Transkript
EDITORIAL
Offenes Geheimnis
Jeder kennt ihn, den geheimnisvollen Plazeboeffekt, der Zuckerpillen medizinische Wirksamkeit verleihen kann. Lange Zeit glaubte man, dass man den Patienten die inerte Natur des vemeintlichen Heilmittels wohlweislich verschweigen müsse, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Deshalb verordneten Ärzte früher, ohne mit der Wimper zu zucken, so manchem Patienten ein vermeintlich «sehr wirksames Medikament», das in Tat und Wahrheit nur ein Plazebo war. Heute freilich, im Zeitalter des «informed consent», gilt eine solch fromme Lüge als verwerflich: Wenn schon Plazebo, dann bitte mit Ansage! Mittlerweile mehren sich die Studien, dass der Plazeboeffekt auch funktionieren kann, wenn man dem Patienten ganz offen sagt, dass er nur ein Plazebo bekommt. Wobei – schon das kleine Wörtchen «nur» sollte man sich wohl tunlichst verkneifen. Es klappt mit der Wirkung mit den sogenannten offenen Plazebos offenbar nur, wenn ihre Wirksamkeit zuvor eindringlich angepriesen wurde. Jüngstes Beispiel dafür ist eine Studie mit Kindern und Jugendlichen, die unter funktionellen Bauchschmerzen oder Reizdarm litten. Als Plazebo diente ein schwach gesüsster Sirup, verpackt wie ein Medikament aus der Apotheke. Die Studienärzte erklärten nicht nur den Plazeboeffekt, sondern sie versprachen den Probanden und ihren Eltern überdies, dass ein Plazebo auch wirke,
wenn man nicht daran glaube, und dass es gar keine
Nebenwirkungen habe. Wie man sieht, nimmt man es
auch bei der Gabe eines offenen Plazebos mit den Fak-
ten mitunter nicht so ganz genau. Geholfen hat es am
Ende, zumindest ein bisschen. Ob der Unterschied zu-
gunsten des Plazebos von durchschnittlich 5,2 Punkten
auf einer 100-teiligen Schmerzskala viel oder wenig ist,
mag jeder für sich selbst entscheiden (1).
Übrigens ist auch bekannt, dass ein Plazebo mit An-
sage genauso gut funktionieren kann wie die Behaup-
tung, ein wirksames Medikament zu verabreichen (ob-
wohl es nur ein Plazebo ist). In einer Studie mussten
3 Gruppen von Probanden ihren Arm auf eine Wärme-
platte mit ansteigender Temperatur legen. Sobald es
unerträglich wurde, durften sie das Experiment stop-
pen und den Schmerz mit einer Creme lindern. Diese
Creme war in allen 3 Gruppen dieselbe und frei von
Schmerzmitteln. In der ersten Gruppe wurde sie trotz-
dem als schmerzstillende Lidocainsalbe beschriftet.
Die beiden anderen Gruppen erhielten Tuben mit der
Aufschrift «Plazebo». Während man den Teilnehmern
in einer dieser beiden Gruppen zusätzlich ausführlich
erklärte, dass Plazebos durchaus wirken könnten,
drückte man den Teilnehmern in der dritten Gruppe die
Plazebocreme kommentarlos in die Hand. Das Resul-
tat: Die vermeintliche Lidocainsalbe sowie die Plazebo-
creme mit Erklärung halfen etwa gleich gut und deut-
lich besser als dieselbe Creme in der Gruppe, die man
nicht über das segensreiche Potenzial von Plazebos
informiert hatte (2).
Fazit: Plazebos wirken, wenn man die Patienten von
deren Wirksamkeit überzeugen kann. Ob das nun, wie
in früheren Zeiten, eine fromme Lüge ist oder, wie
heutzutage, ein längeres Aufklärungs- und Motiva-
tionsgespräch, spielt für die gewünschte Wirkung
keine Rolle. Der Schlüssel zum Erfolg ist die gelungene
Kommunikation, sodass es letztlich wohl doch einmal
mehr auf die Droge «Arzt» ankommt.
s
Renate Bonifer
1. Nurko S et al.: Effect of open-label placebo on children and adolescents with functional abdominal pain or irritable bowel syndrome. A randomized clinical trial. JAMA Pediatr. 2022; online first Jan 31, 2022.
2. Locher C et al.: Is the rationale more important than deception? A randomized controlled trial of open-label placebo analgesia. Pain. 2017;158(12):2320-2328.
ARS MEDICI 3 | 2022
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