Transkript
FORTBILDUNG
Reizdarmsyndrom
S3-Leitlinie überarbeitet und aktualisiert
Die Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) hat zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM) sowie 17 weiteren Fachgesellschaften die S3-Leitlinie «Reizdarmsyndrom» überarbeitet und dem aktuellen Wissensstand angepasst. Nachfolgend werden die wichtigsten Neuerungen zusammengefasst.
Chronisch wiederkehrende Abdominalbeschwerden mit krampfartigen Bauchschmerzen, Blähungen sowie verändertem Stuhlverhalten (Subtyp Diarrhö oder Obstipation), für die sich diagnostisch keine organischen Ursachen finden lassen, sind typische Anzeichen für ein Reizdarmsyndrom (RDS). Das Krankheitsbild ist komplex, wird durch zahlreiche Faktoren beeinflusst und zeigt sich individuell ausgesprochen variabel. Eines jedoch haben Betroffene gemeinsam: Sie fühlen sich in ihrer Lebensqualität oft erheblich beeinträchtigt. In der aktualisierten Version der S3-Leitlinie vom Juni 2021 wurden jetzt die in den letzten Jahren gewonnenen neuen Erkenntnisse zur Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des RDS berücksichtigt und bewertet.
Pathophysiologie
In die aktuelle Leitlinie wurden zahlreiche pathophysiologisch relevante molekulare und zelluläre Faktoren aufgenommen, die beim RDS eine Rolle spielen können. Diskutiert werden unter anderem Störungen der intestinalen Schleimhaut- und Barrierefunktion des Darms, der mukosalen Immunantwort und des Mikrobioms (Dysbiose), eine erhöhte Aktivität des enterischen Nervensystems sowie eine allgemein gestörte Kommunikation der Darm-Hirn-Achse. Die eigentliche Ursache dieses Krankheitsbildes ist jedoch immer noch nicht vollständig geklärt. Als Auslöser kommen infektiöse oder nicht infektiöse gastrointestinale Erkrankungen infrage, aber auch akute sowie chronische psychische Faktoren können an der Entstehung eines RDS beteiligt sein.
MERKSÄTZE
� Das aktuelle Leitlinienupdate enthält eine Zusammenfassung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Pathophysiologie des RDS; die eigentliche Ursache der Erkrankung ist jedoch weiterhin ungeklärt.
� Eine positive RDS-Diagnose sollte erst nach dem verlässlichen Ausschluss wichtiger Differenzialdiagnosen (entzündliche oder maligne Erkrankungen) gestellt werden.
� Gemäss der aktualisierten Leitlinie erhält die Low-FODMAPDiät eine Empfehlung als Therapieoption bei RDS.
� Ausgewählte Probiotika sollten in der RDS-Therapie eingesetzt werden; ebenso sollte der Einsatz von Pfefferminzöl bei RDS-bedingten Schmerzen und Blähungen erwogen werden.
� Zur medikamentösen Therapie bei Diarrhö erhalten 5HT3Antagonisten, bei Obstipation Prucaloprid und Linaclotid eine positive Empfehlung.
� Erstmals enthält die Leitlinie ein Kapitel zum RDS bei Kindern.
RDS: Diagnosefindung durch gezielte Ausschlussdiagnostik
Im Update der Leitlinie liegt der Schwerpunkt weniger auf Diagnoseverfahren als auf wichtigen Differenzialdiagnosen, wie beispielsweise Darmkrebs, chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) oder Nahrungsmittelintoleranzen, die in Abhängigkeit von den vorherrschenden Symptomen zunächst verlässlich ausgeschlossen werden müssen. Erst dann kann die Diagnose RDS als gesichert angesehen werden. Deutlich umfangreicher als in der bisherigen Version ist der Abschnitt «Spezielle Diagnostik für Ernährung». So wurden hier beispielsweise die Themen «Glutensensitivität» und «Histaminintoleranz» neu aufgenommen. Negativ beurteilt wird dagegen derzeit die mikrobielle Analyse des Stuhls (insbesondere kommerziell erhältliche Stuhltests) auf Dysbiose, da noch eine Reihe offener Fragen (z. B. geeignete Testverfahren, Interpretation der Ergebnisse und daraus folgende Konsequenzen) zu klären ist. Nicht empfohlen werden zudem wissenschaftlich nicht etablierte IgG-basierte Tests zur Diagnostik von Nahrungsmittelunverträglichkeiten.
Therapie
Die Therapie des RDS sollte sich an den Beschwerden und Bedürfnissen des Patienten orientieren. Oft bewährt sich hier
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FORTBILDUNG
In der Schweiz zugelassene Probiotika
Indikation: Diarrhö, Regulation der Darmflora ▲ Bioflorin® (Enterococcus faecium)
▲ Lacteol® (Lactobacillus acidophilus)
▲ Lactoferment® (Lactobacillus acidophilus)
▲ Perenterol® (Saccharomyces boulardii)
Präbiotika erhielten in der Leitlinie dagegen keine Empfehlung, ebenso wenig der fäkale Mikrobiomtransfer (Stuhltransplantation) und die Darmlavage. Neu aufgenommen wurde dagegen eine Empfehlung für das Antibiotikum Rifaximin (Xifaxan®) bei anderweitig therapierefraktärem, nicht obstipiertem RDS. Wesentlich ausführlicher als in der letzten Leitlinie wird auch das Kapitel «Komplementäre Therapie» abgehandelt. So gilt Pfefferminzöl (Carmenthin®, Gaspan®) gemäss der aktuellen Leitlinie als wirksam in der Behandlung RDS-bedingter Schmerzen und Blähungen und sollte bei dieser Indikation zumindest kurzzeitig erwogen werden.
eine individuelle Kombination allgemeiner symptomunabhängiger Massnahmen mit spezifischen symptomorientierten Therapieverfahren (z. B. Medikamenten); diese Aufteilung entspricht auch der Einteilung der Behandlungsprinzipien in der neuen RDS-Leitlinie.
Symptomunabhängige Therapieverfahren
Zu den symptomunabhängigen, allgemeinen therapeutischen Massnahmen gehört die Ernährung, die in der neuen Leitlinie deutlich umfangreicher abgehandelt wird als bisher. So werden individuelle symptomorientierte Ernährungsempfehlungen wie zum Beispiel eine Low-FODMAP-Diät (in drei Phasen: Elimination, Toleranzfindung und Langzeiternährung) ausführlicher dargestellt und als mögliche Therapieoption positiv bewertet. Nicht empfohlen werden dagegen Empfehlungen mit weitreichender Karenz ohne Nachweis der klinischen Wirksamkeit. Ausführlicher abgehandelt wird auch das Thema Psyche, wobei adjuvante Massnahmen zur Stressbewältigung ebenso empfohlen werden wie der indikationsabhängige Einsatz psychotherapeutischer Verfahren (z. B. kognitive und psychodynamische Verhaltenstherapie, auf den Bauch gerichtete Hypnose) als Ergänzung des Behandlungskonzepts. Als weitere Behandlungsmöglichkeit wird die Modulation des Darmmikrobioms durch den Einsatz von Probiotika diskutiert. Trotz einer zum Teil heterogenen Studienlage gelte die grundsätzliche Wirksamkeit von Probiotika bei RDS als belegt, so die Autoren. Im Leitlinienupdate wird deshalb der Einsatz ausgewählter Probiotika (s. Kasten) in der Behandlung des RDS empfohlen, wobei sich die Wahl des Stammes an der individuellen Symptomatik orientieren kann. Eine Zusammenstellung probiotischer Stämme, die in randomisierten, kontrollierten Studien bei RDS-Patienten positive Effekte zeigten, ist als Orientierungshilfe in der neuen Leitlinie aufgelistet.
Gezielte symptomorientierte medikamentöse
Therapie
Im Leitlinienupdate wird jedem Leitsymptom des RDS, also
Diarrhö, Obstipation, Bauchschmerzen und Blähungen, ein
eigenes Kapitel gewidmet, das die jeweils aktualisierten
Empfehlungen für synthetische und pflanzliche Substanzen
auflistet.
Zur Behandlung von Diarrhö und Bauchschmerzen wurde
der Einsatz von 5HT3-Antagonisten wie Ondansetron in
ausgewählten Einzelfällen positiv beurteilt. Bei Obstipation
erhielten die Wirkstoffe Prucaloprid (Resolor®) sowie Lina-
clotid (Constella®) – hier insbesondere bei Begleitsymptomen
wie Bauchschmerzen und Blähungen – eine positive Empfeh-
lung. Für entschäumende Substanzen gegen Blähungen wie
Simetikon wird dagegen aufgrund wenig überzeugender Stu-
dien zur Wirksamkeit keine Empfehlung abgegeben.
Zu den weiteren Neuerungen der Leitlinie gehören noch ein
separates Kapitel zum Thema RDS bei Kindern sowie unter
anderem Therapieschemata zur medikamentösen Behand-
lung bei Erwachsenen mit RDS, Diagnosekriterien und eine
Auflistung alternativer neuer Therapieansätze.
s
Claudia Reinke
Quelle: S3-Leitlinie «Reizdarmsyndrom» der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS), https://www.dgvs.de/wissen/leitlinien/leitlinien-dgvs/reizdarmsyndrom, letzter Zugriff 26.8.2021
Linktipp
Zur Leitlinie «Reizdarmsyndrom» geht es unter www.rosenfluh.ch/qr/s3-II-reizdarm oder direkt via QR-Code.
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