Transkript
EDITORIAL
«Triage»
Eine in den letzten Wochen überaus beliebte, zum Glück wenig realistische, grundsätzlich jedoch durchaus spannende Diskussion: Wer kriegt das letzte Bett auf der Intensivstation? Der gegen SARS-CoV-2 Geimpfte oder der Impfverweigerer? Die Ethikkommissionen, die in Coronazeiten die Gelegenheit nutzten, ihre Existenz zu rechtfertigen, verteidigten zumindest zu Beginn die Position, das Alter dürfe im Fall einer «Triage» (der Begriff aus der Militärmedizin hat in Coronazeiten eine medial geradezu genüsslich zelebrierte Renaissance erlebt) keine Rolle spielen und der Impfstatus genauso wenig. Entscheidend seien einzig die Überlebenschancen. Der aufgeklärte Alltagsethiker konstatierte rasch, dass die Berufsethiker(innen) lieber keine Argumente für oder gegen die Bevorzugung von Personen aufgrund anderer Kriterien als der Überlebenschancen liefern wollten oder durften. Und merkten rasch, dass diese Position nicht haltbar sein würde. Natürlich spielt das Alter eine Rolle – notfalls argumentiert man halt mit dem parallel zum Alter steigenden Sterberisiko. Und auch dem Impfstatus kommt man, wenn man will, auf die gleiche Weise bei. Und selbstverständlich spielen weitere «weiche» Faktoren eine Rolle. Dass man das nicht allzu offen konzediert, ist verständlich. Manches bleibt besser unausgesprochen.
Der Empfänger des Schweineherzens kürzlich in Balti-
more hat vor Jahrzehnten in einem Streit einen Mann
mit einem Messer so schwer verletzt, dass er 20 Jahre
im Rollstuhl sass, bevor er an einem Herzinfarkt starb.
Hat man mit einer solchen Vergangenheit das Privileg
verdient, dank einer aufwändigen Operation zu über-
leben? Die Schwester des gelähmten Opfers fand:
«Nein.» Es gäbe, meinte sie, Menschen, die eine solche
einmalige Chance mehr verdient hätten als ausge-
rechnet der Schweineherzpatient (der für seine Tat im
Gefängnis sass). Nun, der Herzchirurg und sein Team
haben entschieden, es bei diesem Patienten zu ver-
suchen. Sie werden ihre Gründe dafür gehabt haben.
Sicher war ihnen die Vergangenheit ihres Patienten
bekannt. Vielleicht war sie ihnen nicht wichtig. Aber
vielleicht doch, und sie hätten den Mann nicht ope-
riert, wäre er ein Mehrfachmörder gewesen. Vielleicht
war er auch einfach der physiologisch optimale Pati-
ent für ein ehrgeiziges Experiment.
Bestimmt hat in Baltimore eine Ethikkommission dis-
kutiert. Hätte sie entscheiden können, dass jemand
anders das Schweineherz erhalten soll? Wegen «ethi-
scher Bedenken»? Schwer vorstellbar. Das letzte Wort
hatte sicher der Chirurg. Immerhin sind die einzigen,
die seit jeher gewohnt oder gezwungen sind, über Le-
ben und Tod und Ressourcenzuteilung zu entscheiden,
nun mal die Ärzte. Hospitalisieren oder zuhause ster-
ben lassen? Intubation oder Morphium? Antibiotika
oder Paracetamol? Jeder Hausarzt und jeder Heimarzt
kennt das.
Ärzte treffen fast täglich Entscheide von grosser Trag-
weite, ohne Kommission, ganz allein. Zum Glück bis-
her kaum je in echten Triage-Situationen. Hoffen wir,
dass es tatsächlich nie ums letzte IPS-Bett geht und
sich nie die Frage stellt: Soziopath oder Regierungs-
rat? Das wäre dann doch eher ein Fall für eine Ethik-
kommission. Auch wenn Ärzte allein nicht schlechter
entschieden.
s
Richard Altorfer
ARS MEDICI 1+2 | 2022
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