Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse
Das Schlimmste, das nach Corona passieren kann? Dass die urbanen Eliten auf demWeg raus aus der Enge das Landleben entdecken, die Leute vom Land mit ihrem Zuzug beglücken und es sich zur Aufgabe machen, den Landleuten endlich urbane Kultur beizubringen. Oder noch schlimmer: auf die Idee kommen, den Leuten ihre ländliche Kultur (wie individuelle Fortbewegung, eigener Garten, SUV, Fleischessen, «karbonisiertes Heizen» und dergleichen Unarten) abzugewöhnen.
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Bullshit der Woche: Wir müssen die Zukunft ganz neu denken.
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Diskussion nach dem «mutigen Dienstag» (dem Tag, an dem das Rahmenabkommen mit der EU beerdigt wurde). Onkel Hugo meint: Einst waren wir klein und allein, nichts weiter, nichts Besonderes, nur einfach besser als die anderen. Nicht die besseren Menschen, aber irgendwie cleverer und effizienter,vielleicht fleissiger oder besser gebildet. Vielleicht hatten wir auch einfach Glück. Selbst heute, wo Staat und Gesellschaft beim Bewältigen von Krisen längst nicht mehr Spitze sind (Corona hat’s gezeigt), ist die Schweizer Wirtschaft immer noch gut. Jedenfalls dank glücklichen Umständen und gehörigem eigenen Zutun sind wir eines der wohlhabendsten Länder geworden. Und nun sollen wir wegen eines verschmähten Rahmenabkommensverelenden? Er, Hugo, habe da keine Angst!Wenn wir die besseren Produkte produzieren, die besten Bedingungen (ja, ja, auch steuerlich, soweit das geht) bieten für Unternehmen, Studenten, Forscher und Fachleute, werden einige Regierungen um uns herum zwar täubelen, uns mobben und piesacken, aber an uns vorbei werden sie nicht kommen. Ein rauherer Wind von Brüssel her? OK, nutzen wir ihn, um schneller zu segeln. Das, meint der junge Ralph, der seinem älteren Freund kritisch
zugehört hat, sei doch populistischer, egoistischer und naiver Zweckoptimismus. Hugo: Besser als Zweckpessimismus und Verzicht auf Selbstbestimmung. (Die folgende Diskussion darüber, was Selbstbestimmung konkret bedeute, wäre eine eigene Kolumne wert. Jedenfalls: discussion à suivre.)
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Und die Diskussionen gehen weiter. Anderer Tag, andere Protagonisten, nicht ganz anderes Thema: Der alte 68er (einer von den «geläuterten», andere meinen: abgesprungenen, er selber meint: sich treu gebliebenen): Ich verstehe meine alten Freunde nicht mehr. Was haben wir uns nicht alles verbeten?Wogegen haben wir uns nicht alles gewehrt? Was haben wir nicht alles gemacht oder nicht gemacht – aus Protest gegen das Establishment? Wer waren denn unsere Gegner, damals? Klar, die Kirche mit ihrer Sexualmoral. Aber aus der konnte man austreten. Nein, es war der Staat, der uns überwachte, fichierte, in den Militärdienst zwang, uns dort die Haare kurz scherte, jene zu erniedrigenden Befragungen zwang, die den Dienst verweigern wollten, Konkubinatspaare bestrafte und in andere Kantone zwang. Und heute? Heute lassen sich dieselben 68er vom gut bezahlten, bunten, urbanen, staatsgläubigen Neo-Establishment (Sittenpolizisten in öffentlichen Ämtern, an den Unis, in den Medien – wie damals, nur diesmal selber Teil des Staats oder in dessen Diensten) vorschreiben, was sie sagen und wie sie sprechen und schreiben dürfen, wieviele Geschlechter es gibt, wie, wie viel und womit sie sich fortbewegen dürfen, wie warm es in der Stube sein darf. Offenbar erlahmt bei Alt-68ern im Alter die Lust zur Widerborstigkeit. Traurig. (Weiter kommt er nicht, der widerborstig gebliebene Alte. Er muss zum Rheumatologen. Auch sein «Kreuz» ist nicht mehr, was es einmal war.)
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Minderheiten sollten alle Rechte haben, ausser das Recht, von der Mehrheit zu fordern, sie habe sich nach den Regeln der Minderheit zu richten.
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Heute gibt’s Bücher für Junge mit Titeln wie «Simplify your life». Die Alten wundern sich. Genau so war das normale Leben in den 50er- und 60erJahren. Und dafür zahlt man heute 22 € (gebunden, bei Amazon).
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Die Welt ist kompliziert geworden. Wer keine (radikalen) Muslime im Land haben will, ist ein Rassist. Die meisten Muslime wurden antisemitisch sozialisiert, sind also auch Rassisten. Israels Politik gegenüber den Palästinensern gilt als diskriminierend, also ebenfalls als rassistisch. Grüne und Linke sind deshalb israelkritisch. Was sich von antisemitisch, also rassistisch, nur schwer unterscheiden lässt. Rechtsbürgerlichen wird ohnehin grundsätzlich Rassismus vorgehalten, auch wenn (oder gerade weil) sie durchaus wohlwollend auf das kleine Israel schauen. Andere betrachten Muslime mit Wohlwollen – und dürfen deshalb deren Antisemitismus nicht thematisieren. Auch nicht deren Verachtung für alle «Ungläubigen», denn Muslime dafür zu kritisieren, wäre islamophob, also rassistisch. So, und jetzt versuchen Sie mal, sich da durchzuwursteln, ohne für irgend jemanden als Rassist zu gelten.
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Und das meint Walti: Ich geb’s zu, manchmal halt sogar ich mich am Arbeitsplatz an die klassische «Robinson-Technik»: Warten auf Freitag!
Richard Altorfer
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ARS MEDICI 12 | 2021