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EDITORIAL
sche Lebenserwartung sank 2020 im Vergleich zu 2019 in fast allen Ländern, wobei sich das bei Männern in den USA (–2,2 Jahre) und in Litauen (–1,7 Jahre) am drastischsten zeigte. Nur in Dänemark und Norwegen (beide Geschlechter) sowie in Finnland (Frauen) sank die Lebenserwartung nicht.
COVID-19 hinterlässt deutliche Spuren
So mancher mag es für eine Selbstverständlichkeit gehalten haben, dass die Lebenserwartung in der Schweiz Jahr für Jahr langsam, aber stetig anstieg. COVID-19 hat nun eine deutliche Delle in der bis anhin stets steigenden Kurve der statistisch erwartbaren Lebenszeit hinterlassen. Während eine 60-Jährige im Jahr 2019 im Durchschnitt auf gut 27 weitere Lebensjahre hoffen durfte, waren es 2020 nur noch knapp 26½ Jahre. Bei den 60-jährigen Männern betrug der Unterschied sogar 1 Jahr (24½ vs. 23½ Jahre). Schuld an dieser Entwicklung sei vor allem die gestiegene Mortalität bei den über 60-Jährigen, wobei die zusätzlichen Todesfälle grösstenteils auf COVID-19 zurückzuführen seien, heisst es in einer kürzlich publizierten Studie (1). Einen vergleichbaren Einschnitt gab es in Europa zuletzt im Zweiten Weltkrieg.
In einer anderen Studie hatte man bereits die über das zu erwartende Mass hinausgehende Mortalität weltweit von 2020 bis Mitte 2021 unter die Lupe genommen (2). In besonders stark von COVID-19 betroffenen Ländern wie zum Beispiel Ecuador oder Mexiko betrug sie mehr als 50 Prozent. Gleichzeitig war sie in Ländern wie Australien und Neuseeland niedriger als üblich, was möglicherweise auf die dortigen strikten Pandemiemassnahmen zurückzuführen ist. In der Schweiz betrug die Übersterblichkeit in diesem Zeitraum 100 Fälle pro 100 000 Einwohner. Das waren etwa gleich viele wie in Frankreich (110), Österreich (110) und Liechtenstein (120), etwa halb so viele wie in Italien (210) und doppelt so viele wie in Deutschland (50).
All diese Zahlen illustrieren einmal mehr, wie schwerwiegend die gesundheitlichen Folgen der Coronaviruspandemie tatsächlich sind. Long-COVID, die verzögerte Behandlung anderer Krankheiten sowie die pandemiebedingten sozialen und wirtschaftlichen Probleme könnten auch noch auf längere Sicht deutliche Spuren hinterlassen, meinen José Manuel Aburto und seine Co-Autoren (1). Insofern ist es keineswegs sicher, dass der Einfluss von COVID-19 auf die allgemeine Lebenserwartung nur vorübergehender Natur ist. s
Renate Bonifer
Die Studienautoren haben für ihre Analyse die Daten von 29 Ländern ausgewertet, in denen zuverlässige und umfassende Sterberegister geführt werden (27 europäische Länder, Chile und die USA). Die statisti-
1. Aburto JM et al.: Quantifying impacts of the COVID-19 pandemic through life-expectancy losses: a population-level study of 29 countries (published online ahead of print, 2021 Sep 26). Int J Epidemiol. 2021;dyab207.
2. Karlinsky A, Kobak D: Tracking excess mortality across countries during the COVID-19 pandemic with the World Mortality Dataset. eLife 2021;10:e69336.
ARS MEDICI 21 | 2021
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