Transkript
Corneale Pharmakologie
Wie Medikamente ins Auge gehen
BERICHT
Die Penetration von Wirkstoffen in die Hornhaut (Cornea) des Auges hängt stark von den jeweiligen Medikamenten und deren Verweildauer auf der Augenoberfläche ab. Zudem können bestimmte Zusätze, wie beispielsweise hoch dosierte Phosphate, zu irreversiblen Ablagerungen im Auge führen, wie Prof. Michael Thiel am virtuellen Symposium der Schweizerischen Gesellschaft für Pharmakologie und Toxikologie (SSPT) darlegte.
Die gesamte Tränenflüssigkeit im Auge beträgt 7 bis 10 µl. Bei einer medikamentösen Applikation besitzt ein normal grosser Tropfen jedoch ein Volumen von 30 bis 50 µl. «Das heisst, wir geben bereits mit einem Tropfen ein Mehrfaches der Fassungskapazität des Auges», gab Prof. Michael Thiel von der Augenklinik des Luzerner Kantonsspitals zu bedenken. Gleichzeitig beträgt die Tränenproduktion 0,6 bis 1,0 µl pro Minute, womit die Flüssigkeit im Auge nach 6 bis 10 Minuten komplett ausgetauscht ist. Wirkstoffmoleküle, die es in dieser Zeit nicht geschafft haben, ins Gewebe einzudringen, verschwinden wieder ohne Effekt. Deshalb sei es sinnvoll, 5 bis 10 Minuten zwischen zwei Augentropfenapplikationen zu warten, so der Experte. Wird hingegen nur eine Minute pausiert, sinkt die Bioverfügbarkeit des ersten Medikaments um rund 70 Prozent, da es herausgewaschen wird. Noch mehr Flüssigkeit entsteht, wenn das Auge brennt, da es dann zu einer reaktiven Tränenproduktion kommt. Die Folge: Die Flüssigkeitsproduktion im Auge verdoppelt oder verdreifacht sich, entsprechend kürzer ist die Verweildauer der Wirkstoffe.
KURZ & BÜNDIG
� Es empfiehlt sich, die Augen direkt nach der Applikation von Augentropfen zu schliessen, die feuchten Lidkanten mit einem Tuch abzutupfen und die Augen nach der Behandlung eine Zeit lang geschlossen zu halten.
� Die Penetration von Medikamenten in die Cornea und die Vorkammer hängt sehr stark vom Epithel und den Moleküleigenschaften ab.
� Die Wahl des idealen Präparats hängt vom gewünschten Wirkungsort ab.
� Phosphat ist ein Risikofaktor für irreversible Verkalkungen der Cornea.
Wie kommt der Wirkstoff zum Ziel?
Der Überschuss bei einer Augentropfenapplikation fliesst entweder auf die Wange, läuft durch den Tränenabfluss in Richtung Nase, oder er wird systemisch absorbiert. So werden die Wirkstoffe im Bereich der Bindehaut sofort in die Blutbahn abgelenkt. Dieser Teil der Medikamente verursache eigentlich nur Nebenwirkungen, so Thiel. Um die systemische Absorption möglichst gering zu halten, sei es sinnvoll, die Augen direkt nach der Applikation zu schliessen und die feuchten Lidkanten dann mit einem Tuch abzutupfen. Überhaupt sei es ratsam, nach der Behandlung die Augen geschlossen zu halten, da der Wirkstoff dann weniger schnell von der Tränenflüssigkeit abgespült werde. Im Bereich der Cornea verläuft die Penetration von Substanzen sehr variabel. Am besten dringen Medikamente am Limbus in die Tiefe. Das ist die sehr schmale, nicht vaskularisierte Übergangszone zwischen Cornea und Lederhaut. Die Cornea selbst wird nach aussen durch eine dünne Epithelschicht begrenzt. Dieses Epithel stelle den grössten pharmakologischen Widerstand gegen eine Tropfpenetration dar, so Thiel. Die Zwischenzellräume dieser äusseren Zellschicht des Epithels werden durch sogenannte «tight junctions» verschlossen, sodass eine Diffusionsbarriere entsteht. Um dort hindurchzukommen, ist es entscheidend, ob die Medikamente wasseroder fettlöslich sind. Während hydrophile Substanzen ausserhalb der Zellen durch kleine Lücken in den «tight junctions» ihren Weg entlang der Zellgrenzen ins Innere der Cornea finden müssen, sind lipophile Substanzen in der Lage, sich unmittelbar mit den Lipiden der Zellmembranen auszutauschen, und dringen damit sehr gut durch das Epithel. Allerdings ist es für lipophile Wirkstoffe danach schwieriger, denn das unterhalb des Epithels liegende Stroma ist hydrophil. «Wenn wir also das Epithel durchlässiger machen können, steigern wir massiv die Penetration», erklärte der Augenarzt. Hierbei hilft Benzalkoniumchlorid, ein Konservierungsmittel, das in fast allen Augentropfenfläschchen vorhanden ist und mit dessen Hilfe die «tight junctions» gelockert werden und dadurch die Penetration massiv verbessert werden kann. Allerdings kann durch eine solchermassen erhöhte Permeabilität ein neues Problem auftreten: Im Tränenfilm und in der
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Hornhaut besteht – bei recht hohem Kalziumspiegel – ein diffiziles Gleichgewicht zwischen Kalzium und Phosphat. Durch Phosphat in den Augentropfen (das dort als pH-Puffer wirkt) kann es zur Bildung von Kalziumphosphatkristallen im Auge kommen. Je instabiler das Epithel und je häufiger die Tropfen appliziert werden, desto höher ist das Risiko für irreversible Verkalkungen der Hornhaut. Untersuchungen der unterschiedlichen Augentropfen ergaben erhebliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Phosphatkonzentration. Obwohl mittlerweile auch andere pH-Puffer eingesetzt werden, enthalten noch immer viele Augenmedikamente hohe Phosphatkonzentrationen.
Kontaktlinsen als Barriere
Auch Kontaktlinsen können die Penetration der Medikamente massiv beeinflussen. Die meisten Kontaktlinsen für kurzsichtige Menschen besitzen einen sehr geringen Wassergehalt. Das ruft zwar ein angenehmeres Gefühl beim Tragen der Linsen hervor, der Nachteil ist jedoch die verminderte Durchlässigkeit für Wirkstoffe. «Das ist wie ein Regenschutz, der weniger Medikamente ins Auge lässt», sagte Thiel. Unter den Verbandskontaktlinsen (Tag und Nacht, für maximal 4 Wochen als Hornhautschutz zu tragen) weisen hingegen einige einen sehr hohen Wassergehalt auf. Sie saugen die Wirkstoffmoleküle wie ein Schwamm auf und geben sie langsam wieder ans Auge ab. Zu beachten ist auch, dass sehr stark kationische Medikamente (z. B. Chlorhexidin), wie sie vor allem bei Augeninfektionen eingesetzt werden, an den anionischen Kontaktlinsenmolekülen haften bleiben. Fazit des Augenexperten: «Mit der richtigen Kontaktlinse könnten wir die Bioverfügbarkeit der Arzneien steigern, mit der falschen können wir sie senken.»
Bei Kortikosteroideinsatz die Phosphatspiegel beachten
Die häufigsten in der Augenarztpraxis verabreichten Medikamente sind Kortikosteroide, Antibiotika und Tropfen gegen das trockene Auge. Unter den Kortikosteroiden sind die gängigsten Substanzen Fluorometholonacetat (0,1%), Dexamethasonphosphat (0,1%) mit und ohne Konservierungsstoffe, Prednisolonacetat-Tropfen (1,0%) und Prednisolon-Salbe (0,5%). Fluorometholonacetat (0,1%) (FML®) penetriert extrem rasch in die Hornhaut und ins Bindehautepithel. Damit ist es ideal geeignet für Patienten mit oberflächlichen allergischen Reaktionen, wie zum Beispiel Pollinosen. Zwar ist Fluorometholon ein ausgesprochen potentes Medikament, es wird jedoch durch die Epithelzellen der Hornhaut hydrolisiert und deaktiviert. Damit erreicht relativ wenig aktive Substanz das Corneastroma. Somit ist Fluorometholon ein ideales Medikament für die Behandlung von Oberflächen der Bindehaut oder der Cornea, jedoch ungeeignet für tiefer gehende Therapien. Dexamethasonphosphat penetriert schlechter durch das Hornhautepithel. Bei intaktem Epithel ist die Konzentration in der Vorderkammer 20-mal geringer als bei Prednisolonacetat (1%). Existiert jedoch im Epithel eine offene Stelle respektive eine Wunde, erhöht sich der Penetrationseffekt dieses Standardmedikaments deutlich. Dann penetriert Dexamethasonphosphat sehr gut durch das Stroma und ist 5-mal potenter als Prednisolonacetat (1%). Achten sollte
man auf den Phosphatspiegel, der bei Dexafree® rund 30fach und bei Maxidex® 17-fach gegenüber dem physiologischen Phosphatspiegel erhöht ist. Deshalb bestehe vor allem bei sehr häufiger Anwendung, beispielsweise bei Wunden, ein Verkalkungsrisiko. Insgesamt seien dies jedoch gute Standardmedikamente, so Thiel. Prednisolonacetat (1% oder 0,5%) penetriert hingegen sehr gut durch intaktes Hornhautepithel und hat deshalb in der Vorderkammer eine rund 20-fach höhere Konzentration als Dexamethason. Selbst am Glaskörper bis zur Netzhaut ist noch eine Wirkung von Prednisolonacetat nachweisbar, allerdings besitzt es eine rund 5-mal geringere Effektivität als Dexamethason. Der grosse Vorteil ist der sehr niedrige Phosphatgehalt dieser Medikamente. «Mit Pred Forte® können Sie alle zehn Minuten die Hornhaut behandeln, und sie wird nie verkalken», sagte der Referent. Ultracortenol®-Salbe als weiteres Prednisolonmedikament penetriert zwar weniger gut als Prednisolonacetat, hat jedoch einen länger anhaltenden Wirkspiegel.
Antibiotika in der Notfallversorgung
Gerade in der Notfallversorgung werden oft Antibiotika eingesetzt. Allerdings sind viele dieser Medikamente (z. B. Aminoglykoside, Amphotericin, PHMB) nicht oder kaum in der Lage, ein intaktes Hornhautepithel zu penetrieren. Bei Defekten der Cornea geschieht die Penetration jedoch problemlos, beispielsweise mit Aminoglykosiden. Die einzige Gruppe unter den Antibiotika, die ein Epithel zuverlässig durchdringt und hierzulande verfügbar ist, sind die Chinolone. In der Schweiz werden unter den Chinolonen hauptsächlich Floxal® und Vigamox® eingesetzt, wobei sich das Wirkspektrum der beiden Substanzen komplett unterscheidet. Während sich Floxal® gegen gramnegative Keime wie Pseudomonas richtet, die häufig bei Kontaktlinsenträgern Infektionen hervorrufen, hat Vigamox® bei grampositven Bakterien, wie bei typischen Augenlidkeimen nach Operationen, seine Stärken.
Eigenserumaugentropfen bei schweren
Oberflächenschäden
Die Behandlung des trockenen Auges kann, neben den be-
reits erwähnten Medikamenten, auch mit Serumaugentrop-
fen erfolgen. Solche sehr aufwendig herzustellenden Medika-
mente kommen jedoch nur bei schweren Oberflächenschä-
den zum Einsatz, zumeist bei Nervenschädigungen an der
Epitheloberfläche der Hornhaut. Eigenserumtropfen enthal-
ten verschiedene Wachstumsfaktoren (z. B. EGF), Vitamine
(z. B. Vitamin A), Wundheilungsfaktoren (z. B. Fibronectin),
Plasmaproteine (z. B. Albumin), Enzyme (Lysozyme) und
anderes. «Wir erreichen mit Eigenserumtropfen einen Grad
an Befeuchtung, wie man ihn konventionell nie bekommen
würde», sagte Thiel. Wichtig dabei: Das Serum für Augen-
tropfen ist nicht identisch mit dem Blutserum für Laborun-
tersuchungen, weil bei Letzterem die Konzentration der
Wachstumsfaktoren ungenügend ist.
s
Klaus Duffner
Quelle: Prof. Michael Thiel: «Hornhauterkrankungen und Therapie», Referat am virtuellen Symposium «Therapie von Augenerkrankungen» der Schweizerischen Gesellschaft für Pharmakologie und Toxikologie (SSPT) am 20. Januar 2021.
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