Transkript
FORTBILDUNG
Was tun bei orthostatischer Hypotonie?
Ursachen und Therapie des positionsabhängigen niedrigen Blutdrucks
Viele Menschen leiden unter orthostatischer Hypotonie. Die Prävalenz nimmt mit dem Alter zu. Diese Kreislaufstörung kann aber auch durch Erkrankungen, Medikamente oder Alkohol verursacht werden. In einer aktualisierten Übersicht haben britische und US-amerikanische Wissenschaftler den Wissensstand zur diagnostischen Evaluierung und zum Management der orthostatischen Hypotonie zusammengefasst.
British Medical Journal
Bei der orthostatischen Hypotonie handelt es sich um einen abrupten übermässigen Abfall des systolischen Blutdrucks (≥ 20 mmHg) und/oder des diastolischen Blutdrucks (≥ 10 mmHg) beim Aufstehen aus dem Sitzen oder Liegen. Die Kreislaufstörung beeinträchtigt die Lebensqualität und erhöht das Risiko für Stürze, kardiovaskuläre Erkrankungen, Depressionen, Demenz und den Tod. Die Prävalenz nimmt mit dem Alter zu. Die orthostatische Hypotonie wird durch ein unzureichendes oder verzögertes Ansprechen auf Flüssigkeitsverlagerungen im Körper ausgelöst. Normalerweise wird der Blutdruck bei einem Positionswechsel durch koordinierte Reaktionen des autonomen Nervensystems über den Baroreflex aufrechterhalten. Diese Reaktionsfähigkeit kann jedoch durch neurogene Erkrankungen wie Parkinson, nicht neurogene Erkrankungen wie Diabetes oder auch durch Medikamente und Alkohol beeinträchtigt werden (Kasten 1). Zu den häufigsten Symptomen gehören Benommenheit und Schwindel sowie ein vorübergehender Verlust des Bewusstseins und Stürze. Seltener kommt es zu weniger charakteristischen Beschwerden wie Sehstörungen, Schwächeanfällen, Kurzatmigkeit, Brust- oder Kopfschmerzen. Die Symptome treten meist innerhalb von 3 Minuten nach dem Positionswechsel auf.
MERKSÄTZE
� Die Prävalenz der orthostatischen Hypotonie nimmt mit dem Alter zu.
� Behandlungsziele sind die Verbesserung der Symptomatik und die Minimierung des Verletzungsrisikos.
� Die Evidenz zur Wirksamkeit nicht pharmakologischer Massnahmen und medikamentöser Optionen ist schwach.
� Nach Möglichkeit sollten die individuellen Ursachen angegangen werden.
Was ist bei der diagnostischen Evaluierung zu beachten?
Im Rahmen der Anamnese wird versucht, die oft multifaktoriellen Ursachen der orthostatischen Hypotonie zu identifizieren. Dazu fragt der Arzt ausser nach der Art der Symptome und dem Zeitpunkt des Einsetzens nach Positionswechseln, ob die Beschwerden persistierend, rezidiv oder isoliert auftreten. Des Weiteren werden individuelle Alltagsfaktoren ermittelt, welche die Symptomatik beeinflussen. Dazu gehören (zu üppige) Mahlzeiten, die Flüssigkeitsversorgung, die Umgebungstemperatur, heisse Duschen oder Bäder und Stress sowie längere Liegezeiten, Dekonditionierung und die Medikation. Mit einer klinischen Untersuchung können körperliche Faktoren identifiziert werden, die mit den Symptomen und den potenziellen Ursachen der orthostatischen Hypotonie in Zusammenhang stehen. So weisen Herzgeräusche bei einem Patienten mit Palpitationen möglicherweise auf strukturelle Anomalien hin, während es sich bei einem Patienten mit verlangsamten Bewegungen und Tremor um Morbus Parkinson handeln könnte.
Wie viele Blutdruckmessungen sind notwendig?
Zur Evaluierung der orthostatischen Hypotonie gehören auch Blutdruckmessungen im Liegen und nach dem Wechsel in den Stand. Eine zusätzliche Messung, mehr als 3 Minuten nach dem Aufstehen, ist nur erforderlich, wenn der Patient über verzögertes Einsetzen der Symptome klagt. Mit einer Wiederholung zu einem späteren Zeitpunkt kann die Detektionsrate erhöht werden. Serielle Blutdruckmessungen zu Hause können ggf. ebenfalls in Betracht gezogen werden. Im Rahmen der Blutdruckmessung sollte auch auf Veränderungen der Herzfrequenz geachtet werden. Ein gleichzeitiger Anstieg um < 15 Schläge pro Minute kann auf eine neurogene Ursache der orthostatischen Hypotonie hinweisen, ein Anstieg um > 15 Schläge auf eine nicht neurogene. Allerdings handelt es sich bei der Herzfrequenz um einen nicht spezifischen Indikator, der auch unzuverlässig sein kann, beispielsweise wenn ein Patient Betablocker einnimmt.
68 ARS MEDICI 3 | 2022
FORTBILDUNG
Kasten 1:
Ursachen der orthostatischen Hypotonie
Neurogene Ursachen s neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson s periphere Neuropathien bei Diabetes, Vitamin-B12-Mangel, Nieren- insuffizienz, Amyloidose, rheumatologischen Erkrankungen, paraneoplastischen Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen
Nicht neurogene Ursachen s Volumendepletion bei Anämie, Dehydrierung, Hämorrhagie, Hyperglykämie s kardiovaskuläre Erkrankungen: Aortenstenose, Hypertonie, Herzinsuffizienz, Atherosklerose, vaskuläre Versteifung, Arrhythmien s sonstige: Nebenniereninsuffizienz, physische Dekonditionierung, Alterungsprozess
Andere Ursachen s Medikamente: Alphablocker, Betablocker, Antihypertensiva, Nitrate, Diuretika, selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer, trizyklische Antidepressiva, Antipsychotika s Alkohol: – kurzfristig: diuretischer Effekt, Beeinträchtigung der Vasokonstriktion – langfristig: neurotoxische Effekte s idiopathisch
Welche Differenzialdiagnosen sollten in Betracht gezogen werden?
Bei manchen Patienten treten Symptome auf, die einer orthostatischen Hypotonie ähneln. Dazu gehören die postprandiale Hypotonie und vasovagale Synkopen. Letztere werden meist durch emotionalen Stress, Schmerzen, Hitze, Dehydrierung oder langes Stehen oder Sitzen hervorgerufen und treten eher
bei jüngeren, ansonsten gesunden Personen auf. Manchmal kündigen sie sich durch prodromale Symptome wie Schwitzen, Übelkeit und Erbleichen an. Ein Karotissinussyndrom ist ebenfalls mit Synkopen, Beinahesynkopen oder Stürzen verbunden. Wie die orthostatische Hypotonie kommt es häufiger bei älteren Personen vor und ist klinisch schwer davon abzugrenzen. Beide Kreislaufstörungen können auch koexistieren. Zur diagnostischen Abgrenzung kann eine Kipptischuntersuchung beim Kardiologen von Nutzen sein.
Wie kann die orthostatische Hypotonie behandelt werden?
Mit der Behandlung werden eine Verbesserung der Symptomatik und eine Reduzierung des Verletzungsrisikos angestrebt. Das Ziel besteht nicht in einer Normalisierung des Blutdruckabfalls. Modifizierung reversibler Ursachen: Manche Ursachen sind reversibel und können beeinflusst werden. Dazu gehören Medikamenteneinnahme, Dehydrierung oder Anämien. Epidemiologische Studien weisen auch auf einen Zusammenhang zwischen höheren HbA1c-Werten und der orthostatischen Hypotonie hin, allerdings ist unklar, ob eine Senkung der Werte die Inzidenz oder die Schwere orthostatischer Hypotonien reduzieren kann. Konservative Massnahmen: Für eine konservative Strategie ist es wichtig, dass der Patient die Ursachen und die Einflussfaktoren seiner orthostatischen Hypotonien kennt. In Kasten 2 sind die wichtigsten nicht pharmakologischen Massnahmen aufgeführt, die im Alltag angewendet werden können. Die Evidenz zu deren Wirksamkeit ist derzeit allerdings unzureichend. Überweisung und pharmakologische Behandlung: Wenn die Symptome nicht kontrollierbar sind oder die Ursachen der orthostatischen Hypotonie nicht ermittelt werden können, sollte eine Überweisung zum Spezialisten angeboten werden.
Tabelle:
Pharmakologische Optionen zur Behandlung der orthostatischen Hypotonie
Medikament Fludrocortison
Midodrin Droxidopa
Wirkmechanismus
Synthetisches adrenokortikales Steroid, erhöht das Plasmavolumen durch Förderung der Natriumreabsorption
Dosierung
Häufige und sehr häufige Nebenwirkungen
Initiale Dosis: 100 µg täglich, kann auf 200 µg täglich erhöht werden; die Maximaldosis von 300 µg täglich wird meist nicht angewendet wegen einer Zunahme der Nebenwirkungen ohne gleichzeitigen therapeutischen Zusatznutzen
Hypokaliämie, Ödeme, Herzinsuffizienz, Hypertonie, Kopfschmerzen, Muskelschwäche, breites Spektrum an psychiatrischen und psychotischen Reaktionen
Prodrug eines Sympathomimetikums, das die Vasokonstriktion und den arteriellen Widerstand erhöht
Initiale Dosis: 2,5 mg 3-mal täglich, kann im Wochenabstand auf bis zu 10 mg 3-mal täglich erhöht werden
Piloerektion, Kopfjucken, Dysurie, Hypertonie in Rückenlage, Parästhesien, Übelkeit, Dyspepsie, Stomatitis, Schüttelfrost, Hitzewallungen, Juckreiz, Hautausschläge, Harnretention
Prodrug von Noradrenalin; der exakte Wirkmechanismus ist unbekannt, könnte möglicherweise durch erhöhte Konzentration zirkulierenden Noradrenalins erklärt werden
Initiale Dosis: 100 mg 3-mal täglich, kann alle 24 bis 28 Stunden auf maximal 600 mg 3-mal täglich erhöht werden
Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel, Hypertonie, Hypertonie in Rückenlage, Stürze, Harnwegsinfektionen, Synkopen
ARS MEDICI 3 | 2022
69
FORTBILDUNG
Kasten 2:
Nicht pharmakologische Massnahmen
s langsame oder stufenweise Veränderung der Körperpositionen; vom Liegen zum Sitzen, vom Sitzen zum Stehen s ausreichende Flüssigkeitszufuhr s Vermeiden von Alkohol, üppigen Mahlzeiten, sehr warmer Umgebung, heissen Duschen oder Bädern s Schlafen mit erhöhtem Kopfende s körperliche Bewegung s physische Manöver: Beine kreuzen im Stehen, Anspannung der Beinmuskulatur und der Pobacken nach dem Stehen s Kompression der Beine
Die Auswahl der Fachrichtung (z. B. Kardiologie, Neurologie, Geriatrie) erfolgt anhand der Symptome, des Patientenalters und der Komorbiditäten. Eine medikamentöse Behandlung wird üblicherweise vom Spezialisten begonnen, wenn die Symptome mit konservativen Massnahmen nicht ausreichend kontrolliert werden können. Die Behandlung kann dann beim Hausarzt fortgesetzt oder modifiziert werden. Die Auswahl der Medikamente richtet sich nach den lokalen Leitlinien. Zu den pharmakologischen Möglichkeiten zur Behandlung der orthostatischen Hypotonie gehören Fludrocortison (Florinef®), Midronin (Gutron®) und Droxidopa (in der Schweiz derzeit noch nicht registriert) (Tabelle). Alle drei Medikamente können die Symptomatik verbessern. Die Evidenz dafür ist jedoch schwach und stammt überwiegend aus kleinen
randomisierten, kontrollierten Studien mit kurzen Beobachtungszeiten.
Spezielle Überlegungen bei Patienten
mit Bluthochdruck
In einer grossen randomisierten Studie war eine intensive
Blutdruckkontrolle (systolischer Blutdruck ≤ 120 mmHg)
nicht mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für eine ortho-
statische Hypotonie verbunden als die Standardziele (systo-
lischer Blutdruck ≤ 140 mmHg), und in einem neueren sys-
tematischen Review mit Metaanalyse senkten niedrigere
Zielwerte das Risiko für die orthostatische Hypotonie.
Verschiedene Medikamentenklassen wie Alphablocker, Beta-
blocker, Kalziumkanalblocker, Diuretika, ACE-Hemmer
(ACE: angiotensin-converting enzyme) und Angioten-
sin-II-Rezeptor-Antagonisten können das Risiko für eine
orthostatische Hypotonie erhöhen. Dabei ist die Anzahl die-
ser Medikamente wohl entscheidender als die jeweiligen
Klassen. Bei Einnahme mehrerer Medikamente verbessert das
Absetzen einer Substanz mit einiger Wahrscheinlichkeit die
Symptomatik der orthostatischen Hypotonie. Die Auswahl
des Medikaments, auf das am ehesten verzichtet werden
kann, richtet sich nach den individuellen Gegebenheiten des
Patienten.
s
Petra Stölting
Quelle: Sathyapalan T et al.: Clinical update: postural hypotension. BMJ. 2021;373:n922.
Interessenlage: Die Autoren der referierten Originalarbeit erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
70 ARS MEDICI 3 | 2022