Transkript
INTERVIEW
30 Jahre Arud
Von einer kleinen Initiative zu einem der grössten ambulanten Suchtzentren Europas
Die Arud feierte im November dieses Jahres ihren 30. Geburtstag, ein Anlass, um zu gratulieren und einen Blick auf die Anfänge sowie das heute Erreichte zu werfen. Über die Herausforderungen für die suchtmedizinische Non-Profit-Organisation damals und heute unterhielten wir uns mit PD Dr. Philip Bruggmann, Chefarzt Innere Medizin.
Ars Medici: Die Arud gibt es seit 1991. Wie hat alles angefangen? PD Dr. Philip Bruggmann: Angefangen hat alles zu Zeiten der offenen Drogenszene mit katastrophalen Zuständen, die aber den Weg für die 4-Säulen-Drogenpolitik geebnet haben. Ein grosser Wurf, mit dem die Schweiz lang führend war. Im Zuge dessen haben sich ein paar Ärzte, mehrheitlich Hausärzte, zusammengetan – kurz vor der behördlichen Schliessung des Zürcher Platzspitzes, damals Europas grösste offene Drogenszene. Sie wollten sich rechtlich absichern, um schwerstabhängige Personen niederschwellig mit Methadon behandeln zu können. Relativ rasch haben sie einige 100 Patientinnen und Patienten in ein Methadonprogramm aufgenommen, umfassend und auch hausärztlich betreut. Als Pionierorganisation musste die Arud sich rechtfertigen und zeigen, dass der Ansatz funktioniert und die Qualität gut ist. Deshalb wurden die neuen Behandlungen von Beginn an evaluiert und Projekte wissenschaftlich begleitet. Heute versorgen wir 2500 Patientinnen und Patienten, und unser Einzugsgebiet reicht weit über die Zürcher Kantonsgrenzen hinaus.
Was macht die Arud heute aus? Bruggmann: Was uns ausmacht, ist die Breite des integrierten Versorgungsangebots unter einem Dach – von psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung über internistische, hausärztliche und infektiologische Angebote bis zu Sozialarbeit und Präventionsmassnahmen. Wir sind wahrscheinlich eine der grössten Suchtambulanzen im europäischen Raum, ein solch umfassendes Angebot in dieser Grösse gibt es meines Wissens nicht noch einmal. Weiter zeichnen die Arud ihre akzeptierende Haltung gegenüber ihren Patientinnen und Patienten und ihr politischer Einsatz für die Anliegen von Menschen mit Substanzkonsum aus. Was noch hinzu kommt: Die meisten Angebote im Suchtbereich werden von der öffentlichen Hand betrieben und sind defizitär. Wir aber finanzieren uns ohne Steuergelder, werden nicht subventioniert. Das schaffen wir bis anhin mit den Leistungen, die sich mit den Kassen abrechnen lassen, sowie mit Fundraising und Drittmitteln, die wir einbringen. Das ist einerseits eine Herausforderung, treibt uns andererseits aber natürlich an, uns stets weiterzuentwickeln, um uns von ande-
Foto: zVg
Zur Person
PD Dr. Philip Bruggmann Philip Bruggmann ist Chefarzt Innere Medizin der Arud, Präsident von Hepatitis Schweiz, Mitglied in den Vorständen der Swiss Association for the Study of the Liver (SASL) und der Swiss Association for the Medical Management of Substance Users (SAMMSU), Research Associate am Institut für Hausarztmedizin an der Universität Zürich, Co-Herausgeber der Fachzeitschrift «Suchtmedizin» und Mitglied im Beirat von ARS MEDICI. Er war Gründungspräsident des International Network on Health and Hepatitis in Substance Users (INHSU, www.inhsu.org).
ren Angeboten abzuheben. Ausserdem sind wir in der Ausund Weiterbildung sowie in der Forschung aktiv. Diese Mischung macht es spannend und die Arud zu einem attraktiven Arbeitsplatz.
Welche Abhängigkeitserkrankungen stehen im Vordergrund Ihrer Tätigkeit? Bruggmann: Anfänglich stand die Heroinabhängigkeit im Vordergrund: Zur Zeit der offenen Drogenszene war der Aufbau eines niederschwelligen Methadon- und Diaphinprogramms zentral, begleitet von einem hausärztlichen, infektiologischen und psychiatrischen Angebot. Inzwischen kümmern wir uns jedoch gleichermassen um Menschen mit Abhängigkeiten und problematischem Konsum von Alkohol, Cannabis, Kokain, Benzodiazepinen und anderen Stimulanzien, aber auch um Menschen mit Verhaltenssüchten wie Spiel- oder Onlinesucht.
Welchen Stellenwert hat die Opioidabhängigkeit in der Schweiz? Bruggmann: Menschen, die von verschriebenen Opioiden abhängig werden, gibt es auch bei uns, und ihre Zahl steigt an, aber in einem viel geringeren Ausmass als in den USA. Die suchtmedizinische Versorgung ist in den USA in vielen Be-
742
ARS MEDICI 24 | 2021
INTERVIEW
reichen völlig unterentwickelt. In der Schweiz haben wir viel bessere Voraussetzungen zur Früherkennung, eine ganze Palette an Versorgungsangeboten und viel mehr und leichter zugängliche, schadensmindernde, ambulante Angebote. Auch die Verschreibung von Opioiden als Schmerzmedikation funktioniert bei uns ganz anders als in den USA. Ausserdem
Es ist heute schwierig, gute Fachkräfte zu finden, die bereit sind, in der Suchtmedizin zu arbeiten und die notwendigen Fähigkeiten mitbringen.
sind wir uns in Anbetracht der Situation in den USA der Gefahren mehr und mehr bewusst. Derzeit leiden von unseren rund 2500 Patientinnen und Patienten etwa 1400 an einer Opioidabhängigkeit. Bei den wenigsten von ihnen stand eine Opioidschmerzmittelverschreibung am Anfang.
Wie finden die Patientinnen und Patienten zu Ihnen? Bruggmann: Patientinnen und Patienten mit einer Opioidabhängigkeit weisen sich meistens selbst zu, ansonsten erhalten wir Zuweisungen aus dem hausärztlichen Bereich, von Kollegen, Spitälern, aber auch Anfragen aus der Justiz oder via Internet. Schwerpunktmässig betreuen wir Patientinnen und Patienten mit einer Alkohol-, Kokain- und Cannabisabhängigkeit. Wir erhalten aber auch Zuweisungen für HIV-, Hepatitis- und andere infektiologische Behandlungen bei Personen ohne Substanzproblematik. Wir arbeiten nicht ausschliesslich abstinenzorientiert, sondern orientieren uns zieloffen an den Wünschen und Vorstellungen der zu behandelnden Personen. Bei ärztlichen Zuweisungen richten wir unser Angebot ganz auf die Wünsche der Zuweisenden aus: Das kann von einer gesamthaften Betreuung bis zu einer Teilberatung oder -abklärung reichen. Wir zwingen niemanden in ein Behandlungskorsett, sondern wir passen unsere Angebote immer dem Individuum an – nur auf dieser Basis kann es funktionieren.
Wir sind eine der wenigen Institutionen, die eine suchtmedizinische Weiterbildung anbieten.
Um welche Herausforderungen ging es früher, um welche geht es heute? Bruggmann: Früher waren die rechtlichen Rahmenbedingungen die zentrale Herausforderung. Alles war neu, und es musste gegen das weitverbreitete Vorurteil gekämpft werden, wonach mit der Abgabe von Methadon oder von Spritzen und Nadeln nicht Schaden gemindert, sondern der Substanzkonsum gefördert würde. Diese Behauptung ist mittlerweile zum Glück widerlegt – die wissenschaftliche Evidenz ist eindeutig. Heute sehen wir uns unter dem Druck der Krankenkassen
zunehmend finanziell gefordert. Wir bekommen immer weniger Geld für die Leistungen, aber die Fixkosten wie Löhne und Mieten bleiben bestehen oder steigen. Unsere zentrale Lage beim Hauptbahnhof Zürich ist für viele unserer Patientinnen und Patienten, die mehrmals in der Woche zu uns kommen, eine grosse Entlastung und auch ein attraktiv gelegener Arbeitsort, aber finanziell eine Herausforderung. Die nächste Herausforderung ist der Ärztemangel. Es ist heute schwierig, gute Fachkräfte zu finden, die bereit sind, in der Suchtmedizin zu arbeiten, und die notwendigen Fähigkeiten mitbringen, die man bei uns braucht. Wir sind eine der wenigen Institutionen, die eine suchtmedizinische Weiterbildung anbieten, sei es für Assistenz- oder Fachärzte, die noch einen Zusatztitel erwerben möchten: Für die Weiterbildung Allgemeine Innere Medizin kann man sich bei uns 1,5 Jahre anerkennen lassen, für Psychiatrie 2 Jahre. Im Gegensatz zu den stationären Anbietern von Weiterbildungsstellen erhalten wir dafür keine öffentlichen Gelder.
Wir haben es uns von Anfang an zur Aufgabe gemacht, uns auch politisch für die Anliegen unserer Klientel einzusetzen.
Herausforderungen und Angebote gibt es aber auch jenseits der reinen Medizin ... Bruggmann: Ja, seit etwa 3 Jahren haben wir Peers für Aufklärung, Sensibilisierung und Schulungen angestellt, zum Beispiel im Hepatitis-C-Bereich. Das hat sich mittlerweile sehr bewährt, und unsere Peer-Mitarbeitenden sind nicht mehr wegzudenken. In Zukunft werden sie auch im Bereich der
30 Jahre Arud
Der gemeinnützige Verein wurde 1991 als Antwort auf die Schliessung der offenen Drogenszenen gegründet. Die «Arbeitsgemeinschaft für einen risikoarmen Umgang mit Drogen», kurz Arud, engagiert sich seither für eine angemessene Behandlung von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen und problematischem Substanzkonsum, die Entstigmatisierung Betroffener sowie eine fortschrittliche und pragmatische Suchtpolitik. Heute arbeiten an den beiden Standorten Zürich und Horgen 130 Menschen, damit zählt die Arud zu den grössten Institutionen in der Schweizer Suchtmedizin. Die Leistungen werden von der obligatorischen Grundversicherung getragen. Der Verein engagiert sich im Bereich der Aus-, Weiter- und Fortbildung: Die Arud ist eine FMH-anerkannte Weiterbildungsstätte in den Bereichen Allgemeine Innere Medizin sowie Psychiatrie und Psychotherapie, und sie bildet angehende Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter aus. In den Bereichen Ausbildung und Forschung ist sie mit dem Zürcher Institut für Hausarztmedizin assoziiert.
ARS MEDICI 24 | 2021
743
INTERVIEW
LINKTIPP
Wichtige Meilensteine
Auf der Homepage der Arud können Sie wichtige Meilensteine aus den letzten 30 Jahren von den Anfängen im Bereich der Suchtmedizin 1991 bis zum Engagement für die Ausrottung der Hepatitis C anschaulich nachverfolgen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Seit 1999 ist die Arud als erstes nicht universitäres Zentrum an der vom Schweizerischen Nationalfonds getragenen Hepatitis-C-Kohorte beteiligt. 2009 fand das erste internationale Symposium zur Behandlung der an Hepatitis C erkrankten Substanzabhängigen statt, mit dem die Grundsteine für den Aufbau eines nationalen sowie internationalen Hepatitisnetzwerks gelegt wurden. Mit der Einbindung von Peers im Hepatitis-C-Bereich begann 2018 ein weiteres Pilotprojekt, das bei Betroffenen grossen Anklang findet. Mehr unter folgendem Link oder direkt via QR-Code: www.rosenfluh.ch/qr/arud_30jahre
2. Arud-Symposium
Das 2. Arud-Symposium widmete sich dem Thema der Schadensminderung mit E-Zigaretten. Dabei ging es sowohl um den potenziellen Schaden von Nikotin und E-Zigaretten als auch um Fragen zur sinnvollen Marktregulierung dieser Produkte.
Das Symposium können Sie nachverfolgen via QR-Code oder folgendem Link: www.rosenfluh.ch/qr/2_arud_symposium
Vorsorge, insbesondere gynäkologische und zahnmedizinische Vorsorge, vermehrt aktiv werden. Ihren Einsatz finanzieren wir mit Drittmitteln. Ziel für nächstes Jahr ist es, weitere professionell geschulte Peers in die psychosoziale suchtmedizinische Versorgung einzubinden. Diese Arbeit kann auch abgerechnet werden. Zudem haben wir zwei Sozialarbeiterinnen und eine Praktikantin, die subsidiär zu den sozialen Diensten der öffentlichen Hand Aufgaben übernehmen. Eine stabile soziale Situation ist Grundlage für eine gute, langfristige medizinische Versorgung. Leider lässt sich unsere sozialarbeiterische Tätigkeit durch die Leistungen der Krankenkassen nicht kostendeckend betreiben. Gemäss unserem Leitbild ist ein weiterer wichtiger Teil unserer Arbeit das politische Engagement. Wir haben es uns von Anfang an zur Aufgabe gemacht, uns auch politisch für die
Anliegen unserer Klientel einzusetzen, Stellung zu beziehen und Lobbyarbeit in Fragen der Suchtmedizin und in Bezug auf HIV und Hepatitis C zu leisten. Die Suchtmedizin ist sicher der am stärksten politisierte Bereich der Medizin.
Wie sieht es aus in Sachen Fort- und Weiterbildung? Bruggmann: Wir haben im Bereich von Ausbildung und Forschung eine langfristige, enge Kooperation mit dem Institut für Hausarztmedizin in Zürich. Das zahlt sich aus: In der inneren Medizin haben wir mittlerweile keine Nachwuchsprobleme mehr. Wir sind ebenso im Bereich Fortbildung aktiv, sowohl als Dienstleistung für unsere Zuweisenden wie auch als Netzwerktätigkeit. Ausserdem sehen wir es als Aufgabe einer Institution wie der unsrigen, mit einem gewissen Anspruch meinungsbildend zu sein.
Welche Herausforderungen hat die Coronavirus-Pandemie mit sich gebracht? Bruggmann: Die Pandemie hat im beruflichen Alltag anfänglich und auch auf längere Sicht viel verändert. Unser Patientenkollektiv, im Schnitt über 50 Jahre alt, hat grossteils mehrere chronische Erkrankungen und Komorbiditäten. Es ist also eine Hochrisikopopulation, die wir schützen müssen. Das war und ist mit einem erheblichen Mehraufwand verbunden. Wir haben mehr Hausbesuche und mehr Videokonsultationen durchgeführt, und wir mussten unsere Infrastruktur anpassen, um auf Corona testen zu können und um die Vorschriften einzuhalten. Aber es gibt für die Betroffenen auch Erleichterungen, die wir nun als positive pandemiebedingte Errungenschaften beibehalten dürfen! Beispielsweise ist es jetzt möglich, Diaphin (medizinisches Heroin) bis zu 7 Tage und andere Substanzen bis zu 30 Tage mit nach Hause zu geben – selbstverständlich nur bei Personen, bei denen wir das vertreten können. Für diese Personen bedeutet die neue Regelung eine grosse zeitliche Entlastung: Wenn man alle 2 Tage ins Zentrum kommen muss, um die Versorgung mit seiner Substanz sicherzustellen, ist eine berufliche und soziale Eingliederung schwierig. Die grössten Herausforderungen für einen Betrieb ohne Subventionen waren jedoch finanzieller Art. Wir hatten schmerzhafte Einbussen im ersten Lockdown und bis heute beträchtliche Mehrausgaben für Pandemieschutzmassnahmen, aber wir erholen uns wieder.
Dann wünsche ich alles Gute für die nächsten 30 Jahre.
Bruggmann: Vielen Dank!
Das Interview führte Christine Mücke.
Informationen zu Ansprechpartnern, Angeboten und Fortbildungen der Arud finden Sie auch unter www.docinside.ch.
DOCINSIDE
Aus der Praxis für die Praxis
744
ARS MEDICI 24 | 2021