Transkript
BERICHT
Alzheimer-Demenz
Keine überzeugende Therapie in Sicht?
Die umstrittene Zulassung von Aducanumab gegen Alzheimer-Demenz in den USA und die Ablehnung der Zulassung durch die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) werfen einmal mehr ein Schlaglicht auf das nach wie vor ungelöste Problem, eine überzeugende Therapie für Alzheimer-Patienten zu finden. Fortschritte scheint es bei der Suche nach Verfahren zu geben, die eine einfachere Bestimmung potenzieller Demenzmarker erlauben.
Amyloidplaques im Gehirn gelten als eines der wesentlichen Anzeichen für eine Alzheimer-Demenz. Die Hoffnung, die Demenz durch die Beseitigung der Amyloidplaques zu stoppen, hat sich bis anhin nicht erfüllt. Viele Studien mit Substanzen, die sich gegen die Amyloidplaques richten, wurden vorzeitig gestoppt, weil sich die gewünschte antidemenzielle Wirkung nicht einstellte. Das gleiche Schicksal ereilte zunächst auch den Amyloidantikörper Aducanumab. Die beiden Phase-III-Studien EMERGE und ENGAGE wurden im März 2019 wegen mangelnder Erfolgsaussichten vorzeitig gestoppt. Im Oktober 2019 folgte die Kehrtwende: Nun verkündete der Hersteller, dass in der EMERGE-Studie beim primären Endpunkt der Studie (Clinical Dementia Rating – Sum of Boxes [CDR-SB]) in der Hochdosisgruppe doch ein statistisch signi-
Nebenwirkung ARIA
Unter ARIA (amyloid-related imaging abnormalities) versteht man abnorme Befunde in der Gehirnbildgebung, die aus Studien mit Alzheimer-Patienten, die Amyloidantikörper erhalten, bekannt sind. ARIA können sich als Ödeme (ARIA-E) oder Blutungen (ARIA-H) manifestieren. ARIA-E gehen nach Dosisverringerung oder Absetzen der Antikörper innert Wochen oder Monaten zurück, während ARIA-H als Hämosiderindepots dauerhaft sichtbar bleiben können. Personen mit dem Apolipoprotein-E-(ApoE-)Genotyp haben ein höheres ARIARisiko. Eine Sicherheitsanalyse der Studien EMERGE und ENGAGE ergab, dass ARIA mit Aducanumab bei 425 von 1029 Patienten auftraten (41,3%), darunter 14 schwere Fälle (1,4%). ARIA-H wurden bei 19,1 Prozent, eine ARIA in Form einer oberflächlichen Siderose bei 14,7 Prozent der Patienten mit Aducanumab diagnostiziert. ARIA-E war das häufigste unerwünschte Ereignis bei 362 von 1029 Patienten (35,2%) in der Hochdosisgruppe, wobei rund 1 von 4 der Betroffenen entsprechende Symptome entwickelte (z. B. Kopfschmerzen, Verwirrtheit, Schwindel, Übelkeit). In der Plazebogruppe sah man im MRT bei 2,7 Prozent der Patienten ARIA-E, symptomatisch war hier 1 von 10 der Betroffenen. Insgesamt wiesen 10,3 Prozent der Plazebopatienten ARIA auf.
Quelle: Salloway S et al.: Amyloid-Related Imaging Abnormalities in 2 Phase 3 Studies Evaluating Aducanumab in Patients With Early Alzheimer Disease. JAMA Neurol. 2022;79(1):13-21.
fikanter klinischer Vorteil für Aducanumab erkennbar sei, nachdem man weitere Patientendaten ausgewertet habe. Die Progression der Demenz sei in der Hochdosisgruppe im Vergleich mit Plazebo etwas langsamer gewesen. In der anderen Zulassungsstudie ENGAGE zeigte sich dieser Effekt nicht. Trotzdem reichte man den Zulassungsantrag bei der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA ein.
FDA-Zulassung trotz negativen Expertenvotums
Das zuständige externe, unabhängige Expertengremium empfahl der FDA im November 2020, die Zulassung abzulehnen, und zwar mit den Stimmen von 10 der 11 Gutachter, einer von ihnen enthielt sich. Umso überraschender war, dass die FDA am 7. Juni 2021 die Zulassung für Aducanumab (Aduhelm®) in den USA doch erteilte, und das obendrein für alle Alzheimer-Patienten, nicht nur für diejenigen Patientengruppen, die in den Phase-III-Studien untersucht wurden (leichte kognitive Beeinträchtigungen [MCI] oder leichte Demenz). Die FDA bediente sich dabei eines beschleunigten Zulassungsverfahrens, das in erster Linie für Onkologika gedacht ist. Hierbei reichen Surrogatmarker (z. B. ein schrumpfender Tumor) für die Zulassung aus, eine klinische Wirksamkeit (z. B. längere Überlebenszeit) muss dafür vorderhand nicht nachgewiesen werden. Für die FDA-Zulassung von Aducanumab genügte es somit, dass die Amyloidplaques gemäss Bildgebung zurückgingen, was für beide Phase-III-Studien zutraf. Die klinischen Endpunkte spielten keine Rolle. Als einzige Einschränkung forderte die FDA, dass innert 9 Jahren eine neue Studie mit Aducanumab vorgelegt werden müsse, um die klinische Wirksamkeit zu beweisen. Die European Medicines Agency (EMA) überzeugten die Studiendaten nicht. Sie lehnte am 17. Dezember 2021 die Zulassung von Aducanumab ab, weil kein ausreichender Wirksamkeitsnachweis vorhanden war. In der Schweiz steht der Entscheid noch aus; eingereicht wurde der Zulassungsantrag bei Swissmedic im April 2021.
Was sagen Neurologen zu dieser Zulassung?
Aus Protest gegen den FDA-Entscheid, Aducanumab entgegen dem fast einstimmigen Votum des Expertengremiums die Zulassung zu erteilen, traten drei Mitglieder des Gremiums zurück. Die FDA habe «wahrscheinlich die schlechteste Entscheidung über die Zulassung eines Medikaments in der jüngeren Geschichte der USA» getroffen, schrieb einer der drei,
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Prof. Aaron Kesselheim, Harvard University, in einem Brief an die FDA (1). Auch die Fachgesellschaft American Academy of Neurology (AAN) äussert sich in einem Positionspapier kritisch zur Zulassung von Aducanumab. Während man sich früher auf die FDA-Zulassung als Ausweis für die Sicherheit und Wirksamkeit eines Medikaments habe verlassen können, deuteten die FDA-Entscheide in jüngerer Zeit auf eine Senkung des für die Arzneimittelzulassung nötigen wissenschaftlichen Evidenzniveaus hin, so die AAN. Umso wichtiger sei nun eine umfassende Aufklärung der Patienten und ihrer Angehörigen zu diesem Medikament, sodass die Fachgesellschaft eine Checkliste mit den zu besprechenden Punkten erstellt hat (2). Es sei fraglich, ob der kleine statistische Vorteil bezüglich der Verlangsamung der Demenzprogression mit der hohen Dosis und in nur einer der beiden Zulassungsstudien klinisch relevant sei, so die AAN. Auch mit dem Antikörper schreite die Demenz weiter voran, im Vergleich mit Plazebo in dem Studienzeitraum von 18 Monaten mit einer Verzögerung von 4 Monaten. Bedenken meldet die AAN auch bezüglich der Nebenwirkungen (Hirnödeme und Mikroblutungen, sogenannte ARIA [s. Kasten]) und nicht zuletzt wegen der hohen Kosten an (2). Diese lagen zunächst bei 56 000 US-Dollar pro Jahr, worin die zusätzlichen Kosten für die notwendigen mehrfachen Magnetresonanztomografie-(MRT-)Untersuchungen noch nicht eingeschlossen sind. Seit Anfang 2022 verlangt der Hersteller in den USA nur noch die Hälfte des Preises (3). Aducanumab sei sicher nicht «der Heilige Gral» der AlzheimerTherapie, aber immerhin das erste neue Medikament, das seit 20 Jahren dafür zugelassen worden sei, sagte Prof. Jörg B. Schulz, Uniklinik RWTH Aachen, an der Onlinefortbildung NeuroLive (4). Nach seiner persönlichen Meinung müsste man es vermutlich viel länger als 18 Monate anwenden, um einen klinischen Erfolg zu sehen. Allerdings müsse man auch ganz klar sagen, dass diese Therapie nur erfolgreich sein werde, wenn man sie sehr früh gebe, bereits in der Prodromalphase der Alzheimer-Krankheit.
Einfachere Labortests schon bald verfügbar?
Um Patienten mit Alzheimer-Demenz möglichst früh, noch
vor den ersten klinischen Anzeichen, identifizieren zu kön-
nen, setzen Neurologen neben kognitiven Testverfahren in
der Labordiagnostik und Bildgebung auf die sogenannte
A-T-N-Strategie:
s A wie Amyloid: Quotient Aβ42/40 in der Zerebrospinal-
flüssigkeit oder Amyloidnachweis in der Positronenemis-
sionstomografie (PET)
s T wie Tau: phosphoryliertes Tauprotein (pTAU) in der
Zerebrospinalflüssigkeit oder pTAU-Nachweis im PET
(noch keine Routine)
s N wie Neurodegeneration: Gesamt-Tau in der Zerebro-
spinalflüssigkeit, MRT, FDG-PET (PET mit radioaktiv
markierter Fluordesoxyglukose).
Man suche weltweit nach Methoden, diese Marker auch im
Blut nachzuweisen, was bereits erstaunlich gut gelinge, so
Schulz. Testverfahren, für die eine einfache Blutprobe genü-
gen würde, seien in Europa aber noch nicht auf dem Markt.
Nur in den USA ist eine teure (mehrere Tausend Dollar)
spektroskopische Untersuchung von Blutplasma bereits kom-
merziell verfügbar. Der NeuroLive-Referent zeigte sich opti-
mistisch, was die Zukunft der Demenzmarkertests angeht:
«In sehr wenigen Jahren werden wir die Alzheimer-Pathologie
sensitiv und spezifisch im Blut nachweisen können.»
s
Renate Bonifer
Referenzen: 1. Walsh S et al.: Aducanumab for Alzheimer’s disease? BMJ. 2021;374:n1682. 2. Chiong W et al.: Decisions With Patients and Families Regarding Aduca-
numab in Alzheimer Disease, With Recommendations for Consent: AAN Position Statement (published online ahead of print, 2021 Nov 17). Neurology. 2021;10.1212/WNL.0000000000013053. 3. https://www.neurologylive.com/view/biogen-50-percent-dropaducanumab-price-feedback-costs, abgerufen am 11.2.2022. 4. Referat «Neurodegenerative Erkrankungen: Fokus Demenz» von Prof. Jörg B. Schulz, Aachen, an der Onlinefortbildung «NeuroLive» am 12. Januar 2022 auf www.streamed-up.com.
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