Transkript
Betreuung adipöser Patienten
Der Hausarzt hat eine Schlüsselrolle
BERICHT
Bei der Behandlung der Adipositas geht es nicht allein um die numerische Senkung des BMI, sondern vor allem um die Beeinflussung der mit einer schweren Adipositas einhergehenden Komorbiditäten. Was konservativ oder chirurgisch zu erreichen ist und welche Rolle der Hausarzt bei der Betreuung spielt, war Thema an einer Veranstaltung des Adipositas-Netzwerks.
Zwischen 1975 und 2016 hat sich die Prävalenz der Adipositas weltweit verdreifacht. Heute seien 42 Prozent der Schweizer Bevölkerung übergewichtig oder adipös – 51 Prozent der Männer und 33 Prozent der Frauen – mit mannigfaltigen Folgen wie beispielsweise Schlafapnoe, KHK mit Verschlechterung aller Risikofaktoren bis zum Schlaganfall, der Entwicklung eines Diabetes mellitus Typ 2, Depressionen sowie Gelenkproblemen, wie Dr. med. Diane Möller-Goede, GZO Spital Wetzikon, ausführte. Bereits durch einen Verlust von 5 bis 10 Prozent des Gewichts können das Risiko für die Entwicklung eines Diabetes mellitus Typ 2, das kardiovaskuläre Risiko sowie der Blutdruck gesenkt und das Lipidprofil, eine Schlafapnoe sowie die Lebensqualität insgesamt verbessert werden. Die konservative Therapie steht auf 4 Säulen: 1. Umstellung der Ernährungsgewohnheiten 2. vermehrte körperliche Aktivität 3. psychologische/psychiatrische Begleitung 4. medikamentöse Unterstützung.
Thema proaktiv anzusprechen, auch wiederholt, so Kuss, um die Betroffenen abzuholen. Sie befinden sich oft in einem Teufelskreis, werden stigmatisiert, die daraus entstehenden negativen Gefühle führen zur Anspannung, der Spannungsabbau erfolgt häufig durch Essen, und das Gewicht steigt weiter.
Feststellung von Übergewicht und Adipositas
Die Standortbestimmung umfasst unter anderem eine Risikoabschätzung via BMI beziehungsweise Messung des Bauchumfangs und die Abklärung der kardiovaskulären Risikofaktoren. Der AGLA-Score und das dabei ermittelte Risiko können helfen, das Thema anzusprechen. Ein Blick auf die Leber gehört dazu (Liegt eine Steatose vor?), und bei Müdigkeit oder nächtlichen Atemaussetzern sollte eine Abklärung im Schlaflabor erfolgen. Zur Therapie gehören die bereits beschriebenen konservativen Massnahmen, gegebenenfalls kann auch eine Verhaltenstherapie hilfreich sein.
Hausärztliche Perspektive
Der adipöse Patient komme nicht unbedingt wegen des Übergewichts in die Praxis, meistens stehe ein anderes Leiden im Vordergrund oder eine Fachperson schicke ihn, berichtete Hausarzt Dr. med. Florian Kuss, Ossingen. Man sollte jedoch versuchen, in vertrauensvollem Klima die Motivation zur Gewichtsabnahme zu evaluieren. Bei Patienten, zu denen man ein langjähriges gutes Verhältnis habe, sei es wichtig, das
Bedingungen zur Kostenübernahme
Die Verordnung von Saxenda® muss über einen Endokrinologen oder ausgewählte Ärzte mit Erfahrung in der Adipositasbehandlung erfolgen (siehe www.bag.admin.ch/sl-ref), ergänzend zu einer dokumentierten 500-kcal/Tag-Defizit-Diät, einer Ernährungsberatung und einer belegten körperlichen Aktivität bei motivierten Patienten ohne Vorbehandlung mit GLP-1-RA und einem BMI > 35 kg/m2 oder > 28 kg/m2 mit kardiovaskulären Begleiterkrankungen. Ausgeschlossen sind Patienten nach oder mit geplanter/bevorstehender bariatrischer Operation. Saxenda® darf weder mit anderen GLP-1-RA noch mit Gliptinen, SGLT2-Inhibitoren, Insulin oder anderen Arzneimitteln zur Gewichtsreduktion kombiniert werden.
Quelle: www.spezialitätenliste.ch
Medikamentöse Optionen
Zur medikamentösen Unterstützung der Gewichtsabnahme kann der GLP-1-Rezeptor-Agonist (GLP-1-RA) Liraglutide (Saxenda®) verschrieben werden, so Möller-Goede. In der SCALE™-Studie konnte nach 1 Jahr im Vergleich zu Kalorienreduktion und vermehrter Bewegung plus Plazebo ein grösserer Gewichtsverlust (Abnahme um 9,2 vs. 3,5%; p < 0,001) gezeigt werden, wenn stattdessen Liraglutide hinzugegeben wurde, ausserdem hatten weniger Patienten neu einen Prädiabetes entwickelt (1). Als Nebenwirkungen machten sich hauptsächlich gastrointestinale Beschwerden bemerkbar, vor allem in den ersten 1 bis 2 Monaten. 6,4 Prozent der Teilnehmer beendeten deshalb die Therapie. Die Übelkeit sei erfahrungsgemäss abhängig von der Dosis und davon, wie gut sich die Patienten an die Ernährungsempfehlungen hielten, berichtete Möller-Goede. Je fettreicher die Ernährung, desto stärker sei die damit einhergehende Übelkeit. In der 3-Jahres-Studie, an der nur Patienten mit Prädiabetes teilnahmen, lag die Abnahme unter Liraglutide nach 160 Wochen bei ca. 7 Prozent des Ausgangsgewichts, unter Plazebo bei 2,7 Prozent. Das Risiko für die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes konnte um ca. 80 Prozent gesenkt werden (Liraglutide: 3% vs. Plazebo: 11%) (2). Seit dem 1. April 2020 wird die Verschreibung von Liraglutide in dieser Indikation während maximal 3 Jahren nach
ARS MEDICI 24 | 2021
751
BERICHT
Kostengutsprache von den Krankenkassen vergütet, wenn die Limitationen erfüllt sind (siehe auch Kasten Seite 751). Nach der Initialphase ist die Gewichtsreduktion nach 16 Wochen und 6 Monaten zur weiteren Kostenübernahme zu belegen. Es besteht die Gefahr, dass das Gewicht nach Absetzen der Medikation wieder steigt. Wahrscheinlich handle es sich um eine lebenslange Therapie, so Möller-Goede.
Indikation für bariatrischen Eingriff
Ist es nach mindestens 6 Monaten umfassender Lebensstilintervention in den letzten 2 Jahren nicht gelungen, das Ausgangsgewicht um mehr als 15 Prozent (BMI: 35–39,9 kg/m2) respektive mehr als 20 Prozent (BMI: > 40 kg/m2) zu senken, gelten die konservativen Massnahmen als erschöpft, und die Indikation für einen bariatrischen Eingriff sei gegeben, erläuterte Kuss. Auch bei erfolgreicher Gewichtsreduktion ist das der Fall, wenn fortbestehende adipositasassoziierte Erkrankungen durch adipositaschirurgische oder metabolische Operationen weiter verbessert werden können. Steigt das Gewicht nach erfolgreicher Reduktion wieder um mehr als 10 Prozent an, gilt die konservative Therapie nach 1 Jahr ebenfalls als erschöpft (3). Des Weiteren sollten folgende Kriterien erfüllt sein: Alter 18 bis 65 Jahre, BMI 35 bis 60 und ein Risiko von 1 bis 3 im ASA-Score (American Society of Anesthesiologists). Alkohol- oder Drogenabusus sowie instabile psychische Erkrankungen sollten ausgeschlossen werden. Ist das der Fall, kann zur weiteren Evaluation und Beratung an ein Adipositaszentrum überwiesen werden. Bestätigt das Zentrum die Indikation, umfasst die präoperative Basisdiagnostik in der Regel ein EKG und ein Basislabor. Bei der Bariatrie kommen eine Gastroskopie (Helicobacter pylori? Ulkus? GERD?) und eine Sonografie (Cholelithiasis?) hinzu. Ausserdem ist eine psychiatrische Beurteilung gesetz-
lich vorgeschrieben. Abhängig von der Risikoabschätzung gemäss ASA-Status des Patienten kommen Thorax-Röntgen sowie eine kardiologische (Echokardiografie, Ergometrie) und eine pulmologische (Lungenfunktion, Pulsoxymetrie) Abklärung hinzu. Zusätzlich sei in den 14 Tagen vor einem bariatrischen Eingriff idealerweise eine eiweissreiche energiearme Nahrung anzuraten, und 6 Wochen davor, so möglich, sollte der Tabakkonsum sistiert werden, sagte Kuss.
Postoperative Kontrollen und Intervalle
Zur postoperativen Kontrolle beziehungsweise Nachsorge gehören eine Thromboseprophylaxe und Protonenpumpeninhibitoren im ersten Monat nach dem Eingriff. Die Gewichtsentwicklung und das Essverhalten sollten im Auge behalten werden, ebenso die Medikation (Anpassung erforderlich?) und die allfällige Supplementation. Die Kontrollen sollten in den ersten beiden Jahren relativ engmaschig erfolgen, danach reichen in der Regel jährliche Intervalle. Postoperativ sollten die Patienten nach 1, 3, 6, 12, 18 und 24 Monaten zur Konsultation einbestellt werden, die Laborwerte (BB, Na, K, Ca, Leber-und Nierenwerte, Albumin, ggf. HbA1c, CRP [wg. Ferritin], ggf. Lipide, INR; weitere Parameter je nach Eingriff, siehe Tabelle) sollten nach 3, 6 und 12 Monaten und dann weiterhin einmal pro Jahr überprüft werden (beim distalen Bypass alle 6 Monate). In den ersten beiden Jahren nach dem Eingriff sollte eine Schwangerschaft vermieden werden, weil es in dieser Phase zur Unterversorgung der Schwangeren kommen kann. Die Patienten sollten zu körperlicher Aktivität ermuntert und der Besuch einer Selbsthilfegruppe sollte empfohlen werden. Auch nach dem Eingriff sollte sonografisch kontrolliert werden, ob sich gegebenenfalls Gallensteine entwickeln. Bei einer Sleeve-Gastrektomie ist nach 2, 5 und 10 Jahren an eine
Tabelle:
Monitoring der Laborparameter gemäss bariatrischem Eingriff
LAGB SG pRYGB BPD-DS
Nach 6 und 12 Monaten, danach jährlich
Nach 3,6 und 12 Monaten, bei proximalen
Bypässen danach jährlich, bei distalen
Bypässen danach halbjährlich
Protein X X
X X
Ferritin X X
X X
Vitamin B12 X
X
X
X
Folsäure X X
X
X
Vitamin B1 x
X
X
X
Vitamin D-25(OH)
X
X X
Kalzium X X
X
X
Vitamin E
X X
Vitamin K
X X
Kupfer
X
Parathormon
X
X
Vitamin A
X X
Selen X
Zink X X
Knochendichte
fakultativ, in Abhängigkeit vom Verfahren und vom individuellen Risiko
LAGB = Magenband; SG = Schlauchmagen; pRYGB = proximaler Roux-en-Y-Magenbypass; BPD-DS = biliopankreatische Diversion mit «duodenal switch»
752
ARS MEDICI 24 | 2021
LINKTIPP
Praxisleitfaden Adipositas
Zur Kurzversion des Adipositas-Consensus als Arbeitsinstrument für den Praxisalltag gelangen Sie direkt via QR-Code oder über www.rosenfluh.ch/qr/praxisleitfaden-adipositas
Komplettes Webinar nachverfolgen
Im Rahmen des Webinars beschäftigte sich Dr. med. Thomas Bächler, Kantonsspital Winterthur, mit der Frage, was bariatrische Operationen bewirken können und was nicht. Er warnte vor einer vorschnellen Stigmatisierung Adipöser. Er schilderte, was man hinsichtlich Gewichtsreduktion, Komorbiditäten und Lebensqualität realistisch erwarten dürfe und warum nach einem bariatrischen Eingriff schneller die Gefahr für einen Alkoholabusus bestehe. Zum Webinar gelangen Sie via QR-Code.
BERICHT
Gastroskopie zu denken (stummer GERD, Hernie, Barett), und nach einem Bypass sollte nach 2, 5 und 10 Jahren eine DEXA-Messung erfolgen, da die Compliance bei der Kalziumsubstitution oft schlecht ist. Die lebenslange Supplementation mit Nährstoffen, Vitaminen und Spurenelementen richtet sich nach den Laborwerten. Das Fazit von Kuss: Dem Hausarzt kommt eine Schlüsselrolle bei der Betreuung der adipösen Patienten zu. Er sollte keine Hemmungen haben und sich nicht scheuen, seine Patienten darauf anzusprechen. Die Bedeutung der Hausärzte im Austausch mit den Spezialisten bei der Betreuung von adipösen Patienten unterstrich auch PD Dr. med. Daniel M. Frey, Wetzikon, Präsident des Adipositas-Netzwerks. s
Christine Mücke
Quelle: Webinar «Behandlung des adipösen Patienten» des Adipositas Netzwerks, 2. November 2021, virtuell
Literatur: 1. Pi-Sunyer X et al.: A Randomized, Controlled Trial of 3,0 mg of Liraglutide
in Weight Management. N Engl J Med. 2015;373(1):11-22. 2. le Roux CW et al.: 3 years of liraglutide versus placebo for type 2 diabetes
risk reduction and weight management in individuals with prediabetes: a randomised, double-blind trial. Lancet. 2017;389(10077):1399-1409. 3. S3-Leitlinie: «Chirurgie der Adipositas und metabolischer Erkrankungen». AWMF Vers. 2.3, 02/2018