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Fahrtauglichkeit im Alter
Wen sollten Sie melden?
BERICHT
Foto: zVg
Autofahren ist eine ewige Leidenschaft und Ausdruck für persönliche Mobilität. Ein Entzug der Fahrerlaubnis ist für die Betroffenen deshalb ein äusserst dramatischer Eingriff in ihre persönliche Freiheit. Was vorher dazu abgeklärt und getestet werden muss, erklärte Dr. Irene Bopp-Kistler, Stadtspital Zürich und Medix-Gruppenpraxis, am FOMF Innere Medizin Update Refresher in Zürich.
Das Thema Fahrtauglichkeit (auch Fahreig-
nung) im Alter kann sehr viele Emotionen aus-
lösen, wird das Autofahren doch als persönli-
ches Freiheitsrecht empfunden. Die Fahrtaug-
lichkeit kann bei einer Demenzerkrankung
stark vermindert sein. Die Fahrtüchtigkeit
(auch Fahrfähigkeit) dagegen kann vorüberge-
hend eingeschränkt sein, beispielsweise infolge
Alkoholeinfluss oder aufgrund eines verschrie-
Dr. Irene Bopp-Kistler
benen Medikaments (z. B. Mirtazapin), das abends eingenommen wird, weshalb der Pati-
ent am Vormittag jeweils kein Fahrzeug lenken
sollte. Der Hinweis an den Patienten muss in der Kranken-
geschichte unbedingt dokumentiert werden, mahnt Alters-
medizinerin Bopp-Kistler.
Wann ist der Patient nicht mehr fahrtauglich?
Oft ist eine Verschlechterung beim Autofahren eines der ersten Zeichen einer Demenzerkrankung. Denn zum Lenken eines Fahrzeugs braucht es eine komplexe Aufmerksamkeit, Exekutivfunktionen beispielsweise für das Planen und für vorausschauendes Denken, und es braucht eine komplexe motorische Fähigkeit. Bei einer Demenzerkrankung sind gemäss DSM-5 6 Bereiche beeinträchtigt, wovon die vorgenannten 3 Bereiche zum Autofahren benötigt werden. Mit einer Demenzerkrankung kann ein Betroffener aber trotzdem noch in der Lage sein, das Auto bedienen und manövrieren zu können, wie zum Beispiel gut zu parkieren. Die Fahrfertigkeit ist in diesem Fall noch nicht eingeschränkt. Denn das prozedurale Gedächtnis für Erlerntes stellt eine
Begriffe
▲ Fahreignung (Fahrtauglichkeit): allgemeine, zeitlich nicht umschriebene und nicht ereignisbezogene Eignung zum sicheren Führen eines Fahrzeugs.
▲ Fahrfähigkeit (Fahrtüchtigkeit): ereignisbezogene und zeitlich begrenzte Fähigkeit, ein Fahrzeug sicher zu führen.
▲ Fahrfertigkeit: technische Fertigkeit zum Führen eines Fahrzeugs.
grosse Ressource dar, aus der ein Demenzpatient lange schöpfen kann. Am Steuer kann sich eine Demenzerkrankung durch eine schlechte Urteilsfähigkeit und durch eine falsche Einschätzung von Distanz und Geschwindigkeit äussern. Zudem kann es solchen Autolenkern passieren, dass sie in eigentlich bekannter Umgebung verloren gehen oder im Kreisel in die falsche Richtung fahren, wie eine Literaturanalyse zeigte (1). Menschen mit Demenz fahren zu langsam oder zu schnell, haben Mühe, die Spur zu halten, sind an Lichtsignalen und Kreuzungen überfordert und bremsen unerwartet, berichtet Bopp-Kistler. Mag im Anfangsstadium der Erkrankung die Fahrweise zwar noch sicher wirken, können veränderte Gegebenheiten wie zum Beispiel bei Baustellen jedoch schnell zu einer kompletten Überforderung führen. Auch wenn Patienten mit Demenz ihre Autofahrten einschränken und beispielsweise nicht mehr nachts oder zu Stosszeiten und nur noch in bekannter Umgebung fahren, ist die Unfallgefahr durch ihre Fahrweise erhöht.
Meldung ja oder nein?
Jeder Arzt kann Personen melden, die er für nicht mehr fahrtauglich hält, ohne sich vom Berufsgeheimnis entbinden zu müssen. Eine Meldepflicht besteht jedoch nicht, wohl aber eine Sorgfaltspflicht. Deshalb sei es ratsam, die Entscheidung, den Patienten noch nicht zu melden, und den Grund dafür in der Krankengeschichte zu dokumentieren, so BoppKistler. Fahrzeuglenker ab einem Alter von 75 Jahren benötigen alle 2 Jahre eine Kontrolluntersuchung. Bei Vorliegen einer kognitiven Störung wird der Patient in der Folge zur Überprüfung der Fahrtauglichkeit aufgeboten. Fällt eine Hirnleistungsstörung jedoch schon vor diesem Alter auf, kann der Arzt beim Strassenverkehrsamt des Wohnkantons des Patienten um einen vorsorglichen Fahrausweisentzug ansuchen. Das Anliegen muss begründet sein (z. B. Hirnleistungsstörung), und es muss den Dringlichkeitsgrad enthalten. In Verbindung mit dem Fahrausweisentzug erfolgt dann von Amtes wegen eine Überprüfung der Fahrtauglichkeit. Das Dilemma in der Hausarztpraxis ist jedoch gross, denn es ist ein Konflikt zwischen der ärztlichen Beziehung und dem
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en. Die Canadian Medical Associa- Tab. 2: Risikoeinschätzung für die Beurteilung der medizinischen Mindestanforderungen bei 69] (http://www.cma.ca/index.php/ beginnender Demenz.
18223/la_id/1.htm) und die Ame-
Risikoeinschätzung
Medical Association [11] (http:// ama-assn.org/ama/pub/physicianrces/public-health/promoting-healfestyles/geriatric-health/older-driver/assessing-counseling-older-drivers. haben umfangreiche Handbücher e Beurteilung der Fahreignung entlt. In diesen sind auch Vorschläge erkehrsanamnese enthalten und in en wenigen Memory Clinics in der
Anamnese Polizeikontrollen, Verkehrsbussen, Unfälle (letzte 2 Jahre) .................... Beifahrer fühlt sich unsicher .......................................................................... Vermeidungsstrategien – Einschränkung Fahrleistung ..........................
klein
Clinical Dementia Rating (CDR) CDR: 0,5 ................................................................................................................ CDR: 1,0................................................................................................................. CDR: Ͼ1,0 .............................................................................................................
X
Alltagsaktivitäten Leichte Beeinträchtigung IADL ...................................................................... Beeinträchtigung BADL ...................................................................................
mittel X X X
X
X
hoch
X X
eiz werden Übersetzungen verwen- Mini Mentalstatus
utofahren kann zum Konfliktthema MMSE Ͼ24 .......................................................................................................... X
hen Patienten und Angehörigen MMSE 22–24 .......................................................................................................
X
en, vor allem wenn die Krankheits- MMSE Յ21 ...........................................................................................................
X
ht fehlt. Angehörige können bei Trail Making B Test
Einschätzungen aus Mitgefühl Scheu vor Konflikten befangen sein.
Testwert Ͻ180 s ................................................................................................. Testwert Ͼ180–200 s ....................................................................................... Testwert Ͼ300 (d.h. nicht mehr durchführbar).........................................
X
X
X
nd von der Einschränkung der Mot mitbetroffen und müssen deshalb
Sehen Fernvisus Ͼ0,6; Gesichtsfeld Ͼ140 Grad; keine Doppelbilder,
immer möglich entlastet werden.
kein Neglekt ..................................................................................................... X
Alzheimervereinigung hat eine hilf- Fernvisus Ͻ0,6 ...................................................................................................
X
e Informationsbroschüre für Patiennd Angehörige erarbeitet, die im einfach zugänglich ist (Publikation: ahren und Demenz; ©2010 Schweihe Alzheimervereinigung http:// alz.ch/d/html/publikationen.html)
Gesichtsfeld Ͻ140 Grad ................................................................................... Doppelbilder ....................................................................................................... Hemispatialer Neglect .....................................................................................
HWS-Beweglichkeit Kopfdrehen Ͼ45 Grad ...................................................................................... Kopfdrehen Ͻ45 Grad ......................................................................................
Demenzätiologie und Schweregrad
X
X X X
X
Sehr leichte Alzheimer-Demenz (CDR 0,5; MMSE Ն24, Trail B Ͻ180) ...... X
omato- und Neurostatus in der Leichte Alzheimer-Demenz (CDR 1, MMSE Ն24, Trail B Ͻ180) ...............
X
ory Clinic sind in der Regel nahezu Befunde für eine komplette vermedizinische Beurteilung vorhanDie Ausnahmen sind die Prüfung ehens und die Prüfung der Halslsäulenbeweglichkeit. Bei Letzterer
auf eine genügende Auslenkung Augenebene (rascher Seitenblick estens 45 Grad beidseits) geachtet
Frontotemporale Degeneration (Verhaltensvariante) ............................. Lewy Körperchen-Demenz (MMSE Ն24, Trail B Ͻ180) ............................. Parkinson-Demenz (MMSE Ն24, Trail B Ͻ180) ..........................................
+ zusätzliche demenzassoziierte Komorbiditäten Impulsiv, aggressiv (z.B. neuropsychiatrisches Interview) ...................... Fehlende Krankheitseinsicht .......................................................................... Tagesschläfrigkeit (Epworth Fragebogen Ն12) .........................................
+ andere verkehrsrelevante Komorbiditäten Psychotrope Substanzen (ICADTS Stufe Ն2) (Dauertherapie) ............... Polypharmazie mit psychotropen Substanzen (Dauertherapie) ..........
X X X
X X X
X X
en. Das Sehen wird in der Memory c oft nur marginal untersucht. Desbraucht es Ergänzungen, die selbst
in Zusammenarbeit mit einem halmologen durchgeführt werden
Hinweise auf Suchterkrankung (Benzodiazepine, Alkohol) ................... Diabetes mellitus mit körperlichen Spätfolgen*....................................... Diabetes mellitus mit Hypoglykämie* ......................................................... Epilepsie (asymptomatisch Ͻ12 Monate)** ................................................ Synkope (asymptomatisch Ͻ6 Monate) ..................................................... Zerebrovaskulärer Insult Ͻ6 Monate ..........................................................
X X X
X X X
en. Bei der n müssen die
Untersuchung der Augenb*eswieeheguRinchgtelinnien
* siehe Richtlinien der Schweizerischen der*S*chswieehizeerRisicchhetnlinGieesnelldsechraSfcthfüwr eDiizaebreitsoclhogeine
Gesellschaft für Diabetologie Liga gegen Epilepsie
chluss Doppelbilder u**nsdieheBRilcihctkli-nien der Schweizerischen Liga gegen Epilepsie
eonn)tatuivnedTedsatus nGg eusnicdhdtseQfreuFledleler:nd(3vu)imrscuithsfreunPbSdlaieiectnhiseeBonreltGlrteeeennincemhhnmiimtcihhgutuosnzhsgueddrnauKsRrockihnsuitdkmrieonulHllfeoaagrthfrivüerfetlelezRAuniGsgdiekioelambsseeeudnritzweinielitrsdwcehener.ndBeMeniiPnuadntediesMtnatönegfnolimrcdhietkreRuiintsegikneenznui.irdmM.Rm.inniiitmcthleiterrmeunen,hggre. l-
igiert und unkorrigiert)Vuenrtaenrtwopotrit-ungsdbeerwRuissisktesenindudrcehs TAhrezrtaeps.ieBgeeipdreürftBweseträdteignu. Anlglenfarllusnkgaennn meinitebKeodneturotsllafmaherrt BKleaerihnetirtäscchhtaigffuenng. von Bewusstsein,
der Fahreignung erachtet es Bopp-Kistler jedoch als notwen- Orientierung, Gedächtnis, Denk- und Reaktionsvermögen
dig, ein Demenzscreening durchzuführen.
oder andere Hirnleistungsstörungen vorliegen (2), das heisst
keine Beeinträchtigung von verkehrsrelevanten Leistungsre-
Worauf kommt es an?
serven. Mittels MMSE (Mini-Mental-Status-Test), Uhrentest
Gemäss der Verkehrszulassungsverordnung von 2016 dürfen und Trail-Making-Test B kann eine Kurzevaluation von be-
keine Krankheiten oder organisch bedingte psychische Stö- stimmten kognitiven Funktionen erfolgen. Bei schlechtem
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Red Flags für Fahrtauglichkeit
▲ CDR > 1 (mehr als leichte Demenz) ▲ MMSE < 22 ▲ pathologische MMS-Figur ▲ pathologischer Uhrentest ▲ Patienten und/oder Angehörige fühlen sich nicht mehr sicher ▲ Selbstständigkeit in mehreren instrumentierten Aktivitäten des
Alltags beeinträchtigt ▲ Selbstständigkeit in einer basalen Aktivität beeinträchtigt ▲ keine Krankheitseinsicht ▲ aggressives Verhalten
Abschneiden im MMSE (< 25 Punkte) und im Uhrentest (5/7 Punkte) muss die Fahrtauglichkeit angezweifelt werden. Es empfiehlt sich eine geriatrische/neuropsychologische Abklärung. Liegt eine Demenz vor, kann anhand der ClinicalDementia-Rating-(CDR-)Skala deren Schweregrad (0 bis 3) eingeschätzt werden. Die CDR-Skala beurteilt Alltagsfunktionen in 6 Bereichen: Gedächtnis, Orientierung, Urteilsfähigkeit, Problemlösung, Leben in der Gemeinschaft, Haus und Hobbys sowie persönliche Sorge (z. B. Körperpflege). Während ein Wert auf der CDR-Skala von 0,5 eine sehr leichte Demenz anzeigt, steht ein Wert von 1 für eine leichte Demenz, ein Wert von 2 für eine mittelschwere und ein Wert von 3 für eine schwere Demenz. Ab dem Wert 1 ist das Risiko für eine rasche Verschlechterung der Fahrtauglichkeit erhöht (2). «Der Wert auf der CDR-Skala ist aber völlig unabhängig vom MMSE», betont die Demenzspezialistin. «Ein Wert im MMSE von 27 kann manchmal mit einem Wert auf der CDR-Skala von 2 einhergehen», gibt sie zu bedenken. Als Faustregel lassen sich die Schweregrade der Demenz gemäss Bopp-Kistler auch folgendermassen charakterisieren: Bei einer leichten Demenz sind die instrumentierten Fähigkeiten des Alltags beeinträchtigt. Dazu gehören beispielsweise Haushaltführung, Umgang mit den Finanzen, Kochen sowie die korrekte Einnahme von Medikamenten. Bei einer mittelschweren Demenz sind basale Aktivitäten des Alltags beeinträchtigt, wie zum Beispiel die Nahrungsaufnahme oder das Ankleiden. Bei einer schweren Demenz ist der Patient vollständig auf Hilfe angewiesen. «Wenn jemand bei den basalen Alltagsaktivitäten wie Ankleiden Hilfe braucht, dann kann diese Person wirklich nicht mehr Auto fahren», so Bopp-Kistler. Zweifel an der Fahrtauglichkeit sind ebenfalls angebracht, wenn der Patient beim Trail-Making-Test B sehr lang braucht oder es nicht schafft, die Zahlen und Buchstaben in der richtigen Reihen-
folge zu verbinden. Bei Ersterem ist eine Reaktionsfähigkeit im Verkehr vermutlich nicht mehr gegeben, bei Letzterem sind die geteilte Aufmerksamkeit und das planerische Verhalten beeinträchtigt. Auch der Uhrentest gibt Hinweise, damit werden die Planung und die Wahrnehmung im Raum geprüft. Aufgrund von Ereignissen und Testergebnissen kann abgeschätzt werden, ob eine Fahrtauglichkeit noch attestiert werden soll oder ob weitere Abklärungen sinnvoll erscheinen (Tabelle). Bei Patienten mit einer frontotemporalen Demenz fehlt die Impulskontrolle – meist ist ein Imponiergehabe ein Zeichen dafür, so Bopp-Kistler. Die Anamnese zur Kognition und zur Alltagsaktivität sei sehr wichtig, fasst die Referentin zusammen. Weitere Hinweise wie auffälliges Fahrverhalten (Fremdanamnese, Polizei), vermehrte Unfälle oder Blechschäden, aggressives Verhalten sowie ein selbst geschildertes Vermeidungsverhalten müssen in Richtung Fahruntauglichkeit denken lassen. Aber auch Patienten ohne Demenz können fahruntauglich werden. «Komorbidität kann mindestens so einschränkend sein wie die Kognition», betont Bopp-Kistler. Beispielsweise bei Synkopen, deren Ursache bei alten Menschen oft nicht ganz klar ist. Auch Diabetes und Epilepsien können bei alten Patienten diesbezüglich zu Problemen führen, ebenso wie neu verordnete Medikamente.
Wie sag ich̕s dem Patienten?
Bestehen Zweifel an der Fahrtauglichkeit des Patienten, sollte offen über diese Bedenken gesprochen werden, rät die Geriaterin. Die rechtliche Situation soll erklärt werden und auf die reduzierte Sicherheit der Patienten und der Umwelt hingewiesen werden. Um die Situation einfacher zu gestalten, kann die Komorbidität hervorgehoben werden, denn es ist für die Betroffenen viel einfacher, den Fahrausweis wegen Diabetes abzugeben als wegen Demenz, so ihre Erfahrung. Besteht jedoch keine Krankheitseinsicht, bleibt im äussersten Fall keine andere Möglichkeit als die Konfiskation des Autoschlüssels. Zum Beispiel bei demenzerkrankten Menschen, die trotz Fahrausweisentzug noch immer Auto fahren. s
Valérie Herzog
Quelle: «Fahreignung», FOMF Innere Medizin, 1. bis 5. Dezember 2021 in Zürich.
Referenzen: 1. Breen DA et al.: Driving and dementia. BMJ. 2007;334(7608):1365-1369. 2. De Francesco T et al.: Fahreignungsabklärung zur Verlängerung des Füh-
rerausweises. Swiss Medical Forum 2017; 17(07):155-160. 3. Mosimann UP et al:. Konsensusempfehlungen zur Beurteilung der medi-
zinischen Mindestanforderungen für Fahreignung bei kognitiver Beeinträchtigung. Praxis (Bern 1994). 2012;101(7):451-464.
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