Transkript
EDITORIAL
Corona, Aducanumab und Allgemeinplätze
Licht und Schatten liegen oft nah beieinander. Ein Allgemeinplatz, der für die Medizin offenbar ebenso gilt wie für Individuen. Kaum ein Jahr ist es her, seit wir meinten, «wir könnten Corona». Es kam dann leider etwas anders. Viel zu viel lief schief, es gab Streit zwischen fast allen Beteiligten. Heute, nach fast geschlagener Schlacht, muss man sich allerdings eingestehen: Am Ende haben «wir» (vor allem die Schweizer Bevölkerung, aber auch die Behörden und die Politik) es gar nicht so schlecht gemacht, vielleicht sogar ein klein wenig besser als die meisten anderen. Heisst es demnächst: «Wir können Alzheimer?» Oder kommt es auch da anders? Immerhin hat die FDA dieser Tage dem potenziellen Alzheimer-Medikament Aducanumab, einem Antikörper gegen Beta-Amyloid, als erster Substanz seit Langem die Zulassung für diese Indikation erteilt. Und wer hat’s erfunden? Die Schweizer. Na ja, jedenfalls: Es waren Schweizer! Nur diesmal war’s nicht einer unserer Pharmagiganten Roche oder Novartis, sondern ein anderer Gigant: die Universität Zürich. Die Uni stellt das Produkt natürlich nicht selbst her, das macht die US-Firma Biogen, aber die Uni hält zumindest wichtige Patente zur Herstellung von Aducanumab und wird daran mitverdienen (man spricht von 2 Prozent – egal, ob vom Umsatz oder von den Lizenzgebühren, es wird eine nette Summe werden).
Wer die Erfinder der Substanz sind, ist bekannt: Es sind Roger M.Nitsch, Neurowissenschafter am Institut für regenerative Medizin und mehrfach für seine Forschung ausgezeichnet, Christoph Hock, Psychiater, am selben Institut tätig, und Jan Grimm, ebenfalls Neurowissenschafter. Sie haben – zur Kommerzialisierung ihrer Erfindung – bereits 2006 mithilfe von Uni-Institutionen zu dritt die Firma Neurimmune* gegründet. Inzwischen ist deshalb auch die Uni Zürich Aktionär der Firma. Und Aducanumab ist nicht die einzige Substanz in der Firmenpipeline; offenbar enthält sie potenziell wirksame Wirkstoffe auch gegen Parkinson, ALS und andere Krankheiten. Das wirtschaftliche Potenzialvon Aducanumab ist riesig. Der jährliche Umsatz könnte mehrere Milliarden egal von was – Dollar, Euro oder Schweizer Franken – betragen. Biogen hat für die Lizenz bereits vorab etwas bezahlt und damit das Entwicklungsrisiko mitgetragen; sie entwickelt das Medikament zusammen mit der Firma Eisai. Zurück zu Licht und Schatten: Folgt auf das für die Menschheit dunkle Kapitel Corona aus China (oder woher auch immer) nun das strahlend helle Kapitel Alzheimer aus der Schweiz? Oder greift ein anderer Allgemeinplatz?: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Die Coronakrise hatte trotz ihrer katastrophalen individuellen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen ja auch positive Aspekte – wenn auch nicht für alle. Wird Aducanumab umgekehrt auch Schattenseiten offenbaren? Zweifellos, wenn es tatsächlich über 50 000 Dollar jährlich kosten sollte (wie von Biogen angekündigt). Das würde die Gesundheitssysteme sogar von reichen Staaten massiv belasten. Selbst die eigentlich erwarteten 5000 bis 10 000 Dollar Behandlungskosten jährlich stellten für viele Nationen und ihre Menschen ein Problem dar. Für die Uni Zürich, deren Patent an der Aducanumab-Herstellung noch bis 2028 läuft, dürften so oder so einige Hundert Millionen abfallen. Des einen Leid, des andern Freud – der passenden Allgemeinplätze für die Geschichten (in) der Medizin sind viele.
Richard Altorfer
* Wer mehr über Neurimmune und die Menschen und Pläne dahinter erfahren will: https://www.neurimmune.com/
ARS MEDICI 13 | 2021
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