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BERICHT
Moderne Diabetestherapie
Wie wählen Sie das richtige Medikament?
Vor dem Hintergrund, dass zwei Drittel der Patienten mit Typ-2-Diabetes an einer kardiovaskulären Ursache versterben, ist es wichtig, dass der Fokus bei einer Diabetestherapie auf der Komorbidität liegt. Dabei ist eine frühe Kombinationstherapie sinnvoll. Nach welchen Kriterien die Wahl der Therapie getroffen werden soll und wie eine neue App dabei helfen kann, erklärte Prof. Roger Lehmann vom Universitätsspital Zürich am FOMF Innere Medizin Update Refresher in Zürch.
In der Schweiz leiden etwa 6,4 Prozent der Bevölkerung an Typ-2-Diabetes. Etwa ein Viertel hat gleichzeitig eine chronische Nierenerkrankung, ein Viertel bis die Hälfte eine koronare Herzkrankheit und ein weiteres Viertel eine Herzinsuffizienz. Gemäss den Guidelines der European Society of Cardiology (ESC) 2021 haben nur Patienten mit einer gut kontrollierten Diabeteserkrankung ohne Organschäden oder andere kardiovaskuläre Risikofaktoren und einer Diabetesdauer von < 10 Jahren ein mässiges kardiovaskuläres Risiko (1). Alle anderen, also praktisch alle Diabetespatienten, so Prof. Lehmann, haben ein grosses bis sehr grosses kardiovaskuläres Risiko. Deshalb muss man davon ausgehen, dass alle Typ-2-Diabetes-Patienten neben der Blutzuckerkontrolle auch eine Senkung ihres kardiovaskulären Risikos benötigen. Gemäss einer niederländischen Studie mit > 60-jährigen Hausarztpatienten mit Typ-2-Diabetes, aber ohne Symptome einer Herzinsuffizienz, entdeckte die Echokardiografie bei einem Viertel von ihnen eine Herzinsuffizienz mit erhaltener Auswurffraktion (HFpEF) (2).
Kardioprotektive Antidiabetika
In den vergangenen Jahren haben 2 Antidiabetikaklassen, SGLT2-Hemmer und GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP1-RA), in verschiedenen Studien für kardiovaskuläre Endpunkte einen Nutzen zeigen können. Inzwischen ist gemäss Lehmann klar, dass alle SGLT2-Hemmer die herzinsuffizienzbedingte Hospitalisierungsrate und manche zusätzlich das Risiko für 3-Punkt-MACE (nicht tödlicher Myokardinfarkt, nicht tödliche Apoplexie, kardiovaskulärer Tod) und für Gesamtmortalität senken. Im Unterschied zu SGLT2-
KURZ & BÜNDIG
� Diabetes möglichst früh diagnostizieren.
� Bei der Therapiewahl klinische Voraussetzungen, Arzt- und Patientenpräferenzen berücksichtigen.
� Möglichst früh oder von Beginn an mit einer Kombinationstherapie starten.
Hemmern senken GLP-1-RA das Hirnschlagrisiko und je nach Substanz weitere kardiovaskuläre Risiken (3-PunktMACE, kardiovaskulärer Tod, Gesamtmortalität). Einen renalen Schutz böten beide Substanzklassen nicht nur in der Sekundärprävention, sondern auch primärpräventiv (3), so Lehmann.
Wahl des Antidiabetikums
Um das geeignete Medikament für die Typ-2-Diabetes-Therapie auswählen zu können, ist die Abfrage der Patientenpräferenzen sehr wichtig, denn das erhöht die Compliance. Möchte der Patient kein Hypoglykämierisiko, eine Gewichtsabnahme und weniger Medikamente, kann ihm eine Kombinationstherapie mit GLP-1-RA angeboten werden. Weitere Präferenzen wie die Verabreichungsform, oral oder subkutan, schränken die Auswahl weiter ein, ebenso die Verabreichungsfrequenz (täglich, wöchentlich). Des Weiteren muss eine Therapie auch die Anforderungen des Arztes erfüllen, wie zum Beispiel eine Blutzuckerkontrolle ohne Hypoglykämien, die Reduktion mikro- und makrovaskulärer Komplikationen, die Reduktion kardiovaskulärer Risiken sowie die Rückvergütung durch die Krankenkassen. In der modernen Therapie stehen vor allem SGLT2-Hemmer, GLP-1-RA, DPP-4-Hemmer und viele Formen der Insulinbehandlung im Einsatz; Alphaglukosidasehemmer, Glinide und Glitazone werden dagegen nicht mehr oft verwendet. In die Überlegungen sollte ausserdem der Wirkmechanismus einbezogen werden. Bei den SGLT2-Hemmern wird die Glukoserückresorption im proximalen Nierentubulus zu grossen Teilen gehemmt, was zu einer vermehrten Glukoseausscheidung im Urin führt. Diese ist jedoch abhängig von der Nierenfunktion: Je schwächer die Nierenfunktion, desto geringer die Glukoseausscheidung. Die renoprotektive Eigenschaft beziehungsweise die Erhaltung der geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR) werde dadurch aber ebenso wenig beeinträchtigt wie die präventive Wirkung auf die Herzinsuffizienz und die 3-Punkt-MACE, so Lehmann. Bei den GLP-1-RA dagegen besteht der Wirkmechanismus aus einer Verlängerung der Wirkung des physiologischen GLP-1. GLP-1 reduziert die Glukagonsekretion und damit die Glukoneogenese in der Leber, stimuliert die Insulinfreisetzung und drosselt den Appetit.
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BERICHT
Swiss Diabetes Guide
Empfehlungen zur Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 für Schweizer Fachpersonen Verfügbar für Android und iOS sowie als Web-App (www.swissdiabetesguide.ch) auf Deutsch, Französisch und Englisch
Mit den klinischen Parametern und den Präferenzen von Patient und Arzt wird eine Therapieübersicht erstellt. Mit den Empfehlungen von Präparaten sind die dazugehörigen Fach- und Patienteninformationen inklusive Referenzen abrufbar. Individuelle Blutzuckerziele können mit dem HbA1c-Rechner berechnet werden.
Vorgehen gemäss SGED-Empfehlungen
Nach den derzeitigen Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) soll für die Pharmakotherapie als Erstlinienmedikament Metformin eingesetzt werden, sofern die eGFR über 30 ml/ min/1,73 m2 liegt. Danach soll frühzeitig eine Kombinationstherapie begonnen werden. Zur Wahl der Kombinationspartner gehören 4 Fragen: Als Erstes muss abgeklärt werden, ob der Patient einen Insulinmangel hat, was auf etwa ein Viertel der Patienten zutrifft. In diesem Fall muss das Insulin in Form von Basalinsulin ± GLP-1-RA ersetzt werden. Als Zweites interessiert, ob die Nierenfunktion beeinträchtigt ist (eGFR < 60 ml/min/1,72 m2). Auch das trifft auf ein Viertel der Patienten zu. Hier braucht es eine Nephroprotektion, wofür sich SGLT2-Hemmer oder GLP-1-RA eignen. Unterhalb einer eGFR von 30 ml/min/1,72 m2 sind DPP-4Hemmer, GLP-1-RA sowie Dapagliflozin und Canagliflozin einsetzbar, Metformin ist dagegen nicht mehr angezeigt. Als Drittes kommt die Frage nach einer kardiovaskulären Erkrankung. An einer solchen leiden 20 bis 25 Prozent, davon ist die Hälfte asymptomatisch, was die Diagnose in der Praxis schwierig macht. Bei diesen Patienten sind SGLT2-Hemmer und GLP-1-RA empfohlen. Als Viertes stellt sich die Frage, ob eine Herzinsuffizienz vorliegt, was bei 25 Prozent der Patienten der Fall ist. Aber auch eine Herzinsuffizienz kann asymptomatisch sein, sodass SGLT2-Hemmer bevorzugt werden sollten. Beide Wirkstoffklassen verhindern kardiovaskuläre Ereignisse und reduzieren die Mortalität, sodass gemäss den SGED-Empfehlungen eine dieser Wirkstoffklassen frühzeitig in Kombination mit Metformin eingesetzt und bei Nichterreichen der HbA1c-Werte die jeweils andere Wirkstoffklasse ergänzt werden soll (4). Sulfonylharnstoffe als Kombinationspartner seien wegen ihres Hypoglykämierisikos und der Gewichtszunahme dagegen wenig vorteilhaft und sollten daher nicht mehr verwendet werden, so Lehmann.
DPP-4-Hemmer werden sehr häufig verwendet. Sie haben aber keinen kardioprotektiven Zusatznutzen, jedoch auch keine Nebenwirkungen, und sie sind wie Metformin gewichtsneutral und induzieren keine Hypoglykämien. Wenn GLP-1-RA nicht eingesetzt werden können, sind sie 2. Wahl. Treten während einer Diabetestherapie aus irgendwelchen Gründen Erbrechen oder Durchfall auf oder ist ein Spitalaufenthalt oder eine Operation geplant, sollten Metformin und SGLT2-Hemmer gestoppt und durch Insulin ersetzt werden, um Ketoazidosen und Laktazidosen zu verhindern. Hauptnebenwirkung der SGLT2-Hemmer sind mykotische Genitalinfektionen. Diese können aber gemäss Lehmann durch Trockentupfen nach dem Wasserlösen weitgehend verhindert werden.
Personalisierte Therapie per App
Jeder Patient mit Typ-2-Diabetes hat individuell verschiedene
Voraussetzungen. In der Diabetestherapie braucht es neben
einer Lebensstilintervention einen multifaktoriellen Ansatz.
Bei der Wahl der Therapie sollten diese Voraussetzungen be-
rücksichtigt werden, angefangen von der Multimorbidität
über die Wünsche des Patienten und den Schutz von Herz
und Niere bis zu den Nebenwirkungen, betont Lehmann. Die
von Lehmann mitentwickelte neue App «Swiss Diabetes
Guide» (Kasten) kann dabei behilflich sein. Nach Eingabe
der klinischen Parameter sowie der Patienten- und Arztprä-
ferenzen gibt die App massgeschneiderte Empfehlungen zur
Pharmakotherapie über mehrere Stufen. Die Therapievor-
schläge basieren auf den SGED-Empfehlungen.
Vor dem Hintergrund, dass die Erkrankung während der
ersten 10 Jahre meist unentdeckt bleibt, das Risiko für
makrovaskuläre Komplikationen aber bereits ab einem
HbA1c-Wert > 5,5 Prozent zu steigen beginnt, ist eine früh-
zeitige Intervention wichtig. Denn die Krankheitsjahre ab der
Diabetesdiagnose sind gemäss dem Konzept des Glukose-
gedächtnisses zusätzliche Jahre mit erhöhtem HbA1c-Wert,
so Lehmann. Eine Krankheitsdauer von 11 Jahren ergebe
demnach 21 Glykämiejahre. Je früher also die Diagnose er-
folgt, desto stärker lassen sich die Glykämiejahre reduzieren.
Denn eine Analyse zeigte eine deutliche Reduktion des Risi-
kos für Gesamtsterblichkeit und Myokardinfarkt bei einem
um 1 Prozent tieferen HbA1c-Wert über 5 bis 20 Jahre (5). Es
lohnt sich somit, mit einer frühen Intensivierung der Thera-
pie eine umso stärkere Reduktion zu erreichen, zumal es auch
weniger Therapieversager gibt als bei der sequenziellen Eska-
lation mit langen Intervallen (6). Es spreche somit alles dafür,
keine Zeit zu verlieren, die Diagnose möglichst früh zu stellen
und mit einer intensiven und multifaktoriellen Therapie zu
beginnen, plädierte Lehmann. Bei Kombinationstherapien
ohne Insulin oder Sulfonylharnstoffe sei ein HbA1c-Wert
< 6 Prozent nicht gefährlich und deshalb anzustreben, um das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse möglichst effizient zu senken, so der Experte abschliessend. s Valérie Herzog Quelle: «Moderne Diabetestherapie – ein Update 2021», FOMF Innere Medizin, 1. bis 5. Dezember 2020 in Zürich. 94 ARS MEDICI 4 | 2022 Referenzen: 1. Visseren FLJ et al.: 2021 ESC Guidelines on cardiovascular disease preven- tion in clinical practice. Eur Heart J. 2021;42(34):3227-3337. doi:10.1093/ eurheartj/ehab484 2. Boonman-de Winter LJ et al.: High prevalence of previously unknown heart failure and left ventricular dysfunction in patients with type 2 diabetes. Diabetologia. 2012;55(8):2154-2162. doi:10.1007/s00125-0122579-0 3. Verma S et al.: Pump, pipes, and filter: do SGLT2 inhibitors cover it all? Lancet. 2019;393(10166):3-5. doi:10.1016/S0140-6736(18)32824-1 4. Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED/SSED) für die Behandlung von Diabetes mellitus Typ 2 (2020). https://www.sgedssed.ch/fileadmin/user_upload/ 6_Diabetologie/61_Empfehlungen_Facharzt/2020_Swiss_Recomm_ Medis_DE_def.pdf. Letzter Zugriff: 17.1.22 5. Lind M et al.: Historical HbA1c Values may explain the type 2 diabetes legacy effect: UKPDS 88. Diabetes Care. 2021;44(10):2231-2237. doi:10.2337/dc20-2439 6. Matthews DR et al.: Glycaemic durability of an early combination therapy with vildagliptin and metformin versus sequential metformin monotherapy in newly diagnosed type 2 diabetes (VERIFY): a 5-year, multicentre, randomised, double-blind trial. Lancet. 2019;394(10208):15191529. doi:10.1016/S0140-6736(19)32131-2 BERICHT ARS MEDICI 4 | 2022 95