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BERICHT
Diabetesmanagement
Krankheitsumstände bestimmen die Therapie
Die Diabetestherapie ist mit all ihren neuen Präparaten und Substanzklassen, die in den letzten Jahren auf den Markt gekommen sind, zu einer Herausforderung geworden. Wie man den Durchblick behält und welche Faktoren wichtig sind, erklärten Prof. Michael Brändle, Chefarzt Allgemeine Innere Medizin/ Hausarztmedizin, Kantonsspital St. Gallen, und Dr. Regula Honegger, Horgen, am 60. Ärztekongress von Lunge Zürich. Heutzutage wird die Therapie durch das Vorhandensein von Komorbiditäten bestimmt.
Foto: zVg
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Dr. Regula Honegger Prof. Michael Brändle
Beim Diabetes mellitus korreliert das Risiko für mikrovaskuläre Komplikationen mit dem Anstieg der chronischen Hyperglykämie. Das Risiko für makrovaskuläre Komplikationen steige dagegen langsamer, aber ebenfalls stetig, erinnerte Brändle. Eine gute Blutzuckereinstellung lohnt sich, weil auch die kardiovaskuläre Mortalität mit steigendem chronischen HbA1c-Wert zunimmt, vor allem bei jüngeren Personen unter 55 Jahren. Gemäss einer schwedischen Registerstudie ist die kardiovaskuläre Mortalität bei einer chronischen Hyperglykämie in dieser Altersgruppe 5-fach erhöht, verglichen mit Nichtdiabetikern. Mit zunehmendem Alter bleibt die Korrelation bestehen, ist aber etwas schwächer ausgeprägt (1).
KURZ & BÜNDIG
� Für die meisten SGLT2-Hemmer und GLP-1-RA ist eine signifikante Reduktion von kardiovaskulären Ereignissen belegt.
� SGLT2-Hemmer sind nephroprotektiv, sie reduzieren eine Albuminurie und stabilisieren die eGFR bzw. reduzieren die Progression der Niereninsuffizienz.
� Bei Herzinsuffizienz können SGLT2-Hemmer auch ohne Diabetes eingesetzt werden.
� Bei neu diagnostiziertem Diabetes mellitus liegt der optimale HbA1c-Wert bei < 7%, die Medikation sollte möglichst keine Hypoglykämie induzieren.
� Bei langjähriger Diabetesdauer mit Komplikationen ist ein HbA1c-Wert von 7 bis < 7,5 bzw. 8% bei älteren Personen anzustreben.
� Die Therapiewahl sollte sich an den Fragen zu Insulinmangel, Nierenfunktion (eGFR < bzw. > 30 ml/min/1,73 m2), kardiovaskulärer Erkrankung und Herzinsuffizienz orientieren.
� Andere kardiovaskuläre Risikofaktoren sollen ebenfalls aggressiv mitbehandelt werden.
Der HbA1c-Zielwert sollte daher immer individuell auf den Patienten abgestimmt werden, so Brändle. Dabei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Beispielsweise ist bei Patienten mit einer langen Diabetesdauer oder einer eher kurzen Lebenserwartung ein weniger strenger Zielwert (7–8%) sinnvoll, ebenso bei Patienten mit vielen Komorbiditäten oder vaskulären Komplikationen. Je jünger, motivierter der Patient und je kürzer die Erkrankungsdauer hingegen ist, desto strenger sollte der Zielwert gewählt werden (um 6,5%). Die chronische Hyperglykämie kann mit verschiedenen Antidiabetika behandelt werden, die sich im Wirkmechanismus unterscheiden und in der Pathogenese des Diabetes mellitus an verschiedenen Stellen ansetzen: Metformin hemmt die gesteigerte Glukoneogenese, Pioglitazon senkt die Insulinresistenz in Muskel- und Fettgewebe, die verminderte und gestörte Insulinsekretion aus der Betazelle wird durch Sulfonylharnstoffe und Glinide glukoseunabhängig und durch Inkretine (DPP-4-Hemmer, GLP-1-Rezeptor-Agonisten [GLP-1-RA]) glukoseabhängig stimuliert. SGLT2-Hemmer schliesslich reduzieren die Glukosereabsortion in der Niere und verstärken somit die Glukosurie.
Was eignet sich für wen?
Beispielsweise stellt sich bei einem adipösen 55-jährigen Diabetespatienten mit erlittenem Myokardinfarkt, einer Diabetesdauer von 5 Jahren und sich mit den Jahren unter Metformin stetig verschlechternden HbA1c-Werten (zuletzt 7,9–9%) die Frage, wie die Therapie optimiert werden soll. Dabei abzuwägen ist die Ausrichtung der Therapie. Soll sie zusätzlich kardioprotektiv, gewichtssenkend, blutdrucksenkend, von kleinem Hypoglykämierisiko oder nebenwirkungsarm sein? Der SGLT2-Hemmer Empagliflozin hat in der EMPA-REGOUTCOME-Studie seine kardioprotektive Eigenschaft unter Beweis gestellt und zusätzlich die Gesamtmortalität gesenkt (2). Mittlerweile haben andere SGLT2-Hemmer ebenfalls in kardiovaskulären Endpunktstudien Resultate geliefert. Allen SGLT2-Hemmern gemeinsam ist die Reduktion der Hospitalisationsrate infolge Verschlechterung der Herzinsuffzienz um 27 bis 35 Prozent, bei der Reduktion von kardiovaskulären Ereignissen oder kardiovaskulärem Tod unterscheiden sie sich dagegen (Tabelle). Zusätzlich verliert der Patient
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Tabelle:
Antidiabetika und kardiovaskuläre Endpunktstudien
EMPA-REG (2) (Empag-
liflozin)
SGLT2-Hemmer
CANVAS (12) (Ca-
nagliflozin)
DECLARE (13) (Dapag-
liflozin)
VERTIS (14) (Ertugliflo-
zin)
LEADER (3) (Liraglutide)
GLP-1-Rezeptor-Agonisten
SUSTAIN 6 (15) (Se-
maglutide)
REWIND (16) (Dulag-
lutide)
PIONEER 6 (17) (Se-
maglutide)
Teilnehmer (n)
Follow-up (Jahre)
Arteriosklerotische kardiovaskuläre Erkrankung (%)
MACE (kardiovaskulärer Tod, Myokardinfarkt, Hirnschlag)
Kardiovaskulärer Tod
7020 3,1 99
0,86; (0,74–0,99)
0,66; (0,49–0,77)
10 142 3,6 66
17 160 4,2 41
8246 3,5 100
9340 3,8 81
0,86; (0,75–0,97)
Hazard Ratio (HR); 95%-Konfidenzintervall (KI)
0,93; (0,84–1,03)
0,97; (0,85–1,11)
0,87; (0,78–0,97)
0,90; (0,71–1,15)
0,98 (0,82–1,17)
0,92; (0,77–1,11)
0,78; (0,66–0,93)
3297 2,1 83
0,74; (0,58–0,95)
0,98; (0,65–1,48)
9901 5,4 32
0,88; (0,79–0,99)
0,91; (0,78–1,06)
3183 1,4 85
0,79; (0,57–1,11)
0,49; (0,27–0,92)
Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz
0,65; (0,50–0,85)
0,67; (0,52–0,87)
0,73; (0,61–0,88)
0,70; (0,54–0,90)
Grüne Farbe: signifikante Unterschiede. Quelle: Prof. M. Brändle und mod. nach (2, 3, 12–17).
durch erhöhte Ausscheidung von Glukose via Urin Kalorien und damit Gewicht (bis 2,5 kg) (4). Auch Liraglutide (s.c.) reduzierte als erster GLP-1-RA in der LEADER-Studie die Rate kardiovaskulärer Ereignisse und senkte die Gesamtmortalität (3). Die weiteren GLP-1-RA Semaglutide (s.c. und oral) und Dulaglutide (s.c.) haben in kardiovaskulären Endpunktstudien ebenfalls ihre kardioprotektive Eigenschaft bewiesen (Tabelle 2). Gemäss den gemeinsamen Empfehlungen der European Association for the Study of Diabetes (EASD) und der American Diabetes Association (ADA) sollen Patienten mit atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung oder hohem Risiko dafür einen GLP-1-RA oder einen SGLT2-Hemmer mit jeweils belegtem kardiovaskulären Nutzen erhalten (5). Bei Patienten mit Herzinsuffizienz oder chronischer Nierenerkrankung sind in erster Linie SGLT2-Hemmer mit belegtem kardiovaskulären Nutzen empfohlen, bei Unverträglichkeit GLP-1-RA (5). GLP1-RA vermindern durch ihren Wirkmechanismus zusätzlich den Appetit und verzögern die postprandiale Magenentleerung, was zu einer Gewichtsreduktion von bis zu etwa 6 kg führen kann (6).
Seit Kurzem steht dank eines speziellen Herstellungsverfahrens eine orale Form von Semaglutide von der ansonsten nur subkutan applizierbaren Substanzklasse der GLP-1-RA zur Verfügung. Diese Galenik ermöglicht es, auch Patienten mit Spritzenangst von den Vorteilen dieser Substanzklasse profitieren zu lassen. Die orale Form muss allerdings täglich, anstatt wöchentlich, und auf nüchternen Magen 30 Minuten vor der ersten Mahlzeit eingenommen werden. Zu beachten sind ausserdem die Limitatio (BMI mindestens 28) und die vorgeschriebene Kombination mit Metformin (7), was für alle GLP-1-RA gilt.
Bei ausgeprägter Nephropathie
Für Patienten mit Typ-2-Diabetes und chronischer Nierenerkrankung sind SGLT2-Hemmer empfohlen (6). In der CREDENCE-Studie zeigte Canagliflozin bei Albuminurie und einer geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR) zwischen 30 und 90 ml/min/1,73 m2 nach 42 Monaten eine Reduktion des primären Endpunkts um 30 Prozent. Dieser war als Nierenversagen, Verdoppelung des Serumkreatinins, renal oder kardiovaskulär bedingter Tod definiert (8). In der DAPA-CKD-Studie erhielten neben Typ-2-Diabeti-
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kern auch Nichtdiabetiker mit Albuminurie und einer eGFR von 30 bis 90 ml/min/1,73 m2 Dapagliflozin. Die Risikoreduktion für den primären Endpunkt, der als Nierenversagen, Verschlechterung der eGFR um mindestens 50 Prozent, renal oder kardiovaskulär bedingter Tod definiert war, betrug nach 32 Monaten 39 Prozent, unabhängig von einer Diabeteserkrankung (9). Für Patienten, die mit dem SGLT2-Hemmer zwar eine gute Einstellung der Blutzucker- und der Nierenwerte erreichten, aber adipös seien und unter dieser Substanzklasse mehr Gewicht verlieren sollten, wäre eine Kombination mit dem GLP-1-RA Semaglutide s.c. die beste Option, so Honegger. Dafür müsste jedoch eine Kostengutsprache angefordert werden, denn diese Kombination wird von der Krankenkasse noch nicht bezahlt.
Was zu bedenken ist
Bei einer Therapie mit SGLT2-Hemmern gibt es einige Nebenwirkungen, die bei entsprechenden Vorsichtsmassnahmen vermieden werden können. Als seltene, aber schwere Nebenwirkung könne eine diabetische Ketoazidose auftreten, insbesondere wenn die Patienten krank (z. B. Infekt) würden und weniger oder nichts mehr ässen und in nüchternem, katabolem Zustand die Ketokörperproduktion und -reabsorption angekurbelt werde, so Brändle. Um diese Nebenwirkung zu vermeiden, sollen Patienten bei Krankheit den SGLT2-Hemmer aussetzen und interimistisch durch Insulin ersetzen. Eine vergleichsweise leichtere Nebenwirkung ist die Genitalmykose, die durch eine gute Genitalhygiene vermieden oder bei Auftreten mit einer Einmaldosis Fluconazol 150 mg behandelt werden kann. Tritt eine orthostatische Hypotonie auf, kann das an einer eventuell gleichzeitigen Diuretikabehandlung liegen. In diesem Fall kann die Diuretikumdosis reduziert werden. Zu bedenken ist auch, dass der blutzuckersenkende Effekt bei Patienten mit einer progredienten Niereninsuffizienz mit der Zeit abnimmt (10).
Insulin nie kontraindiziert
Bei Patienten mittleren Alters, die trotz einer Dreierkombination von oralen Antidiabetika keine adäquate Senkung der HbA1c-Werte erreichten, sollte auch ein später Typ-1-Diabetes (late autoimmune diabetes in adults, LADA) in Betracht gezogen werden, bevor die Medikation auf ein anderes Antidiabetikum umgestellt wird, so der Hinweis des Experten. Beim Vorliegen eines LADA ist eine Insulintherapie indiziert. Weitere Indikationen für Insulin sind instabile klinische Situationen wie Infekt, Trauma, akutes Koronarsyndrom wie auch Nieren- und Leberinsuffizienz. Bei einer symptomatischen Hyperglykämie mit Polyurie, Polydipsie und Gewichtsverlust ist ebenfalls eine Insulintherapie angezeigt, wie auch bei katabolem Zustand bei der Diagnose oder bei Gestationsdiabetes.
Schweizer Empfehlungen
Die Schweizerische Gesellschaft für Endokrinologie und
Diabetologie hat sich für ihre Empfehlungen (11) an klini-
schen Fragestellungen orientiert. Nach individueller Fest-
legung des HbA1c-Zielwerts und dem Ausschluss eines In-
sulinmangels ist Metformin als Primärtherapie empfohlen,
ausser bei einer eGFR < 30 ml/min/1,73 m2. Als nächster Schritt folgt die Beurteilung der Nierenfunktion: Bei einer eGFR < 30 ml/min/1,73 m2 sind DPP-4-Hemmer oder GLP-1-RA ± Insulin indiziert, bei Werten zwischen 30 und 45 ml/min/1,73 m2 kann zusätzlich zu einer reduzierten Dosis von Metformin ein SGLT2-Hemmer, ein GLP-1-RA oder ein DPP4-Hemmer ± Insulin gegeben werden. Die weitere Abklärung betrifft die Präsenz einer manifesten kardiovaskulären Erkrankung oder ein hohes Risiko dafür. In diesem Fall wird eine frühzeitige Therapie mit SGLT2-Hemmern oder GLP-1-RA empfohlen. Liegt eine Herzinsuffizienz vor, sollte eine frühzeitige Therapie mit einem SGLT2-Hemmer plus Metformin etabliert werden. Bei Nichterreichen der Zielwerte ist eine frühzeitige Inten- sivierung der Therapie mit Kombinationen angezeigt. Le- bensstilmodifikationen und die Medikation sind regelmäs- sig zu überprüfen, bei den Lebensstilmassnahmen soll Un- terstützung geleistet werden. s Valérie Herzog Quelle: «Individuelle Diabetestherapie – leicht gemacht», 60. Ärztekongress von Lunge Zürich, 11. bis 12. Februar 2021, virtuell. Referenzen: 1. Tancredi M et al.: Excess mortality among persons with type 2 diabetes. N Engl J Med. 2015;373(18):1720-1732. 2. Zinman B et al.: Empagliflozin, cardiovascular outcomes, and mortality in type 2 diabetes. N Engl J Med. 2015;373(22):2117-2128. 3. Marso SP et al.: Liraglutide and cardiovascular outcomes in type 2 diabe- tes. N Engl J Med. 2016;375(4):311-322. 4. swissmedicinfo.ch. Fachinformation Empagliflozin. Letzter Zugriff: 25.3.21 5. Buse JB et al.: 2019 Update to: Management of Hyperglycemia in Type 2 Diabetes, 2018. A Consensus Report by the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD). Diabetes Care. 2020;43(2):487-493. 6. swissmedicinfo.ch. Fachinformation Ozempic. Letzter Zugriff: 25.3.21 7. compendium.ch. Fachinformation Rybelsus. Letzter Zugriff: 26.3.21 8. Perkovic V et al.: Canagliflozin and renal outcomes in type 2 diabetes and nephropathy. N Engl J Med. 2019;380(24):2295-2306. 9. Heerspink HJL et al.: Dapagliflozin in Patients with Chronic Kidney Disease. N Engl J Med. 2020;383(15):1436-1446. 10. Lupsa BC et al.: Use of SGLT2 inhibitors in type 2 diabetes: weighing the risks and benefits. Diabetologia. 2018;61(10):2118-2125. 11. SGED-Empfehlungen 2019: https://www.sgedssed.ch/fileadmin/user_ upload/6_Diabetologie/61_Empfehlungen_Facharzt/2020_Swiss_ Recomm_Medis_DE_def.pdf. Letzter Abruf 25.3.21. ARS MEDICI 13 | 2021 391