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BERICHT
Zerebrale venöse Sinusthrombose nach COVID-Impfung
Studie gibt Anhaltspunkte zur Therapie
Eine im Rahmen der 7. European Stroke Organisation Conference (ESOC) vorgestellte Beobachtungsstudie aus England bietet Hand zur Versorgung von Patienten, die nach einer COVID-19-Impfung eine zerebrale venöse Sinusthrombose (CVST) entwickelt haben.
Eine durch Impfstoff induzierte immunthrombotische Thrombozytopenie (vaccine-induced immune thrombotic thrombocytopenia, VITT) ist durch eine Okklusion der Venen sowie eine deutliche Verringerung der Thrombozyten gekennzeichnet; ihre häufigste und schwerste Manifestation ist die CVST. Den Beobachtungen der Forscher vom University College London Hospital (UCLH) und vom University College London (UCL), UK, gemäss, scheinen einige Therapien, wie zum Beispiel intravenöses Immunglobulin, mit besseren Verläufen verbunden zu sein. Obwohl es sich um die bisher detaillierteste Beobachtungsstudie zu diesem Thema handele, so die Wissenschaftler, dürfe aber nicht zu viel in die Ergebnisse hineininterpretiert werden. Zuverlässige Erkenntnisse könnte nur eine randomisierte klinische Studie liefern. In der parallel zur Präsentation an der ESOC in der Zeitschrift «Lancet» publizierten Studie wurden 70 Patienten mit VITT-assoziierter CVST mit 25 CVST-Patienten ohne Anzeichen von VITT verglichen. Der Erfolg des englischen Impfprogramms ermöglichte es, im Vereinigten Königreich auch seltene Nebenwirkungen der COVID-19-Impfung zu untersuchen. Bereits innerhalb weniger Wochen nach Entdeckung der Impfnebenwirkung VITT begannen die Autoren mit der Sammlung ihrer Fälle. Sie erhielten Daten von 99 Patienten aus 43 Spitälern, von denen bei 95 in der Bildgebung eine CVST bestätigt werden konnte. Das mittlere Alter der Patienten in der VITT-Gruppe war mit 47 Jahren niedriger als bei denjenigen ohne VITT (57 Jahre). Die mit VITT verbundene Mortalität war hoch. An einer CVST versterben auch ohne VITT etwa 4 Prozent der Patienten im Spital. Bei den im Rahmen der Studie beobachteten Patienten mit VITT-assoziierter CVST war die Sterblichkeitsrate mit 29 Prozent etwa 7-mal so hoch. Zumindest teilweise lässt sich das dadurch erklären, dass die Thrombosierung der Venen bei dieser Erkrankung viel ausgeprägter und die Anzahl betroffener Gefässe sowohl intra- als auch extrakranial höher ist.
Therapeutische Optionen
Eine Beobachtungsstudie sei zwar nicht die ideale Plattform, um Evidenz für die Wirksamkeit von Medikamenten zu liefern, aber es könne lange dauern, bis Beweise aus randomisierten klinischen Studien vorliegen, so der Neurologe Dr.
Richard Perry, Erstautor der Studie. Die Resultate sprechen aber für die 3 Behandlungsgrundsätze, die das Expertengremium für Hämatologie auf der Grundlage früherer Arbeiten am UCLH sowie an 2 anderen europäischen Standorten formuliert hatte: 1. Verwendung einer Antikoagulation auf Nicht-Heparin-
Basis 2. Verabreichung von Therapien zur Senkung der Konzen-
tration des abnormen Antikörpers, der für diese Erkrankung verantwortlich ist 3. Vermeidung des Versuchs, die Thrombozytenzahl durch Thrombozytentransfusionen wieder auf ein normales Niveau zu bringen.
Prof. Christine Roffe, Universität Keele, berichtete, dass in der Studie sowohl die Gabe von Nicht-Heparin-Blutverdünnern als auch intravenöses Immunglobulin mit besseren Ergebnissen assoziiert waren. Das liefere die ersten klinischen Beweise aus einer grossen Fallserie für den Nutzen dieser Behandlungen. Obwohl es theoretisch gute Gründe für diese Strategien gab, fehlte bisher der klinische Wirksamkeitsnachweis. «Wir haben festgestellt, dass diejenigen Patienten, die intravenöses Immunglobulin erhielten, das Krankenhaus eher lebend verlassen und ein unabhängiges Leben führen konnten, statt auf Pflegepersonal oder Angehörige angewiesen zu sein, die sich um sie kümmerten», ergänzte der Neurologe Alastair Webb, John Radcliffe Hospital, Oxford. Die Daten können die Wirksamkeit der Therapie nicht beweisen, möglicherweise konnten die am schwersten Erkrankten gar nicht rechtzeitig behandelt werden. «Aber die Ergebnisse unterstützen diesen Ansatz, während wir nach besseren Beweisen suchen», sagte er.
Risiko bei Nichtimpfung höher
Der Einsatz von Thrombozytentransfusionen hingegen war bei Patienten mit VITT-assoziierter CVST mit schlechteren Resultaten assoziiert. Diese Beobachtung steht im Einklang mit bereits vorhandener Besorgnis über mögliche Schäden durch Thrombozytentransfusionen. Prof. Marie Scully, Hämatologin am UCLH: «So verlockend es auch sein mag, die fehlenden Thrombozyten durch eine Infusion zu ersetzen, raten wir von diesem Ansatz ab.» Man vermutet, dass die
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Anzahl an Thrombozyten bei VITT deshalb so gering sei, weil diese durch die abnorme Gerinnung schnell verbraucht würden; eine Thrombozyteninfusion könnte das Geschehen weiter befeuern. Nur bei neurochirurgischen Eingriffen sind sie erforderlich, um Blutungen zu verhindern. Die VITT-assoziierte CVST ist gravierend, scheint aber extrem selten zu sein, wie die Autoren konstatieren. Kliniker sollten sich der entsprechenden Marker in Klinik, Labor und Bildgebung bewusst sein, denn ohne unmittelbare Behandlung ist die Prognose sehr schlecht. Die Autoren betonen, dass das gesundheitliche Risiko für die meisten Menschen,
die sich nicht gegen COVID-19 impfen lassen, jedoch ver-
mutlich viel höher ist als das Impfrisiko.
s
Christine Mücke
Quellen: «Cerebral venous sinus thrombosis following vaccination against COVID19: a UK multicentre cohort study». Abstract PO0014A/#2104, ESOC, 1. bis 3. September 2021, sowie Pressemitteilung. Perry RJ et al.: Cerebral venous thrombosis after vaccination against COVID19 in the UK: a multicentre cohort study. Lancet. 2021;398(10306):1147-1156.
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