Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse
Zunächst mal etwas anderes als Krieg (jedenfalls der zwischen Menschen): Jedes zweite Lebewesen auf der Erde ist Parasit. Und wir fragen uns: Wozu brauchen wir Parasiten: Zecken, Würmer, Blutegel, Milben? Und: Warum um Himmels willen gibt es so viele Parasiten? Was macht das Parasitensein so attraktiv?
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Beispiel Lanzettegel. Ein äusserst originelles Tierchen. Es lebt im Gallengang des Schafs, was diesem (dem Schaf) gar nicht guttut, und legt dort Eier, die über den Kot ausgeschieden werden. Diese sogenannten Mirazidien werden von Schnecken gefressen, wandern in deren Atemwege, entwickeln sich über Monate und werden dann als Schleimbällchen ausgehustet. Diesen Schneckenschleim finden vor allem Waldameisen lecker. Dummerweise – für sie. Denn in den Ameisen werden die Metazerkarien – so werden die Zwischenstufen inzwischen genannt – zu Saboteuren. Sie wandern ins Ameisenhirn und manipulieren es so, dass die Ameise es unwiderstehlich findet, nachts auf einen Grashalm zu klettern, sich dort festzubeissen und am Morgen von einem Schaf fressen zu lassen. Womit alles von vorn beginnt.
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Alles nichts weiter als eine Laune der Natur? Nein! Denn Parasiten sind Garanten der Evolution. Es ist der ewige Kreislauf. Man kann es – aus menschlicher Sicht – auch «Wettrüsten» nennen. Der Wirt entwickelt neue Abwehrmechanismen gegen Parasiten, und der Parasit übertölpelt den Wirt mit neuen Tricks. Und jetzt? Enden wir also doch wieder beim Krieg, dem «Vater aller Dinge»? Irgendwie schon. Man nennt ihn in der Natur halt lieber «Fortschritt».
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Krieg ganz in unserer Nähe. Nicht zwischen seit Urzeiten verfeindeten Völkern oder als Aufstand gegen eine autokratische Regierung, nein, viel einfacher: Friedliche Leute gegen einen schamlosen Eroberer. Und auf einmal beginnt man über Sätze nachzudenken wie: «Wie kann ich von anderen erwarten, zu kämpfen, wenn ich fliehe?» Oder: «Es gibt Dinge, für die es sich zu sterben lohnt.» Oder: «Natürlich habe ich Angst, zu sterben. Einfach so, ohne Grund.» Der das sagt, ist Georgiy Vaidanych aus Lwiw, 46, verheiratet, drei Kinder, zu Beginn des Ukrainekriegs nach Berlin geflohen, mit schlechtem Gewissen. Nach einem Hilferuf aus der Ukraine packt Vaidanych einen Subaru Forester voll mit Hilfsgütern und fährt zurück in die Ukraine. «Ist das bescheuert?», fragt er. Und antwortet: «Es ist auch bescheuert, in Berlin zu bleiben.» Und plötzlich schämt man sich ein wenig, weil man sich so lang mit Luxusproblemen wie Gendersternchen und Glutenunverträglichkeit herumschlug und Waffen, Krieg, die Verteidigung des Vaterlands und Heldentum für antiquierte Machovorstellungen aus Heldenepen und Fantasyfilmen hielt.
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Die frivole Gisela (natürlich nur virtuell) zu Herrn Putin: Was immer Sie nehmen – irgendwas stimmt mit der Dosierung nicht.
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«Willkommen in der Realität!» möchte man besserwisserisch rufen, angesichts von Bildern brennender Wohnblocks, zerstörter Spitäler, verzweifelter Menschen und toter Kinder, die auf Facebook – zumindest vorübergehend – die herzigen Tierlibilder ersetzt haben. Oder umgekehrt: «Scheissrealität, die Illusionen waren schöner!»
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Wer in Coronazeiten gegen den Mainstream war und an Verschwörungstheorien glaubte, neigt dazu, so weiterzumachen. Um «den Mainstream» zu ärgern, misstraut man westlichen TV-Berichten, der Nato sowieso, glaubt lieber Lügnern und Trollen und zeigt «ein gewisses Verständnis» für Herrn Putin. Intellektuelle gehen nicht so weit, aber man fühlt sich in ihren Kreisen doch ziemlich unwohl angesichts einer Situation, die keine Schattierungen und Relativierungen zulässt, weil so unzweifelhaft eindeutig ist, wer die Bösen sind. Selbst eingedenk der Tatsache, dass «die Guten» sich durchaus etwas unschuldiger geben, als sie es in der Vergangenheit waren. Intellektuelle halten Eindeutigkeit schlecht aus.Was tun? Einfache Gemüter flüchten sich in den üblichen «Whataboutismus» und weisen darauf hin, dass gegen die Bomben auf Grosny oder Aleppo kaum jemand protestiert habe und Menschenrechtsverletzungen anderer Staaten uns nie davon abgehalten hätten, mit ihnen Geschäfte zu machen. Und doch: Auch wenn die Ehrlichkeit unserer Empörung nicht über alle Zweifel erhaben ist, die Empörung ist echt und berechtigt. Nicht mal unser Umgang mit den Migranten und Asylanten in den Jahren 2015/2016 will sich so recht für relativierende Kritik eignen. Zu offensichtlich sind die Unterschiede: Aus der Ukraine kommen Alte, Mütter und Kinder, deren Väter kämpfen müssen (und wollen); damals kamen die jungen Männer, ohne Frauen.
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Whataboutism ist die kindliche oder kindische Art, etwas Böses mit dem Zeigefinger zu verteidigen – «Aber dä het au …»
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Und das meint Walti: Die meisten Helden wurden es nicht, weil sie es werden wollten, sondern weil sie mussten.
Richard Altorfer
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ARS MEDICI 7 | 2022