischer Kreuzschmerz, 2017 (cited 2021-01-27). 7. Bogduk N, Stojanovic MP: Progress in Evidence-Based Interventional Pain Medicine: Highlights from the Spine Section of Pain Medicine. Pain Med. 2019;20(7):1272-1274. 8. Romeo V et al.: High Prevalence of Spinal Magnetic Resonance Imaging Findings in Asymptomatic Young Adults (18–22 Yrs) Candidate to Air Force Flight. Spine (Phila Pa 1976). 2019;44(12):872-878. 9. Patel ND et al.: ACR Appropriateness Criteria Low Back Pain. Am Coll Radiol. 2016;13(9):1069-1078. 10. Airaksinen O et al.; COST B13 Working Group on Guidelines for Chronic Low Back Pain: Chapter 4. European guidelines for the management of chronic nonspecific low back pain. Eur Spine J. 2006;15 Suppl 2(Suppl 2):S192-300. 11. DePalma MJ et al.: What is the source of chronic low back pain and does age play a role? Pain Med. 2011;12(2):224-233. 12. Hancock MJ et al.: Systematic review of tests to identify the disc, SIJ or facet joint as the source of low back pain. Eur Spine J. 2007;16:1539-1550. 13. Klessinger S et al.: Evidenzbasierte interventionelle Schmerztherapie. Fortschritte der letzten 10 Jahre. Schmerz. 2020;34:123-126. 14. MacVicar J et al.: Lumbar medial branch radiofrequency neurotomy in New Zealand. Pain Med. 2013;14(5):639-645.
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