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Titel
Gastroenterologie – Die Schweiz ist einfach in allem immer ein bisschen zu spät
Untertitel
Prof. Dr. med. Stephan Vavricka, Zentrum für Gastroenterologie und Hepatologie AG, Zürich
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Rubrik
Rückblick 2021/Ausblick 2022
Artikel-ID
58886
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RÜCKBLICK 2021/AUSBLICK 2022

Gastroenterologie
Prof. Dr. med. Stephan Vavricka
Zentrum für Gastroenterologie und Hepatologie AG, Zürich

Eine weitere Veränderung sehe ich bei der Verlagerung in den Telefon- und Onlinebereich. Ich bin beispielsweise dazu übergegangen, dass ich Patienten hin und wieder anrufe, um Ergebnisse von Gewebeproben zu besprechen, anstatt sie dafür erneut einzubestellen. Ich beantworte vieles per E-Mail. Fachliche Besprechungen finden häufig virtuell statt.

Die Schweiz ist einfach in allem immer ein bisschen zu spät
Im Lauf der Coronapandemie haben sich viele Dinge verändert. Wie sieht die neue Normalität für Sie persönlich aus?
Zu Beginn der Pandemie waren wir alle sehr verunsichert, weil man noch nichts über das Virus wusste. Beispielsweise wie infektiös ein Patientenstuhl ist oder wie man sich während einer Dickdarmspiegelung am besten schützt. Das hat sich geändert, und man hat sich inzwischen auch daran gewöhnt, bei solchen Untersuchungen die nötigen Schutzmassnahmen zu treffen. Verändert hat sich ebenfalls das Bewusstsein für Versorgungsengpässe. Um nicht wieder mit Lieferschwierigkeiten von Verbrauchsmaterial oder gewissen Medikamenten konfrontiert zu sein, habe ich begonnen, ein kleines Lager aufzubauen. Das wäre mir vor der Pandemie nie in den Sinn gekommen.

STRIDE II – eine Aktualisierung der selektiven therapeutischen Ziele bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED)
Morbus Crohn
klinische Remission endoskopisches Ansprechen
klinisches Ansprechen Normalisierung von CRP Normalisierung von fäkalem Calprotectin
transmurale Heilung histologische Heilung

Colitis ulcerosa
klinische Remission endoskopisches Ansprechen
klinisches Ansprechen Normalisierung von CRP Normalisierung von fäkalem Calprotectin
transmurale Heilung histologische Heilung

12 34 5

höchste Zustimmung

Ablehnung

Abkürzungen: CRP: C-reaktives Protein

Abbildung: Rangliste der wichtigsten kurzfristigen Therapieziele bei CED-Patienten (1).

Welche Veränderungen werden vermutlich langfristig bestehen bleiben?
Ich denke, dass die Veränderungen in der Digitalisierung bleiben werden. Wir werden nicht mehr an jeden Kongress fliegen. Viele Kongresse wird man im Hybridmodus anbieten, das heisst, man kann sie virtuell besuchen. Ich finde es schon praktisch, dass man gewisse Aus- und Weiterbildungen virtuell absolvieren kann. Zum Beispiel während ich zu Hause Sport treibe. Das ist aus meiner Sicht aber auch das einzig Positive, das ich dieser Pandemie abgewinnen kann.
Was hat Sie im letzten Jahr verärgert?
Ich finde, dass der Bundesrat in vielen Bereichen zu wirtschaftlich gesteuert war. Und viele Dinge wurden einfach völlig falsch kommuniziert. Zum Beispiel bei den Masken, bei denen sich der Bundesrat gleich zu Beginn völlig unglaubwürdig gemacht hat. Das haben sogar meine Kinder gemerkt, dass hier etwas nicht stimmen kann. Dann die Boosteraktion. Hier wurde zuerst verkündet, die Schweiz brauche das noch nicht, während umliegende Länder bereits geboostert haben. Mit 3 Monaten Verspätung kam es dann doch noch zu einer Empfehlung. Bei solchen Entscheidungen habe ich mich gefragt, ob das jetzt wirklich nötig ist. Die Schweiz ist einfach immer ein bisschen zu spät.
Abgesehen von COVID-19: Welche neuen Erkenntnisse fanden Sie im vergangenen Jahr interessant?
Im Bereich der chronisch entzündlichen Darmerkrankungen setzt sich immer mehr durch, dass man Patienten engmaschig behandelt und kontrolliert. Dabei wurden mit dem STRIDEKonzept (STRIDE: selecting therapeutic targets in inflammatory bowel disease) therapeutische Ziele definiert. Dazu gehören beim Morbus Crohn und bei der Colitis ulcerosa unter anderem die klinische Remission, das endoskopische und das klinische Ansprechen (Abbildung). Mit dem Treat-toTarget-Konzept führt man die Behandlung bis zum Erreichen dieser definierten Ziele durch. Das Kontrollintervall soll dabei je nach Stadium 3 bis 6 Monate dauern. Es gab in der letzten Zeit auch einige sehr gute Entwicklungen bei den Medikamenten wie Ustekinumab und Vedolizumab zur Therapie von Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. Dann weiter zu Tofacitinib für Patienten mit Colitis ulcerosa, die auf keine Biologikatherapie mehr ansprechen. Der Nachteil von Tofacitinib ist eine leichte Häufung von Thrombosen und Lungenembolien bei älteren Patienten und eine etwas erhöhte Rate von Herpes zoster. Letzterem kann man seit diesem Januar effizient vorbeugen, und zwar aufgrund der Zulassung

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des neuen Herpes-zoster-Impfstoffs Shingrix®. Das ist ein Totimpfstoff, der den Patienten unter immunsuppressiver Therapie verabreicht werden kann, ohne die Therapie pausieren zu müssen. Ich kann nun Patienten, bei denen ich einen Ausbruch von Herpes zoster befürchte, also immunsupprimierte über 50-Jährige, jederzeit dagegen impfen. Bisher hatten wir nur einen Lebendimpfstoff zur Verfügung, damit war das nicht so einfach. In naher Zukunft werden noch weitere Therapeutika zur Behandlung von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen verfügbar. Das ist zum einen Upadacitinib, ein in der Dermatologie und Rheumatologie bereits eingesetzter Januskinaseinhibitor, und zum anderen Ozanimod, ein Immunmodulator, der in der Multiple-Sklerose-Therapie schon im Einsatz ist.
Welche Entwicklungen erhoffen Sie sich für das Jahr 2022 in Ihrem Fachgebiet?
Es gibt eine äusserst hilfreiche Entwicklung auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Nämlich ein Computerprogramm, das während einer Endoskopie zusammen mit mir und für mich nach Polypen Ausschau hält. Ich habe das Pro-

gramm in unserer Praxis installiert und bin davon sehr be-

geistert. Das Programm bemerkt, wenn ich einen Polypen

übersehen habe. Meine Polypendetektionsrate hat sich seither

nochmals deutlich verbessert. So wünsche ich mir, dass diese

hilfreiche Entwicklung bei den Gastroenterologen flächen-

deckend Verbreitung findet.

Betreffend Coronapandemie wünsche ich mir, dass Verschie-

bungen von geplanten Operationen nicht mehr vorkommen.

Dazu braucht es aber eine hohe Impfquote, die sich nur er-

reichen lässt, wenn man die Leute weiterhin zum Impfen

motiviert. Denn auch geplante Operationen sind notwendig

und nicht beliebig verschiebbar, beispielsweise bei Maligno-

men, die mit jedem weiteren Tag ungebremst fortschreiten.

Ich habe aber auch kein Patentrezept dafür, wie man Impf-

gegner davon überzeugt, dass man ihnen mit der Impfung

nichts Böses will.

s

Referenz: Turner D et al.: STRIDE-II: An update on the selecting therapeutic targets in inflammatory bowel disease (STRIDE) initiative of the international organization for the study of IBD (IOIBD): determining therapeutic goals for treat-to-target strategies in IBD. Gastroenterology. 2021;160(5):1570-1583. doi:10.1053/j.gastro.2020.12.031

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