Transkript
EDITORIAL
In diesen Zeiten
Die Zeiten sind, wie sie sind. Besonders erfreulich ist nicht, was wenig mehr als 1000 Kilometer östlich von uns passiert: dass wieder Krieg ist in Europa, und was für einer: ein hundsgewöhnlicher, durch nichts zu rechtfertigender, heimtückischer Überfall auf eine friedlich dahinlebende Bevölkerung. Dummerweise ausgelöst von einem Psychopathen, der vermutlich nicht zur Einsicht fähig ist, falsch entschieden zu haben oder gescheitert zu sein, und der, wie man euphemistisch sagt, einigermassen unkontrolliert mit dem Finger am Auslöseknopf für Atomwaffen rumfummelt. Alle unsere Probleme erscheinen im Vergleich zu dem, was die vom Überfall Betroffenen mitmachen müssen, recht banal. Sogar die Einschränkungen wegen Corona in den vergangenen zwei Jahren waren im Rückblick zwar ärgerlich, aber von den meisten eigentlich ziemlich locker auszuhalten. Man weiss gar nicht so recht, was man angesichts der Bilder und Filme aus Mariupol (einer Stadt, von der wir vor sechs Wochen kaum wussten, dass es sie gibt) noch Wichtiges sagen und schreiben sollte. Und doch … Zum einen fällt auf, welche Rolle die Digitalisierung nicht nur im zivilen, sondern eben auch im militärischen «Alltag» spielt: Die Nutzung unverschlüsselter Telefone kann Ortung durch den Gegner und Tod bedeuten; Hacker können zivile und militärische Infrastrukturen stören oder gar lahmlegen (wenn auch nicht in dem teilweise befürchteten Ausmass);
Satellitensysteme, die in Realtime über gegnerische
Truppenbewegungen informieren, können Schlachten
entscheiden. Da wundern wir uns nicht mehr über er-
folgreiche Ransomware-Erpresser (die es ganz beson-
ders gern auf Spitäler abgesehen haben), Tesla-Hacker
und Kriminelle, die sich freuen, dass QR-Codes immer
beliebter und – auch in medizinischen Bereichen – im-
mer häufiger genutzt werden, z.B. für Arztrechnun-
gen. Denn die so harmlos daherkommenden und
putzig gemusterten QR-Codes sind höchst proble-
matische Eingangstore auch in heikle Softwaresys-
teme. Illegaler Zugang zu elektronischen Patienten-
dossiers entscheidet zwar keine Kriege, aber unange-
nehm werden kann’s schon.
Noch etwas fällt einem auf, in diesen Zeiten, spätes-
tens nach fünf Wochen: für die 50-jährige vor Jahren
an einem Mammakarzinom erkrankte Nachbarin und
ihren Mann sind nicht Kiev und Tschernobyl das wich-
tigste Thema, sondern die Metastasen, die zu einem
Ileus geführt haben. Für den 70-jährigen Freund ist der
nur dank des notfallmässigen Helitransports in die
Uni-Klinik und der perfekten Arbeit des Kardiologen
knapp überlebte Herzinfarkt das entscheidende Ereig-
nis. Und auch bei der Spaziergangsbekanntschaft do-
miniert das vor wenigen Tagen diagnostizierte Mela-
nom alle Gedanken – Corona und Ukraine sind weit
weg. Und man realisiert mit einer gewissen Beklem-
mung: Mag ein Zahnschmerz für den Lauf der Welt
noch so unerheblich sein, für den Betroffenen be-
stimmt er, hat er sich erst einmal festgesetzt, ganz
allein die Koordinaten der gesamten Welt. Das eigene
Leid, der eigene Schmerz, überlässt nichts und nie-
mand anderem Platz. Auch nicht dem Krieg und sei-
nem hunderttausendfachen Leiden.
Und am Ende des Tages, bei der Lektüre einer bunten
Mischung von Fachartikeln und Pressemitteilungen
ertappt man sich sogar dabei, dass man sich darüber
freut, dass der Kaffee, den man trinkt, nach neuesten
Studien nicht nur den Durst löscht und schmeckt, son-
dern auch noch die Bildung von Alzheimer-Plaques
verhindern soll. Man erzählt es schmunzelnd seiner
Frau. Und erschrickt. Auch wir in diesen Zeiten – wir
sind, wie wir sind.
s
Richard Altorfer
ARS MEDICI 7 | 2022
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