Transkript
BERICHT
Glaukom
Die Dunkelheit aufhalten
Zwar ist hinsichtlich der Pathophysiologie des Glaukoms vieles noch unklar, sicher ist jedoch, dass meist ein erhöhter Augeninnendruck zum Absterben von retinalen Ganglionzellen führt und Erblindung droht. Eine Sonderform ist das Normaldruckglaukom, bei dem es zum Absterben von retinalen Ganglionzellen kommt, obwohl der Augendruck im Normbereich ist. Mit den derzeit verfügbaren Therapien kann bestenfalls eine Stabilisierung der Erkrankung erreicht werden, aber neue Optionen sind in Sicht. Dr. med. Stephan Fränkl, Universitätsklinik für Augenheilkunde, Inselspital Bern, gab am diesjährigen virtuellen Symposium der Schweizerischen Gesellschaft für Pharmakologie und Toxikologie (SSPT) einen Überblick.
Das Glaukom (oder Grüner Star) ist nach dem Grauen Star weltweit die zweithäufigste Ursache für Blindheit. Das Lebenszeitrisiko für Erblindung bei früh diagnostiziertem manifesten Glaukom beträgt – trotz Therapie – für ein Auge 26 Prozent und für beide Augen 15 Prozent. Das Glaukom wird definiert als typischer Sehnervenschaden mit Gesichtsfelddefekt bei mehr oder weniger hohem Augendruck. Beim Normaldruckglaukom nimmt man an, dass eine gestörte Durchblutung ein wichtiger pathogenetischer Faktor ist. Bei einem kindlichen Glaukom oder einem Winkelblockglaukom entsteht der erhöhte Augendruck durch eine mechanische Blockade. Diese Glaukomformen müssen deshalb oft per Laser oder chirurgisch behandelt werden. Bei rund 80 Prozent der Glaukome handelt es sich jedoch um ein Offenwinkelglaukom; auf diese Form des Glaukoms bezogen sich die folgenden Ausführungen des Referenten.
Hungernde Axone
Typisch für das Glaukom ist eine Aushöhlung des Sehnervenkopfs, was letztlich zur stetigen Einengung des Gesichtsfelds führt (1). Aus Tierversuchen geht hervor, dass es dabei zu einer Kompromittierung des aktiven retrograden axionalen Transports und der passiven Diffusion zum Ganglionzellkörper kommt. Das behindert die Versorgung dieser Nerven-
KURZ & BÜNDIG
� Bei 80 Prozent der Glaukome handelt es sich um ein Offenwinkelglaukom.
� Die Progressionsrate des Glaukoms ist individuell sehr variabel und von vielen Faktoren abhängig.
� Die wichtigsten topischen Medikamente sind Betablocker, Alpha-2-Agonisten, Prostaglandinanaloga und Carboanhydrasehemmer.
� Mit einer Therapie wird bestenfalls eine Stabilisierung der Erkrankung erreicht.
zellen. Es folgen der Untergang der Ganglionzellen und eine retrograde Degeneration der Axone. Eine wichtige Rolle scheint dabei die Lamina cribrosa zu spielen, ein siebförmiger mit Kapillaren und Astrozyten besetzter Abschnitt, durch den die Sehnerven mit 1,2 bis 2 Millionen Ganglionzellen das Auge verlassen. Heute nimmt man an, dass sich an dieser Stelle das primäre Problem bei einem Glaukom befindet. Forscher gehen davon aus, dass durch den Druckaufbau am relativ starren Gerüst der Lamina cribrosa Scherkräfte wirken, die die Axone schädigen. Zudem muss der Sauerstoff für diese recht vulnerablen Zellen einen relativ weiten Weg zurücklegen, und auch hier könnte es bei hohem Druck zu Engpässen kommen. So oder so: Im Endstadium kommt es zur Apoptose der retinalen Ganglionzellen, zur Netzhautverdünnung und zum Absterben des gesamten Sehnervs.
Augeninnendruck als Hauptrisikofaktor
Obwohl bei diesen Vorgängen auch immunologische und Durchblutungsfaktoren beteiligt sind, bleibt der therapierbare Hauptrisikofaktor für die Entstehung eines Glaukoms ein hoher Augeninnendruck. Hinsichtlich des Aufbaus dieses Augeninnendrucks ist heute noch vieles unbekannt, sicher ist jedoch, dass es beim aktiven und passiven Abfluss des Kammerwassers zu Widerständen kommt (2). So ist die Matrix des Trabekelmaschenwerks (eine Art Filter) verändert und der dahinterliegende Schlemmsche Kanal teilweise kollabiert, was den Durchstrom des Wassers verhindert. «Wir sehen zwar die gleiche Kammerwasserproduktion, aber einen erhöhten Widerstand beim Abfluss, sodass der Augendruck steigt», erklärte Dr. med. Stephan Fränkl, Universitätsklinik für Augenheilkunde, Inselspital Bern. Mit dem uveoskleralen Ausfluss existiert allerdings noch ein zweiter Wasserweg. Er führt durch die Zwischenräume des Ziliarmuskels in den suprachoroidalen Raum (3). Da die Zwischenräume mit dem Alter kleiner werden, wird auch dieser Abfluss eingeengt. Bis heute ist unklar, ob diese Reduktion bei der Glaukomentstehung auch eine Rolle spielt. Sie könnte für eine zukünftige medikamentöse Therapie jedoch ein wichtiger Ansatzpunkt sein, so Fränkl.
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Progression sehr variabel
Was sind die therapeutischen Ziele einer Behandlung? «Wir möchten das Fortschreiten des Glaukoms verlangsamen und eine Behinderung im Alltag in der zu erwartenden Lebensspanne möglichst verhindern», sagte Fränkl. Aus grossen randomisierten Studien weiss man, dass die meisten Patienten eine Progression erleiden, auch wenn der Augendruck normalisiert ist. Allerdings kann die Progressionsrate sehr variabel sein. Sie ist abhängig von der Art des Glaukoms, denn ein Normaldruckglaukom weist eine langsame, ein Hochdruckglaukom eine relativ schnelle und ein PEX-Glaukom, mit sehr hohem Augeninnendruck und grossen Schwankungen, eine sehr schnelle Progression auf (4, 5). Auch das Erkrankungsstadium bei Diagnosestellung, das Druckniveau, mögliche Druckschwankungen im Tagesverlauf, die Hornhautdicke, das Alter der Patientinnen und Patienten, familiäre Belastungen, Hypertonie, internistische Erkrankungen wie Diabetes oder auch Kortisontherapien spielen bei der Progression eine Rolle. Das grobe Therapieziel ist eine gegenüber dem unbehandelten Ausgangswert 30-prozentige Senkung des Augeninnendrucks. Dabei sollte das Voranschreiten der Erkrankung überprüft (u. a. über das Gesichtsfeld) und der Zieldruck angepasst werden. Falls eine konservative Behandlung ungenügend wirksam ist, sind Laser oder eine konventionelle Operation weitere Optionen.
Vor allem topische Medikamente
Neben chirurgischen Massnahmen, die von Fränkl aus Zeitgründen nur am Rande erwähnt werden konnten, kommt für die Therapie des Glaukoms eine ganze Reihe lokal (Tabelle) zu verabreichender Wirkstoffe infrage. So wirken lokale Betablocker, indem sie die Kammerwasserproduktion und damit den Augeninnendruck reduzieren. Die meistgebrauchte Substanz ist hier Timolol, das an den Beta-1- und Beta-2-Rezeptoren ansetzt. Da die Kammerwasserproduktion hauptsächlich am Tag stattfindet, sollten Betablocker vor allem tagsüber verwendet werden. Für
Patienten, die sehr empfindlich auf Betablocker reagieren, sei das niedrig dosierte Timogel® (0,1%) empfehlenswert, sagte Fränkl. Betaxolol ist der einzige Beta-1-selektive Betablocker, allerdings, im Vergleich zu Timolol, mit geringerer Wirksamkeit. Als Nebenwirkungen können verminderte Tränenproduktion, Bradykardie, Hypotonie (Beta1), Bronchospasmen (Beta-2), Müdigkeit und anderes auftreten. Kontraindikationen sind Asthma, COPD und Herzrhythmusstörungen. Auch Alpha-2-Agonisten vermindern die Kammerwasserproduktion. Zudem verstärken sie den uveoskleralen Abfluss. Der selektive Alpha-2-Agonist Brimonidin ist weniger wirksam als Betablocker, kann jedoch in Kombination mit Betablockern oder Carboanhydrasehemmern verwendet werden. Interessanterweise sind solche Kombinationsprodukte lokal besser verträglich als die Einzelsubstanzen. Die Nebenwirkungen sind vor allem okulärer Art, nämlich Bindehautreizungen oder allergische Konjunktivitis (z. T. erst nach einem Jahr). Kontraindikationen sind die Behandlung von Kindern wegen möglicher Atemdepression, die Therapie mit Monoaminooxidasehemmern und die Therapie mit trizyklischen Antidepressiva. Mit zu den wirksamsten Substanzen zählen Prostaglandinanaloga. Sie vermehren den uveoskleralen Abfluss und haben so den stärksten augendrucksenkenden Effekt von bis zu 30 Prozent. Auf dem Markt sind verschiedene Substanzen wie beispielsweise Latanoprost, Travoprost oder Bimatoprost. Sie werden oft in Kombination mit anderen Wirkstoffklassen eingesetzt. Wie bei den Alpha-2-Agonisten treten auch bei Prostaglandinanaloga vor allem okuläre Nebenwirkungen auf, und zwar relativ häufig Bindehauthyperämie, verstärktes Wimpernwachstum, irreversible Irishyperpigmentierung (vor allem bei grünbraunen Irides) oder Hyperpigmentierungen der Haut. Sehr selten sind dagegen Makulaödeme oder eine Verstärkung einer Uveitis respektive Herpeskeratitis.
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Tabelle:
Topische Substanzen zur Glaukomtherapie
Substanzklasse Substanzen
Betablocker
Timolol
Betaxolol
Alpha-2-Agonisten
Brimonidin
Brimonidin + Timolol
Brimonidin + Brinzolamid
Prostaglandinanaloga
Latanoprost
Latanoprost + Timolol
Travoprost
Travoprost + Timolol
Bimatoprost
Bimatoprost + Timolol
Carboanhydrasehemmer Dorzolamid
Dorzolamid + Timolol
Brinzolamid
Brinzolamid + Timolol
Miotika
Pilocarpin
Angaben gemäss compendium.ch, Stand: 7.5.2021
Handelsnamen Timisol®, Timo-COMOD, Timogel®, Timoptic® Betoptic® Alphagan®, Brimo-Vision®, Brimonidin-Mepha Combigan® Simbrinza® Latanoprost-Mepha, Latanoprost Pfizer®, Latano-Vision®, Monoprost®, Xalatan® Co-Latanoprost Pfizer®, Fixaprost®, Latanoprost-Mepha Plus, LatanoTim-Vision®, Xalacom® Travatan®, Travoprost-Mepha, Travo-Vision® DuoTrav®, Travoprost-Mepha Plus, TravoTim-Vision® Lumigan® Ganfort® Dorzo-Vision®, Trusopt® Cosopt®, DorzoComp-Vision®, Duokopt Azopt® Azarga® Spersacarpine®
Die potenziell durchblutungsfördernden lokalen Carboanhydrasehemmer wirken ebenfalls inhibierend auf die Kammerwasserproduktion, jedoch sind sie weniger wirksam als Timolol. Zur Verfügung stehen Dorzolamid und Brinzolamid, die oft in Kombination mit Timolol verwendet werden. Als okuläre Nebenwirkungen treten vor allem allergische Blepharokonjunktivitis, ein bitterer Geschmack im Mund sowie Augenbrennen auf, wobei Brinzolamid weniger brennt als Dorzolamid. Auch Miotika wirken drucksenkend, indem der Musculus sphincter pupillae zur Kontraktion gebracht wird. Dies führt wiederum zu einem Zug am Trabekelmaschenwerk und zu erhöhtem Wasserabfluss. Die Wirksamkeit von Miotika ist mit derjenigen von Betablockern vergleichbar. Allerdings sollten diese Medikamente nie mit Prostaglandinanaloga kombiniert werden, da sie deren Wirkung aufheben. Heute werden Miotika kaum noch eingesetzt, weil sie zur Engstellung der Pupille (Miosis) führen und vor allem nachts eine verminderte Sehschärfe verursachen. Zudem treten vor allem bei jüngeren Patienten bisweilen Kopfschmerzen auf; verfügbar ist Pilocarpin.
Neue Therapien in der Zukunft
Systemische Medikamente werden nur in Notfallsituationen genutzt, wie sie beispielsweise bei einem akuten Druckanstieg im Auge vorkommen. Carboanhydrasehemmer haben viele systemische Nebenwirkungen wie Parästhesien, Malaise, gastrointestinale Beschwerden, Nierensteine, das Steve-Johnson-Syndrom, Knochenmarksuppression oder aplastische Anämien mit sehr hoher Mortalität. Auch osmotisch wirksame Präparate (Mannitol) werden als Notfallmedikamente eingesetzt. Weitere Augentherapeutika sind in der Schweiz zu erwarten, drei von ihnen sind bereits in den USA zugelassen. So relaxiert ein NO-Donator (Vyzlulta®) das Trabekelma-
schenwerk und den Schlemmschen Kanal und führt möglicherweise zu einer besseren Durchblutung. Zudem wird mit Netarsudil ein Rho-Kinase-Inhibitor verfügbar sein, der eine Langzeitwirkung auf das Trabekelmaschenwerk hat und den episkleralen Wasserdruck senkt. Schliesslich steht mit Durysta® ein Bimatoprostimplantat in den Startlöchern. Es handelt sich dabei um ein winziges Stiftchen, das zur Druckabsenkung in die Vorderkammer des Auges eingepflanzt wird. Vorteile sind eine höhere Compliance, eine sehr lange Wirksamkeit und deutlich weniger Nebenwirkungen. s
Klaus Duffner
Quelle: Dr. Stephan Fränkl: «Der grüne Star: Glaukom – Pathophysiologie und medikamentöse Therapie», Referat am virtuellen Symposium «Therapie von Augenerkrankungen» der Schweizerischen Gesellschaft für Pharmakologie und Toxikologie (SSPT) am 20. Januar 2021.
Referenzen: 1. Weinreb RN, Kaufman PL: Glaucoma research community and FDA look
to the future. II: NEI/FDA Glaucoma Clinical Trial Design and Endpoints Symposium: measures of structural change and visual function. Invest Ophthalmol Vis Sci. 2011;52:7842-7851. 2. Johnson DH, Johnson M: How does nonpenetrating glaucoma surgery work? Aqueous outflow resistance and glaucoma surgery. J Glaucoma. 2001;10(1):55-67. 3. Yücel YH et al.:. Identification of lymphatics in the ciliary body of the human eye: a novel «uveolymphatic» outflow pathway. Exp Eye Res. 2009;89(5):810-819. 4. Leske MC et al.: Predictors of long-term progression in the early manifest glaucoma trial. Ophthalmology. 2007;114(11):1965-1972. 5. Heijl A et al., Early Manifest Glaucoma Trial Group: Natural history of open-angle glaucoma. Ophthalmology. 2009;116(12):2271-2276.
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