Transkript
BERICHT
Therapie von Angsterkrankungen
Neue Behandlungsempfehlungen der SGAD
Für die häufigsten psychiatrischen Angsterkrankungen hat die Schweizer Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) die Therapieempfehlungen überarbeitet und neu aufgelegt. Dr. Joe Hättenschwiler, Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung, Zürich, und Vorstandsmitglied der SGAD, hat anlässlich des virtuellen FOMF-Expertenforums Psychiatrie & Psychotherapie Update erklärt, was sich geändert hat.
Angststörungen gehören zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen. Die 12-Monats-Prävalenzen liegen bei 9,7 Prozent für Männer und 22,6 Prozent für Frauen. Nur etwa ein Viertel der Patienten remittiert vollständig, wie eine Untersuchung zeigte (1). Angststörungen können chronifizieren. Als klinische Prädiktoren dafür gelten häufige Panikattacken oder erhöhte Angstwahrnehmung, Persönlichkeitsstörungen und das Aufsuchen eines Arztes für eine Therapie in den letzten 12 Monaten. Psychologische Prädiktoren sind ein verstärktes Vermeidungsverhalten, weniger Extraversion und eine höhere Angstsensitivität (2).
Mögliche Ursachen
Gemäss dem Stress-Vulnerabilitäts-Modell bestehen Angsterkrankungen aus einem komplexen Wechselspiel von genetisch bedingter Vulnerabilität, die sich in neurobiologischen Gehirnveränderungen äussert, und aus psychosozialen Faktoren. Epigenetische Faktoren entschieden aber letztlich darüber, ob ein Risiko zu einer Verschlechterung führe oder aufgefangen werden könne (3), so Hättenschwiler. Inwieweit Störungen des Darmmikrobioms Angsterkrankungen und Depression begünstigen können, ist noch unklar. Schlaf dagegen beeinflusst das Angstempfinden massgeblich. Eine Untersuchung zeigte, dass Patienten mit Schlafdeprivation, verglichen mit Patienten mit einem erholsamen Schlaf, am nächsten Tag gemäss dem Anxiety-Score signifikant mehr Angst hatten als zuvor (4).
Andere Einteilung
Die Behandlung von Angsterkrankungen wurde mit den neuen SGAD-Empfehlungen 2022 überarbeitet. Während Angststörungen in der ICD-10 und im DSM-IV eine grosse Familie (F4) waren, sind im DSM-V und in der ICD-11 Angststörungen, Zwangsstörungen sowie Trauma- und belastungsbezogene Störungen nun aufgetrennt. In der Gruppe der Angststörungen mit Panik (Panikstörung, Agoraphobie, Panikattacken), Phobien und sozialer Angststörung (vormals soziale Phobie) sind neu auch Störungen mit Trennungsangst und selektiver Mutismus integriert. Neben einer sorgfältigen Anamnese soll bei Angstpatienten eine somatische Untersuchung durchgeführt werden. Dazu gehören Blutbild, Blutzu-
cker, Leberwerte, Elektrolyte (Kalzium, Kalium), Schilddrüsenwerte, EKG und eventuell Lungenfunktion, eine kranielle Bildgebung oder ein EEG. Eine Metaanalyse zeigte beispielsweise, dass in Studien mit Patienten mit Angststörung überdurchschnittlich häufig eine Autoimmunthyreoiditis vorlag, damit scheint eine Autoimmunthyreoiditis einer Angststörung Vorschub zu leisten (5). An Drogenkonsum oder Medikamentenmissbrauch muss ebenfalls gedacht werden.
Neue Therapieempfehlungen der SGAD
Die Behandlung von Angststörungen stützt sich auf 4 Grundpfeiler: 1. Aufklärung über Selbsthilfe und Patientenorganisationen 2. Psychotherapie 3. Pharmakotherapie 4. allgemeine Massnahmen wie Lebensstil, Sport, Stress-
reduktion, Psychoedukation und Achtsamkeit. In der Psychotherapie sind bei Angsterkrankungen psychoanalytisch orientierte Behandlungen, verhaltenstherapeutische Verfahren oder die systemische Therapie im Einsatz. Neu in die Behandlungsempfehlungen der SGAD wurde die virtuelle-Realität-Exposition (virtual reality therapy, VRT) bei spezifischer und sozialer Phobie als Begleitung zu einer Standardpsychotherapie aufgenommen. Für Panikstörungen ist die VRT laut Hättenschwiler jedoch ungeeignet. Ebenfalls empfohlen sind Internetinterventionen zur Überbrückung bis zum Therapiebeginn oder als begleitende Massnahme im Sinn einer Anleitung zur Selbsthilfe, aber nicht als alleinige Therapiemassnahme. Die systemische Therapie kann des Weiteren angewendet werden, wenn die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) oder die psychodynamische Psychotherapie nicht verfügbar oder nicht wirksam waren oder wenn der Patient dies wünscht.
Neuaufnahmen in der Pharmakotherapie
Die Pharmakotherapie kommt bei mittelschwerer bis schwerer Beeinträchtigung zum Einsatz, wenn die Psychotherapie (1. Wahl: KVT) allein nicht ausreichend ist. In der Akutphase sind Benzodiazepine laut Hättenschwiler sehr hilfreich und die einzigen Medikamente, die zuverlässig anxiolytisch wirken. Sie sollten aber so kurz wie möglich eingesetzt werden.
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Tabelle:
Pharmakotherapie bei Angststörung nach SGAD-Empfehlung 2022
Diagnose
Substanzklasse
Beispiele
Empfohlene
Tagesdosis
Panikstörung und Agoraphobie
Bei starker akuter Angst (Panikattacken) Benzodiazepine
Lorazepam
1–2,5 mg
Erhaltungstherapie
SSRI
Citalopram
20–40 mg
Escitalopram 10–20 mg
Paroxetin
20–40 mg
Sertralin
50–200 mg
SSNRI
Venlafaxin
75–225 mg
TZA (wenn SSRI oder SSNRI unwirksam
Clomipramin 75–250 mg
oder unverträglich)
Generalisierte Angststörung
SSRI
Escitalopram 10–20 mg
Paroxetin
20–50 mg
SSNRI
Duloxetin
60–120 mg
Venlafaxin
75–225 mg
Kalziummodulator
Pregabalin
150–600 mg
TZA (wenn SSRI, SSNRI oder Kalzium-
Opipramol
50–300 mg
modulator unwirksam oder unverträglich)
Soziale Phobie
SSRI
Escitalopram 10–20 mg
Paroxetin
20–50 mg
Sertralin
25–200 mg
Venlafaxin
75–225 mg
RIMA (wenn andere Behandlungsmöglich- Moclobemid 300–600 mg
keiten unwirksam oder unverträglich)
Abkürzungen: SSRI: selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer, SSNRI: selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer, TZA: trizyklische Antidepressiva, RIMA: reversibler Inhibitor der Monoaminoxidase A Quelle: J. Hättenschwiler, FOMF-WebUp Psychiatrie & Psychologie, 16.12.21
Behandlungsempfehlungen Angststörungen 2022
Psychotherapie oder Pharmakotherapie oder Kombination
▲ Psychotherapie:
1. Wahl: kognitive Verhaltenstherapie
2. Wahl: psychodynamische Therapie,
wenn kognitive Verhaltenstherapie
unwirksam, nicht verfügbar oder bei
Patientenwunsch
▲ Pharmakotherapie: 1. Wahl: SSRI, SNRI
2. Wahl: Pregabalin (GAD), Clomipramin
(Panikstörung)
Benzodiazepine in Ausnahmefällen
Abkürzungen: SSRI: selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer, SNRI: Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer, GAD: generalisierte Angststörung Quelle: J. Hättenschwiler, FOMF-WebUp Psychiatrie & Psychologie, 16.12.21
Für die mittel- bis langfristige Behandlung von Angststörungen kommen Antidepressiva zum Einsatz, sie wirken unabhängig von antidepressiven Effekten anxiolytisch. 1.Wahl dabei sind Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (SSRI) sowie neuere Antidepressiva. Gegenüber Benzodiazepinen haben sie einen verzögerten Wirkeintritt und müssen, beginnend mit sehr tiefen Dosierungen, langsam aufdosiert werden (Tabelle), um keine Nebenwirkungen zu induzieren. In den
SGAD-Empfehlungen wird zu Medikamenten mit hohen Effektstärken geraten, dazu gehören die SSRI Escitalopram (10–20 mg/Tag) und Paroxetin (20–50 mg/Tag), der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI) Venlafaxin (75–225 mg/Tag) und neu der Kalziummodulator Pregabalin (150–600 mg). SSRI und SNRI können zu Beginn der Therapie zu Unruhe, Schlafstörungen und Übelkeit sowie zu anderen Nebenwirkungen führen. Nach Erreichen der Remission folgt eine Erhaltungstherapie während 12 bis 24 Monaten in der Dosierung, die zur Remission geführt hat. Bei Beendigung der Therapie muss das jeweilige Präparat langsam (6 bis 12 Monate) ausgeschlichen werden, um ein Absetzsyndrom (antidepressant discontinuation syndrome, ADS) zu vermeiden. Dieses kann sich mit grippeähnlichen Symptomen, Insomnie, Nausea, Gleichgewichtsstörungen, Schwindel, Sensibilitätsstörungen, Ängstlichkeit, Agitation oder Reizbarkeit äussern. Wenn die Therapie nicht anspricht, sollten die Indikation und allfällige Komorbiditäten überprüft werden, bevor die Therapie mit Dosiserhöhungen oder Umstellungen verändert wird. Die Therapie kann, ausgehend von einem SSRI, auf einen anderen SSRI, einen SNRI oder auf Pregabalin umgestellt werden, das auch umgekehrt. Weitere Möglichkeiten sind die Umstellung auf ein Medikament der 2. Wahl (trizyklische Antidepressiva, Opipramol, Hydroxin, Moclobemid, Benzodiazepine) oder die Umstellung auf Quetiapin (off-
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label) oder Agomelatin (off-label) oder auf eine Add-on-Strategie (z. B. plus Pregabalin).
Phytotherapie empfohlen
In die Behandlungsempfehlungen für Angststörungen wurden neu auch phytotherapeutische Therapien aufgenommen. Diese stossen bei den Patienten auf hohe Akzeptanz. Aufgenommen wurde der Lavendelölextrakt Silexan (Laitea®), der in verschiedenen randomisierten, kontrollierten Studien bei Unruhezuständen, ängstlicher Verstimmung versus Plazebo und bei generalisierter Angststörung versus Paroxetin und Lorazepam eine gute Wirkung belegen konnte. Des Weiteren wurde der Pflanzenextrakt Ze185 (Relaxane®), bestehend aus Extrakten von Pestwurz, Baldrian, Passionsblume und Melisse, aufgenommen, der in einer Studie bei psychovegetativen Störungen versus Oxazepam einen günstigen Effekt gezeigt hat. Für Johanniskraut, Baldrian, homöopathische Präparate und Cannabidiol (CBD) dagegen gibt es für diese Indikation nicht genügend Evidenz. Kava-Kava-Extrakte wirken gut, sind aber hepatotoxisch. Andere Medikamente
wie beispielsweise Betablocker eignen sich für kurzfristige
Einsätze wie Lampenfieber mit vegetativen Symptomen (Pro-
pranolol 10–20 mg), aber nicht als Basisbehandlung bei
Angststörungen.
s
Valérie Herzog
Quelle: FOMF Psychiatrie & Psychologie Update Refresher, 1. bis 4. Dezember, Zürich
Referenzen: 1. Solis EC et al.: The 9-year clinical course of depressive and anxiety disor-
ders: New NESDA findings. J Affect Disord. 2021;295:1269-1279. 2. Hovenkamp-Hermelink JHM et al.: Predictors of persistence of anxiety
disorders across the lifespan: a systematic review. Lancet Psychiatry. 2021;8(5):428-443. 3. Ziegler C et al.: Patho- und Therapieepigenetik psychischer Erkrankungen (Patho- and therapyepigenetics of mental disorders). Nervenarzt. 2018;89(11):1303-1314. 4. Ben Simon E et al.: Overanxious and underslept. Nat Hum Behav. 2020;4(1):100-110. 5. Siegmann EM et al.: Association of Depression and Anxiety Disorders With Autoimmune Thyroiditis: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Psychiatry. 2018;75(6):577-584.
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