Transkript
AD(H)S-Behandlung in der Praxis
7 wichtige Fragen und Antworten
FORTBILDUNG
Dient AD(H)S oft nicht doch nur als Entschuldigung für fehlende Erziehung, die Auflösung von Grenzen und Regeln sowie exzessiven Gebrauch digitaler Medien? Kann man das Syndrom auch ohne Medikamente behandeln? Und wie geht es im Erwachsenenalter weiter? Bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit AD(H)S stellen Eltern immer wieder diese und weitere häufige Fragen.
Sabine Müller-Löw und Helmut Peters
Frage 1: Ist AD(H)S nicht doch nur eine neue Modediagnose, die dazu benutzt wird, Erziehungsfehler in Familien, schlechte Schulleistungen und Verhaltensauffälligkeiten zu vertuschen? Dr. med. Helmut Peters und Dr. med. Sabine Müller-Löw: AD(H)S, eine synaptische Wiederaufnahmestörung für den Botenstoff Dopamin, ist mit über 5 Prozent eine der häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen. Mindestens 1 von 20 Kindern ist davon betroffen. Die Erkrankung ist genetisch bedingt und persistiert bis ins Erwachsenenalter. AD(H)S ist kein Erziehungsfehler. AD(H)S ist auch keine Modediagnose. Die älteste uns vorliegende Beschreibung dieses Symptomkomplexes erfolgte 1775 durch den Arzt Melchior Adam Weikard. Die wohl bekannteste Beschreibung dieser Erkrankung und ihrer Komorbiditäten dürfte der «Struwwelpeter» von Heinrich Hoffmann sein, der selbst davon betroffen war. Die typischen Auffälligkeiten werden seit Langem beschrieben und wurden früher als minimale zerebrale Dysfunktion (MCD) bezeichnet.
Frage 2: Wie sehen die Symptome bei AD(H)S aus? Peters/Müller-Löw: Die Kernsymptome sind Störung der Konzentration und der Merkfähigkeit, der Impulskontrolle, gegebenenfalls Hyperaktivität. Dies bedeutet für die betrof-
MERKSÄTZE
� Grundsätzlich gilt: Nur bei Leid wird behandelt.
� Ein ausgeprägtes AD(H)S ist ohne Pharmakotherapie nicht ausreichend behandelbar, weil die supportiven Massnahmen nicht greifen können.
� Bei unbehandelten Kindern und Jugendlichen mit ausgeprägtem AD(H)S besteht eine erhöhte Neigung zu Depressionen.
fenen Kinder und Familien oft erhebliches Leid, wenn sie nicht behandelt werden. Die Kinder bleiben wegen dieser Störung der Performance hinter ihren Möglichkeiten zurück. Die Kernsymptome liegen bei den Patienten unterschiedlich stark ausgeprägt vor. Ist vornehmlich die Konzentration betroffen, wird dies als Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) bezeichnet. Steht die Hyperaktivität im Vordergrund, wird die Bezeichnung Hyperaktivitätss törung oder Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität (ADHS) verwendet. Beide Formen haben dieselbe Ätiologie und werden als Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit oder ohne Hyperaktivität (AD[H]S) zusammengefasst. Dabei gibt es im Kindesalter geschlechtsspezifische Akzentuierungen: Die hyperaktive Form liegt häufiger bei Knaben vor. Mit zunehmendem Alter reduziert sich die äussere Hyperaktivität. Die Patienten wirken äusserlich nicht mehr so hyperaktiv, allerdings internalisiert die Hyperaktivität und bewirkt eine innere Getriebenheit, ein Chaos im Kopf.
Frage 3: Wie wird die Diagnose gestellt? Peters/Müller-Löw: Die Diagnose wird von Ärztinnen und Ärzten sowie Psychologinnen und Psychologen gestellt, die mit dem Störungsbild vertraut sind. Klassifikationen wie ICD10 (International Statistical Classification of Diseases und Related Health Problems), DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und CBCL (Child Behavior Checklist) unterstützen bei der Diagnose, ersetzen aber keinesfalls die Bewertung durch eine in der AD(H)S-Diagnose erfahrene Fachperson, denn häufig ist AD(H)S als Grunderkrankung von Komorbiditäten überlagert. Bei Vorliegen von visuellen oder auditiven Wahrnehmungsstörungen, bei Teilleistungsstörungen (LRS, Dyskalkulie), Enuresis, Enkopresis, Delinquenz und erhöhtem Suchtverhalten, Auffälligkeiten der Komplex- und Feinmotorik, Migräne, Depression, Borderline und Essstörungen sollte immer abgeklärt werden, ob möglicherweise AD(H)S die Ursache ist.
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FORTBILDUNG
Frage 4: Wie wird ein Kind mit AD(H)S behandelt? Peters/Müller-Löw: Grundsätzlich gilt: Nur bei Leid wird behandelt. Und ob gelitten wird, entscheiden die Patientin beziehungsweise der Patient und die Familie. Die Therapie basiert auf drei Säulen: Information über die Erkrankung, pädagogische Massnahmen und Pharmakotherapie. In einem ersten Schritt ist es wichtig, die Betroffenen und ihre Familien über das Krankheitsbild so zu informieren, dass alle verstehen, dass es sich um eine synaptische Wiederaufnahmestörung für den Botenstoff Dopamin handelt. So wird klar, dass es sich weder um böswilliges Verhalten noch um einen Erziehungsfehler handelt. In einem zweiten Schritt sollte überlegt werden, welche verhaltens- und familientherapeutischen Massnahmen geeignet sind, um den AD(H)S-Symptomen zu begegnen, um weg von der Abwärtsspirale und hin zum Erfolg zu kommen. Sehr wichtig ist die Zusammenarbeit aller Beteiligten im familiären, medizinischen, pädagogischen und schulischen Bereich. Wenn diese Massnahmen nicht genügen, ist eine Pharmakotherapie angezeigt, für die weltweite Leitlinien vorhanden sind. Die Mittel der ersten Wahl und der Goldstandard sind die Stimulanzien Methylphenidat, Lisdexamphetamin und Amphetamin (Anm. d. Red.: In der Schweiz sind keine Medikamte mit Amphetamin zugelassen). Es liegen unzählige Studien vor. Seit der Erstzulassung in den 1950er-Jahren wurden lediglich 2 Fälle von Leberschädigungen (DILI: drug-induced liver injury) beschrieben. Als Mittel der zweiten Wahl sind Guanfacin und Atomoxetin zu nennen. Atomoxetin kommt insbesondere dann infrage, wenn emotionale Schwankungen im Vordergrund stehen.
Frage 5: Machen die Medikamente süchtig? Peters/Müller-Löw: Bei den genannten Medikamenten besteht keine Suchtgefahr. Studien zeigen, dass das bei einer AD(H)S-Erkrankung bestehende erhöhte Suchtpotenzial durch die Behandlung mit Stimulanzien bis zu 30 Prozent gesenkt werden kann. Die Dosierung erfolgt schrittweise in Rücksprache mit Eltern, Patienten und Lehrkräften, um so die individuelle, optimale Dosierung zu ermitteln.
Frage 6: Geht es auch ohne Medikamente? Peters/Müller-Löw: Ein ausgeprägtes AD(H)S ist ohne Pharmakotherapie nicht ausreichend behandelbar, die supportiven Massnahmen können nicht greifen, unbehandelt besteht eine erhöhte Neigung zu Depressionen.
Frage 7: Welche Bedeutung hat ein AD(H)S für Jugendliche,
und wie geht es weiter, wenn sie erwachsen werden?
Peters/Müller-Löw: AD(H)S-relevante Themen bei Jugend-
lichen und jungen Erwachsenen sind
s Probleme bei der Selbstorganisation und -versorgung nach
Wegfall des familiären und schulischen Rahmens
s das erhöhte Auftreten von Unfällen und Ordnungswidrig-
keiten sowie ein riskanter Fahrstil, das häufige Abbrechen
und Wechseln von Studium, Lehre und Beruf
s Sucht, ausschweifende Sexualität und Probleme in der
Partnerschaft
s finanzielle Fragen.
Es muss sichergestellt sein, dass die Medikation weitergeführt
wird und das Wissen und das Verständnis bei den Behand-
lerinnen und Behandlern für diese Themen vorhanden sind.
Nur ein Teil der AD(H)S-wirksamen Medikamente ist im
Erwachsenenalter in der obligatorischen Krankenversiche-
rung verordnungsfähig. Deshalb sollte man bereits im Kindes-
und Jugendalter nach Möglichkeit auf diese Medikamente
umstellen, um den Transitionsprozess zu ermöglichen. Auch
ist es wünschenswert, im Vorfeld mit den weiterhin Behan-
delnden in Kontakt zu treten. Die Transitionsthematik ist
bisher sehr unzulänglich geklärt und gefährdet massiv die
Versorgung dieser Patientinnen und Patienten.
Menschen mit AD(H)S sind warmherzige, kreative, fantasie-
volle, risikofreudige, nicht nachtragende, spontane, beharr-
liche, energiegeladene, lustige und hilfsbereite Weggefährten
in einer immer angepassteren Welt. Sie tragen, wenn sie gut
in ihrer Kompetenz sind, zur Farbigkeit unserer Welt bei. Sie
müssen diese Behandlung so erfahren, dass sie das auch zeigen
können. Das ist unsere Aufgabe als Behandlerinnen und Be-
handler.
s
Korrespondenzadresse: Dr. med. Sabine Müller-Löw Dr. med. Helmut Peters Zielkunft – Institut für systemische Beratung Kapellenstrasse 9 D-55124 Mainz E-Mail: info@zielkunft.de
Interessenlage: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Dieser Artikel ist die überarbeitete Version eines Beitrags, der zuerst in der Zeitschrift «Kinderärztliche Praxis» 3/2021 erschienen ist. Die Übernahme erfolgte mit freundlicher Genehmigung durch die Autoren und den Verlag Kirchheim.
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