Transkript
RÜCKBLICK 2021/AUSBLICK 2022
Neurologie
Dr. med. Thomas Dorn Chefarzt Zurzach Care Rehaklinik Sonnmatt Luzern
Von der mRNA-Technologie darf man auch Fortschritte in der Neurologie erwarten
Im Lauf der Coronapandemie haben sich viele Dinge verändert. Wie sieht die neue Normalität für Sie persönlich aus?
Die Fragen für diesen Rück- und Ausblick erhielt ich zu einer Zeit, als die Infektionszahlen noch deutlich niedriger waren und noch Hoffnung bestand, die Pandemie bald überwunden zu haben. Von Normalität kann angesichts der 4. Welle mit der offenbar infektiöseren Delta-Variante und der schon beginnenden Ausbreitung der Omikron-Variante keine Rede sein. Aus der Sicht des Rehabilitationsmediziners stellt sich die Situation seit Beginn der Pandemie bei jeder Welle so dar: In dem Moment, in dem erste mit dem Virus infizierte Patientinnen und Patienten identifiziert werden, ändern sich die Verhältnisse und die täglichen Arbeitsabläufe durch die dann einzuhaltenden Isolationsmassnahmen sehr einschneidend. Insbesondere können die infizierten beziehungsweise erkrankten Patientinnen und Patienten dann nicht mehr in demselben Umfang Therapien erhalten wie zuvor. Hinzu kommt, dass sie intensiver klinisch überwacht werden müssen, um Komplikationen rechtzeitig zu erkennen. Bezüglich komplikationsträchtiger Verläufe widerspiegelt die eigene Erfahrung das, was auch die Kolleginnen und Kollegen von den Intensivstationen berichten: Es sind fast ausschliesslich die Ungeimpften, die schwer erkranken. Bei der aktuellen 4. Welle gibt es jedoch noch eine Besonderheit im Unterschied zu den vorangegangenen Wellen, nämlich Infektionen bei vollständig Geimpften, die symptomarm beziehungsweise symptomlos verlaufen können. Die Betroffenen können weiter zur Verbreitung der Erkrankung beitragen. Aufgrund all dieser Erkenntnisse, Erfahrungen und Begebenheiten wird es irgendwann eine neue Normalität geben. Wie diese für mich schlussendlich aussehen wird, kann ich im Moment noch nicht erkennen. Ich denke, der Umgang mit der gegenwärtigen 4. Welle und die daraus folgenden gesellschaftlichen Konsequenzen werden die neue Normalität in der Medizin und damit meinen beruflichen Alltag bestimmen.
Hat die Pandemie aus Ihrer Sicht auch etwas Positives bewirkt?
Bei dieser Frage kommt mir zunächst Thomas Manns «Zauberberg» mit der Romanfigur Settembrini in den Sinn. Dieser
kann der damaligen Geissel der Menschheit, der Tuberkulose, nichts Positives oder gar für die Menschheit Läuterndes abgewinnen, und er kann die romantische Faszination Hans Castorps für Krankheit und Tod nicht nachvollziehen – wie ich selbst auch. Aber es gibt insofern positive Auswirkungen der Pandemie, indem sie der schon seit vielen Jahren beforschten mRNA-Technologie zum Durchbruch verholfen hat. Davon darf man weitere Fortschritte in anderen Bereichen der Medizin und auch in der Neurologie erwarten (s. unten). Positiv ist vielleicht auch, dass die Pandemie dazu beiträgt, dass sich viele Menschen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, deren Entstehung und Kommunikation beschäftigen (müssen). Das lässt hoffen, dass vielleicht bei anderen Themen wie zum Beispiel dem Klimawandel, bei denen es ja auch um die Beachtung wissenschaftlicher Fakten in der Politik geht, rascher als bisher Fortschritte erreicht werden können. Aber zumindest zurzeit habe ich den Eindruck, dass der Goethe zugeschriebene Satz «Was ist das Schwerste von allem? Was dir das Leichteste dünket: Mit den Augen zu sehn was vor den Augen dir lieget» auch weiterhin leider seine Gültigkeit behalten wird; es sei denn, es gelingt, die Impfquote deutlich über den aktuellen Stand zu erhöhen – der einzige Ausweg aus der Pandemie.
Hat sich die Rolle der Hausärztinnen und Hausärzte im Gesundheitswesen während der Pandemie verändert?
Soweit ich das als bis anhin ausschliesslich in Universitäts- beziehungsweise Spezialkliniken tätiger Arzt beurteilen kann, denke ich schon, dass den Hausärztinnen und Hausärzten derzeit und auch künftig eine besondere Rolle zukommt, die weit über die Diagnose einer SARS-CoV-2-Infektion und die Applikation des Impfstoffs hinausgeht. Sie werden sich mit den somatischen und psychischen Folgen der Erkrankung beziehungsweise der Folgeerkrankungen bei den Betroffenen und darüber hinaus mit den psychischen Auswirkungen, Schuldgefühlen und Schuldzuweisungen in den betroffenen Familiensystemen beschäftigen müssen.
Abgesehen von COVID-19: Welche neuen Erkenntnisse fanden Sie im vergangenen Jahr interessant?
Das Potenzial der mRNA-Technologie in anderen Bereichen als der Virologie, das heisst in den Neurowissenschaften, interessierte mich, und so suchte ich nach entsprechender Literatur. Schon vor der Coronaviruspandemie forschte man offenbar daran, ob es möglich wäre, bei genetischen Erkrankungen defekte oder fehlende Proteine auf diese Weise zu ersetzen. In einem Tiermodell zur autosomal-rezessiv vererbten Citrindefizienz konnten über die intravenöse Applikation der in Lipidnanopartikel eingekapselten mRNA für das fehlende Genprodukt bestimmte biochemische Marker der Erkrankung verbessert werden. Die mit schweren neurologischen Symptomen einhergehende Erkrankung ist beim Menschen nur durch eine Lebertransplantation beherrschbar (1).
32 ARS MEDICI 1+2 | 2022
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In der neurologischen Praxis sind natürlich andere Herausforderungen häufiger. Die Beurteilung neurologischer, nicht ständig beziehungsweise nur paroxysmal auftretender Symptome ist bekanntermassen schwierig. Wenn es hierzu keine verlässliche Fremdbeobachtung gibt, sind die Patienten oft selbst nicht in der Lage, darüber zu berichten. Epileptische Anfälle ohne subjektiv erinnerliche Vorboten werden oft nur wahrgenommen, wenn sie fremdbeobachtet werden oder zu Unfällen führen. Die zur Steuerung einer antiepileptischen Pharmakotherapie herangezogenen Anfallskalender der Patientinnen und Patienten sind bekanntermassen nicht valide (2). Vor diesem Hintergrund sind technische Entwicklungen mit nur wenigen EEG-Elektroden, die dauerhaft angelegt werden können, interessant. Damit kann mithilfe automatischer Erkennung elektroenzephalografischer Anfallsmuster via «machine learning» die Anfallssituation genau erfasst werden (3). Noch besser wären natürlich Techniken, die ohne das EEG auskommen und Anfälle anhand von charakteristischen Bewegungsmustern oder EKG-Veränderungen detektieren können. Leider liefern diese Technologien noch zu häufig falsch positive Signale, und sie sind somit für die Steuerung einer antiepileptischen Pharmakotherapie nicht geeignet (4). Bei Morbus Parkinson und anderen neurodegenerativen Erkrankungen kommt es häufig zu Schlafstörungen, die die Lebensqualität der Betroffenen erheblich einschränken können. Solche Schlafstörungen können durch gezielte pharmakotherapeutische Massnahmen gebessert werden. Leider erschliesst sich sowohl in der Eigen- als auch in der Fremdanamnese meistens nicht, welche Störung (z. B. eine REMSchlaf-Verhaltensstörung oder nächtliche visuelle Halluzinationen) genau vorliegt, sodass eine gezielte Pharmakotherapie nicht möglich ist. Auch hier könnten neuere technische Entwicklungen zur Schlafanalyse im häuslichen Setting hilfreich sein (5).
Es stellt sich angesichts solcher technischen Entwicklungen die Frage, inwieweit diese die Überwachung von Patienten in Spitälern und Heimen unterstützen können. Das FelixPlatter-Spital in Basel berichtete unlängst über ein Radarsystem, das Position und Bewegungen von Delirpatienten erfassen und somit Sitzwachen und Klingelmatten ersetzen kann (6). Natürlich ergeben sich bei der Anwendung solcher Techniken diverse ethische und juristische Fragen, welche zu klären wären.
Welche Entwicklungen erhoffen Sie sich für das
Jahr 2022 in Ihrem Fachgebiet?
Wie viele Neurologinnen und Neurologen hoffe ich auf
Durchbrüche in der Therapie neurodegenerativer und neuro-
onkologischer Erkrankungen. Trotz des immer besseren Ver-
ständnnisses der Pathogenese waren auch im Jahr 2021 leider
keine Silberstreifen am Horizont erkennbar. Vielleicht ändert
sich das ja im kommenden Jahr, wenn hoffentlich nicht mehr
so viele Ressourcen für die Bewältigung der Coronavirus-
pandemie verwendet werden müssen.
s
Literatur: 1. Cao J et al.: mRNA Therapy Improves Metabolic and Behavioral Abnor-
malities in a Murine Model of Citrin Deficiency. Mol Ther. 2019;27:12421251. 2. Hoppe C et al.: Epilepsy: accuracy of patient seizure counts. Arch Neurol. 2007;64:1595-1599. 3. Beniczky S et al.: Machine learning and wearable devices of the future. Epilepsia. 2021;62Suppl2:S116-S124. 4. Atwood AC, Drees CN: Seizure Detection Devices: Five New Things. Neurol Clin Pract. 2021;11:367-371. 5. Hanein Y, Mirelman A: The Home-Based Sleep Laboratory. J Parkinsons Dis. 2021;11:S71-S76. 6. www.medinside.ch/de/post/felix-platter-spital-neuer-ansatz-in-der-delir-behandlung
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