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BERICHT
Migräne
Diagnose wird zu selten gestellt
Migränesymptome können vielfältiger sein, als es die gängigen diagnostischen Kriterien vermuten lassen. Deshalb würden nach wie vor viele Migränediagnosen verpasst, sodass die Patienten nicht von den verfügbaren Medikamenten profitieren könnten, sagte Prof. Christoph Schankin an einer Onlinefortbildung am Inselspital in Bern. Als neue therapeutische Entwicklung zeichnet sich ein Ende der strikten Trennung zwischen Akut- und Prophylaxeanwendung bei CGRP-Antikörpern und Gepanten ab.
Die Diagnose Migräne scheint auf den ersten Blick keine allzu grosse Herausforderung zu sein, denn die diagnostischen Kriterien sind in der Internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen (ICHD-3) klar definiert (s. Kasten). In der Praxis würden jedoch viele Migränepatienten übersehen: «Noch immer wird Migräne häufig nicht diagnostiziert, sodass therapeutische Möglichkeiten ungenutzt bleiben», sagte Prof. Christoph Schankin, Leitender Arzt an der Universitätsklinik für Neurologie und Leiter der Kopfschmerzsprechstunde am Inselspital in Bern. In einer Studie auf der Notfallstation am Inselspital hat sein Team herausgefunden, dass rund die Hälfte der Notfall-Migränepatienten zuvor bereits Kopfschmerzattacken erlitten hatte, ohne dass die Diagnose Migräne gestellt wurde. Somit erfolgte bei ihnen auch keine medikamentöse Migränetherapie. Ob diese Therapie die Patienten vor dem Notfall möglicherweise hätte bewahren können, sei zwar eine offene Frage, aber man dürfe die Diagnose Migräne angesichts der therapeutischen Möglichkeiten nicht verpassen, so Schankin.
Nicht jedes Kriterium muss erfüllt sein
Migränesymptome können vielfältiger sein, als es die ICHD-3-Kriterien vermuten lassen. So kann ein Migränepatient auch bilaterale Kopfschmerzen haben, die dumpf drückend oder nicht so gravierend sind, und nicht immer sind die Betroffenen besonders licht- oder lärmempfindlich. Es kann also auch Migräne sein, wenn nicht alle diagnostischen Kri-
KURZ & BÜNDIG
� Migräne wird häufig nicht diagnostiziert, sodass therapeutische Möglichkeiten ungenutzt bleiben.
� Bis anhin werden Substanzen entweder zur Akut- oder zur Basistherapie bei Migräne verwendet.
� Die Grenze zwischen Akut- und Basistherapie beginnt sich für CGRP-Antikörper und Gepante aufzulösen.
Diagnostische Kriterien der Migräne
A. Mindestens 5 Attacken, welche die Kriterien B bis D erfüllen.
B. Kopfschmerzattacken, die (unbehandelt oder erfolglos behandelt) 4 bis 72 Stunden anhalten.
C. Der Kopfschmerz weist mindestens 2 der folgenden 4 Charakteristika auf:
1. einseitige Lokalisation 2. pulsierender Charakter 3. mittlere oder starke Schmerzintensität 4. Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten
(z. B. Gehen oder Treppensteigen) führt zu deren Vermeidung D. Während des Kopfschmerzes besteht mindestens eines der beiden folgenden Phänomene: 1. Übelkeit und/oder Erbrechen 2. Photophobie und Phonophobie E. Der Kopfschmerz wird durch eine andere ICHD-3-Diagnose nicht besser erklärt.
Quelle: ICHD-3: Internationale Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen, 3. Auflage. https://ichd-3.org/de/
terien erfüllt sind oder die Symptomatik auf den ersten Blick nicht nach Migräne aussieht. Die ICHD-3 definiert deshalb auch die Diagnose «wahrscheinliche Migräne». Sie kommt infrage, wenn alles eigentlich für eine Migräne spricht, aber eines der Kriterien B, C oder D nicht erfüllt ist.
Paradigmenwechsel in Sicht
Bis anhin galt eine klare Abgrenzung bezüglich der Medikamente zur Behandlung der akuten Migräneattacke und der Medikamente zur Langzeitprophylaxe. Hier bahnt sich eine Veränderung bei den neuen Medikamentenklassen an, welche die Wirkung des Neuropeptids CGRP (calcitonin generelated peptide) beeinflussen – die Gepante und die Antikörper gegen CGRP beziehungsweise seinen Rezeptor. Die
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Grenze zwischen Akut- und Basistherapie scheint hier zu verschwimmen. Zur Prophylaxe zugelassen sind in der Schweiz die Antikörper Galcanezumab (Emgality®), Erenumab (Aimvoig®), Fremanezumab (Ajovy®) und Eptinezumab (Vyepti®), wobei Eptinezumab der einzige CGRP-Antikörper ist, der i. v. und nicht subkutan gegeben wird. In einer Studie wurde Eptinezumab als Akutmedikament getestet. Die Wirksamkeit lag im Bereich derjenigen der Gepante als Akutmedikation (1). Eventuell eröffne sich hier künftig eine Möglichkeit zum Einsatz im Status migraenosus (Migräneattacken, die länger als 72 Stunden andauern), wobei dazu bisher keine Zulassung vorliege, sagte Schankin. Gepante sind kleine Moleküle, die den CGRP-Rezeptor blockieren. Man hatte sich von diesen Substanzen viel für die Akuttherapie versprochen. Die Entwicklung entsprechender Medikamente scheiterte Ende der 2000er-Jahre an der leberschädigenden Nebenwirkung der ersten Gepante. Doch «Totgesagte leben bekanntlich länger, und die Gepante sind zurück», berichtete der Referent. In den USA wurden in den letzten Jahren mehrere Gepante zur Migränetherapie zugelassen. Manche werden mittlerweile nicht nur zur Akuttherapie, sondern auch zur Prophylaxe von Migräneattacken eingesetzt. Ihr prophylaktischer Effekt ist etwas geringer als derjenige von Erenumab, einem CGRP-Rezeptor-Antikörper. Im Vergleich mit Plazebo erwirkt Erenumab 2 Migränetage pro Monat weniger (2), bei Atogepant sind es 1,3 Tage (3) und bei Rimegepant 0,8 Tage weniger (4).
In der Schweiz sind noch keine Gepante auf dem Markt. Ihr
klinischer Nutzen wird kontrovers diskutiert (5). Der thera-
peutische Gewinn von Gepanten gegenüber Plazebo liege in
der Akutbehandlung bei etwa 10 Prozent, während es bei den
Triptanen 20 bis 25 Prozent seien. Die Gepante befänden sich
demnach bei der Wirksamkeit in der akuten Migräneattacke
im gleichen Bereich wie Paracetamol: «Man wird in Zukunft
sehen, ob Gepante wirklich Game-Changer sind», sagte
Schankin.
s
Renate Bonifer
Referat «Syndrom Kopfschmerz» von Prof. Christoph Schankin am Symposium «Neurologie für praktizierende Ärztinnen und Ärzte», 20. Januar 2022, Inselspital Bern.
Literatur: 1. Winner PK et al.: Effects of Intravenous Eptinezumab vs Placebo on Hea-
dache Pain and Most Bothersome Symptom When Initiated During a Migraine Attack: A Randomized Clinical Trial. JAMA. 2021;325(23):23482356. 2. Goadsby PJ et al.: A Controlled Trial of Erenumab for Episodic Migraine. N Engl J Med. 2017;377(22):2123-2132. 3. Goadsby PJ et al.: Safety, tolerability, and efficacy of orally administered atogepant for the prevention of episodic migraine in adults: a doubleblind, randomised phase 2b/3. Lancet Neurol. 2020;19(9):727-737. 4. Croop R et al.: Oral rimegepant for preventive treatment of migraine: a phase 2/3, randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet. 2021;397(10268):51-60. 5. Tfelt-Hansen P, Loder E: The Emperor’s New Gepants: Are the Effects of the New Oral CGRP Antagonists Clinically Meaningful? Headache. 2019;59(1):113-117.
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