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FORTBILDUNG
FORTBILDUNG
NSAR bei muskuloskelettalen Schmerzen
Update zu Wirksamkeit und Sicherheit
Bei Kreuzschmerzen, Ischias und Arthrose oder bei verletzungsbedingten muskuloskelettalen Schmerzen werden oft NSAR angewendet. In einem Beitrag zu häufig verordneten Arzneimitteln wurde nun die Evidenz zur Wirksamkeit und zu den Risiken oraler und topischer NSAR auch im Vergleich zu anderen Analgetika für diese Indikationen ausgewertet. Des Weiteren werden Hinweise zur sicheren Anwendung dieser Schmerzmittelklasse gegeben.
British Medical Journal
Nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) gehören zu den am häufigsten verwendeten Analgetika. Sie lindern Entzündungen und Schmerzen, indem sie die Aktivität der Cyclooxygenasen 1 und 2 (COX-1, COX-2) herabsetzen und so die Prostaglandinsynthese hemmen. s Die älteren nicht selektiven Wirkstoffe Ibuprofen (Brufen®
und Generika), Diclofenac (Voltaren® und Generika) und Naproxen (Proxen® und Generika) hemmen sowohl COX-1 als auch COX-2. s Neuere selektive NSAR wie Celecoxib (Celebrex® und Generika) und Etoricoxib (Arcoxia® und Generika) hemmen gezielt COX-2, das eine bedeutendere Rolle bei prostaglandinvermittelten Schmerzen und Entzündungen spielt. Die Guidelines des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) empfehlen NSAR als Analgetika der ersten Wahl bei Kreuzschmerzen, Ischias und Arthrose. NSAR werden aber auch häufig bei muskuloskelettalen Schmerzen aufgrund akuter Verletzungen angewendet.
Wie gut wirken orale NSAR?
Wirbelsäulenschmerzen: Aus systematischen Cochrane-Reviews geht hervor, dass NSAR bei Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule nur wenig wirksamer sind als Plazebo. Dabei
MERKSÄTZE
� Orale NSAR können muskuloskelettale Schmerzen lindern, sind jedoch mit einem erhöhten Risiko für gastrointestinale, kardiovaskuläre und renale Ereignisse verbunden.
� Topische NSAR sind bei Arthroseschmerzen ebenso wirksam wie orale, aber mit weniger Nebenwirkungen assoziiert.
� Opioide lindern muskuloskelettale Schmerzen nicht besser als NSAR, sind jedoch mit der Gefahr für eine Abhängigkeit verbunden.
zeigte sich kein Unterschied zwischen selektiven und nicht selektiven NSAR. Arthrose: Auch bei arthrosebedingten Schmerzen sind NSAR nur marginal wirksamer als Plazebo. Dies zeigt eine Netzwerkmetaanalyse, in der 76 randomisierte Studien mit insgesamt 58 451 Teilnehmern ausgewertet wurden. Eine etwas ausgeprägtere Wirksamkeit (> 10 Punkte auf einer Skala von 100 Punkten) wurde unter hohen Tagesdosen von Diclofenac (150 mg), Naproxen (1000 mg), Ibuprofen (2400 mg) und Etoricoxib (60 mg) beobachtet. Andere arthritische und muskuloskelettale Beschwerden: In systematischen Reviews erwiesen sich NASR bei Schmerzen aufgrund von axialer Spondyloarthritis, Tendinopathie der Rotatorenmanschette und akuter Knöchelverstauchung als wirksam. Zur Wirksamkeit bei Ellenbogenschmerzen liegt nur wenig und widersprüchliche Evidenz vor.
Wie gut wirken topische NSAR?
Arthrose: In einer Netzwerkmetaanalyse und in einem Cochrane-Review waren topische NSAR mit einer besseren Schmerzlinderung assoziiert als Plazebo. Diclofenac-Pflaster bekämpften den Schmerz am effektivsten. Piroxicam (Felden® und Generika) war am wirksamsten bezüglich der Wiederherstellung der Funktionalität. Nur das Diclofenac-Pflaster und das Ibuprofen-Gel gewährleisten eine klinische bedeutsame Schmerzlinderung (> 1,2 Punkte auf einer Skala von 0 bis 10). Bei einer Kniearthrose lindern topische NSAR die Schmerzen ähnlich gut wie systemische – bei weniger Nebenwirkungen. Mit einer Kombination aus oralen und topischen NSAR wurde bei Kniearthrose kein zusätzlicher schmerzlindernder Nutzen erzielt. NSAR sind nicht mit einem erhöhten Risiko für gastrointestinale oder kardiovaskuläre Ereignisse im Vergleich zu Plazebo verbunden. In europäischen Guidelines werden topische NSAR als First-line-Medikamente für Handarthrose empfohlen. Akute Verletzungen: In einem Cochrane-Review mit Evidenz hoher Qualität waren topische NSAR mit einer guten
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Schmerzlinderung bei muskuloskelettalen Schmerzen nach Verletzungen wie einer Knöchelverstauchung oder einer Muskelzerrung verbunden. Gelformulierungen von Diclofenac, Ibuprofen und Ketoprofen (Fastum®) sowie Diclofenac-Pflaster sind am effektivsten. Topische NSAR können auch Ellenbogenschmerzen lindern, die Evidenz hierzu ist jedoch von geringer Qualität.
Wie wirksam sind NSAR im Vergleich zu anderen Analgetika?
Paracetamol (Panadol® und Generika) und Opioide sind bei Kreuzschmerzen unwirksam und lindern Arthroseschmerzen nur geringfügig und kurzfristig. In einem Cochrane-Review zeigte sich kein Unterschied zwischen NSAR und Paracetamol bezüglich der Wirkung auf die Schmerzintensität. In kleinen Studien wurde eine vergleichbare, klinisch nicht bedeutsame Schmerzlinderung unter NSAR, Paracetamol-Codein (Co-Dafalgan®), Tramadol (Tramal® und Generika) und Meptazinol (nicht im Arzneimittelkompendium der Schweiz) beobachtet. Auch zwischen NSAR, Paracetamol und Pregabalin (Lyrica® und Generika) zeigten sich in kleinen Studien keine Unterschiede. In einem systematischen Review wurde eine vergleichbare Schmerzlinderung bei Kniearthrose unter NSAR, schwachen Opioiden wie Tramadol und starken Opioiden wie Hydromorphon (z. B. Palladon®) und Oxycodon (Oxycontin® und Generika) beobachtet.
Mit welchen Risiken sind NSAR verbunden?
Alle NSAR sind mit Sicherheitsrisiken verbunden. Dies gilt vor allem für ältere Menschen, Patienten mit Multisystem-
Kasten:
Tipps zur sicheren Anwendung von NSAR
s MitVorsicht anwenden – über die kürzeste mögliche Zeit und in der niedrigsten möglichen Dosis. s Evaluierung der bereits existierenden Medikation vor der Verschreibung. s Bei Knie- oder Handarthrosen topische NSAR bevorzugen; Ibuprofen (≤ 1200 mg täglich) und Naproxen sind mit dem geringsten kardiovaskulären Risiko verbunden, erhöhen aber das Risiko für gastrointestinale Ereignisse. s Vermeidung von hoch dosiertem Ibuprofen, Diclofenac und Coxiben bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen. s Vermeidung von NSAR bei Patienten mit chronischer Nieren insuffizienz, regelmässige Überwachung von Patienten mit Risiko für eine Niereninsuffizienz. s Die NICE-Guidelines empfehlen die Kombination eines Protonen- pumpeninhibitors mit nicht selektiven NSAR bei Patienten über 45 Jahre, bei Dyspepsie in der Vorgeschichte und bei Patienten, die antithrombotische Medikamente einnehmen. s Bei Patienten, die bereits NSAR-bedingte gastrointestinale Ereig- nisse erlitten haben, NSAR aber weiter nehmen müssen, konnten weitere Ereignisse mit einer gleichzeitigen Anwendung eines Protonenpumpeninhibitors (Misoprostol [MisoOne®]) oder eines Antihistaminikums verhindert werden. s Vermeidung von NSAR in der Schwangerschaft, vor allem im 1. und im 3. Trimester.
erkrankungen sowie für Personen mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre und renale Ereignisse. Die Risiken scheinen dosisabhängig zu sein. Im Hinblick auf langfristige Risiken liegt nur eine unzureichende Evidenz vor. Gastrointestinale Ereignisse: Alle NSAR erhöhen das Risiko für gastrointestinale Ereignisse wie Perforationen, Ulzera oder Blutungen um das 2- bis 4-Fache. COX-2-Hemmer (Coxibe) und Diclofenac sind mit dem geringsten Risiko verbunden. Bei 8 bis 12 Prozent der Patienten, die hohe Dosen nicht selektiver NSAR einnehmen, treten dyspeptische Beschwerden auf. Dieses Risiko ist bei Coxiben um 12 Prozent geringer und bei nicht selektiven NSAR um 66 Prozent geringer, wenn sie mit einem Protonenpumpenhemmer kombiniert werden. Bei älteren Personen erhöht eine Kombination von NSAR und Acetylsalicylsäure (ASS) oder Antikoagulanzien das Risiko für gastrointestinale Blutungen um das 13-Fache im Vergleich zu keiner Medikamenteneinnahme. Kardiovaskuläre Ereignisse: Coxibe und Diclofenac erhöhen das Risiko für einen Herzinfarkt um etwa 70 Prozent im Vergleich zu Plazebo. Unter Ibuprofen (2400 mg/Tag) verdoppelt es sich. In Beobachtungsstudien erhöhten NSAR das Risiko für einen hämorrhagischen Schlaganfall um ein Drittel. Dies wurde meist im Zusammenhang mit Diclofenac und Meloxicam (Mobicox®) beobachtet. In randomisierten Studien und in Beobachtungsstudien verdoppelten NSAR das Risiko für eine Herzinsuffizienz im Vergleich zu Plazebo. Zudem können NSAR eine Herzinsuffizienz verschlimmern. Bei Patienten mit Nierenfunktionsstörungen ist dieses Risiko noch höher, vor allem wenn sie Diuretika einnehmen. Bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen gibt es kein sicheres NSAR-Behandlungsfenster. Diclofenac war in einer dänischen Kohortenstudie mit dem höchsten Risiko für Tod und rezidivierenden Herzinfarkt assoziiert. Bei Celecoxib, Ibuprofen und Naproxen scheint das Risiko dosisabhängig zu sein, während niedrige und hohe Diclofenacdosen mit vergleichbarem Risiko verbunden sind. Renovaskuläre Ereignisse: NSAR können auch die Nierenfunktion beeinträchtigen. Das relative Risiko variiert im Vergleich zu Nichtanwendern individuell von 1,3 bis 2,2. Das renale Risiko scheint unabhängig von der Art des NSAR dosisabhängig zu sein. Hohe NSAR-Dosierungen erhöhen auch bei aktiven jungen Menschen und Erwachsenen in mittlerem Alter das Risiko für renale Ereignisse. Respiratorische Ereignisse: Bei etwa 9 Prozent der Erwachsenen mit chronischem Asthma kommt es bei Einnahme von NSAR zu einer Verschlimmerung der Erkrankung. Coxibe gelten bei Asthmapatienten als weniger problematisch. Erhöhung des Blutdrucks: NSAR können den mittleren Blutdruck um 0,5 mmHg erhöhen. Ibuprofen ist im Vergleich mit Celecoxib oder Naproxen mit einer ausgeprägteren Erhöhung des systolischen Blutdrucks und einer höheren Inzidenz für neu einsetzenden Bluthochdruck verbunden. Schwangerschaft: Im 1. Trimester können NSAR das Risiko für eine Fehlgeburt erhöhen, und im 3. Trimester sind NSAR mit fetalen Risiken wie einer vorzeitigen Geburt und einer vorzeitigen Schliessung des Ductus arteriosus verbunden. Im 2. Trimester sind NSAR relativ sicher anwendbar, es wurden aber Fälle von Konstriktionen des Ductus arteriosus und Oligohydramniose beobachtet. Bei Schwangeren, die regel-
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mässig NSAR einnehmen, wird ab Woche 20 ein fetales Monitoring empfohlen.
Wie können NSAR sicher angewendet werden?
Das Management chronischer muskuloskelettaler Schmerzen ist komplex. Angesichts der potenziellen Gefahren ist es von grosser Bedeutung, den Nutzen und die Risiken von NSAR mit dem Patienten zu diskutieren. Ausserdem sollten auch nicht pharmakologische Massnahmen besprochen werden. Vor der Verschreibung werden risikorelevante Faktoren wie das Alter, frühere gastrointestinale oder kardiovaskuläre Ereignisse, Hypertonie, Asthma, Niereninsuffizienz oder Blutungsstörungen erfasst. Eine niedrige Dosierung und eine intermittierende Anwendung oder eine Anwendung bei Bedarf können sicherer sein als eine regelmässige Einnahme. Im Kasten sind Tipps für die sichere Anwendung von NSAR aufgeführt. Bei vielen NSAR gibt es eine Ceiling-Dosis. Bei höherer Dosierung ist dann ein zusätzlicher Nutzen unwahrscheinlich, während das Risiko für unerwünschte Ereignisse zu-
nimmt. Die analgetische Ceiling-Dosis von Ibuprofen liegt
bei 400 mg/Applikation bei einer maximalen Tagesdosis von
2400 mg.
Im Zusammenhang mit NSAR sind auch potenzielle Wechsel-
wirkungen mit anderen Medikamenten zu beachten. Nicht
selektive NSAR können den plättchenhemmenden Effekt von
niedrig dosierter ASS blockieren, sodass beide Medikamente
nicht gleichzeitig angewendet werden sollten. Bei Coxiben
tritt diese Wechselwirkung nicht auf, weil ASS die Blutplätt-
chen über COX-1 beeinflusst. Des Weiteren kann durch die
Einnahme von NSAR der antihypertensive Effekt von Diure-
tika aufgehoben werden, da sie auch Prostaglandine hem-
men, die für die Natriurese verantwortlich sind.
s
Petra Stölting
Quelle: Machado GC et al.: Non-steroidal anti-inflammatory drugs (NSAIDs) for musculoskeletal pain. BMJ. 2021;372:n104; DOI:10.1136/bmj.n104s.
Interessenlage: Die Autoren der referierten Übersicht haben Gelder von australischen Gesundheitsbehörden erhalten.
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