Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse
Kennen Sie Charles Sobhraj? Gut, wenn Sie ihn nie kennengelernt haben. Der heute 77-Jährige brachte in den Siebzigerjahren zahlreiche Hippies um, die auf den damals beliebten Hippie-Trips in Südostasien unterwegs waren. Wie Sie vielleicht auch. Wie viele von uns. In der Netflix-Serie «The Serpent» (Die Schlange) lassen gerade viele die damaligen Zeiten, in denen wir ebenso neugierig wie naiv fremde Welten bereisten – die einen alles Exotische von der Türkei über Afghanistan bis Goa (Hauptsache «Gras»), die andern die Länder Südamerikas, auf den Spuren von Castaneda von Mexiko über Belize bis Chile (Hauptsache Pilze), und die Dritten das schwarze Afrika –, wieder auferstehen. Auch wenn das Risiko, im falschen Bus oder TaxiBrush bei einem Verkehrsunfall umzukommen, an Malaria, Hepatitis oder einem tropischen Virus zu erkranken oder von einem bekifften, abgebrannten Backpacker bestohlen zu werden, weitaus grösser war, als Typen wie Sobhraj zu begegnen, in Situationen, die uns nachträglich ziemlich gruselig und ungeheuer vorkamen, landeten wir alle. Wir hätten – so viel Ehrlichkeit muss sein – genauso gut Opfer des offenbar charmanten Massenmörders werden können. Wem haben wir nicht alles vertraut? Was haben wir nicht alles gegessen und getrunken und ausprobiert? Wo haben wir nur überall geschlafen? Wie oft haben wir uns nicht getraut, Nein zu sagen, trotz eines unguten Gefühls? Nicht alle haben die Abenteuertrips überlebt und können heute wohlig schaudernd Netflix geniessen. (Sobhraj sitzt übrigens seit 2005 in einem Gefängnis in Kathmandu, nachdem er in Frankreich zwar inhaftiert, verurteilt, nach 12 Jahren aber wieder freigelassen worden ist.)
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Den Millennials (den 30- bis 40-Jährigen) stehen alle Möglichkeiten offen, sie
haben nur ein Problem: Sie dürfen alles – nur nichts anderes als die anderen. Sie leben in dauernder Angst, irgendetwas Falsches zu sagen oder nicht genehme Wörter zu verwenden. Sie, die Promotoren der Cancel Culture, canceln sich am liebsten selbst. Jemand nannte sie die (früh vergreiste) «Waschlappengeneration», weil sie nur politisch korrekt plappern und sonst lieber den Mund halten. Millenials brauchen Likes und Herzchen von ihresgleichen. Herzig.
sss
Ist Ihnen aufgefallen, wie die deutsche Sprache sich wandelt? Nein, nicht wegen der unappetitlichen deutschen Gender-Sonderzeichen. Es ändern sich – zumindest in Talkshows – auch ideologiefreie Sprachgewohnheiten. Ist man in Deutschland gleicher Meinung, dann heisst das heute: «Da bin ich ganz bei Ihnen.» Oder man bestätigt, wohl um seine globalisierten Sprachkenntnisse zu demonstrieren: «Da geh ich mit Ihnen ganz d’accord.» Irgendwie putzig!
sss
Bullshit der Woche: «Fortschritt ist immer Entwicklung, nie Stillstand.»
sss
Gelegentlich ist man sogar als föderalistischer Schweizer versucht, das französische Politsystem wegen seiner zentralen Macht zu beneiden. Präsident Macron etwa hat nichts übrig für das läppische «Gendern» (Sie wissen schon: *:/_Innen), wie es so zeittypisch ist für Deutsche und Deutschschweizer. Ihm passt nicht, dass einige seiner Landsleute den Mitte des 18. Jahrhunderts von Johann Gottfried Herder geprägten deutschen Begriff «Zeitgeist» nicht nur entlehnt haben, sondern ihm auch noch huldigen. Er hat deshalb den französischen Behörden das «Gendern» schlicht
untersagt – zum Schutz der französischen Sprache vor ideologischer Verhunzung. Erstaunlich: Für ein Verbot, wie es in deutschen Landen unvorstellbar ist, braucht es in Frankreich nichts als einen zentral regierenden Präsi mit einer kleinen Portion banalen zentralen Menschenverstands.
sss
Wer es schafft, mit der (einer Schweizer Tageszeitung entnommenen) Qualifikation «Master of Arts in Public Management and Policy mit Vertiefung in Public Communication and Management», einem zusätzlichen «CAS in Applied Information Technology», tätig als «Digital Transformation Consultant» und einer Historie als Förderer von Smart-City-Projekten in Feldern der Mobilität (Swiss Transit Lab) und der Digitalisierung, mit «Erfahrung und hoher Motivation für Smart-City-Themen und Innovation», zudem vertraut mit der Digitalisierung der Verwaltung, in Smart Government und Smart Mobility zum Leiter einer Smart-City-Fachstelle gewählt zu werden, der hat zweifellos nicht nur den Job, sondern daneben den Titel «Smartest Applicant of the City» verdient. Was jene verdienen, die dafür bezahlen (bzw. bezahlen lassen – wir sind schliesslich beim Staat), ist eine andere Frage.
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Menschen, die sich nach Festtagen auf die Waage stellen, nennt man waagemutig.
sss
Und das meint Walti, für einmal philosophisch gestimmt: Ich bin ein zufriedener Mensch, weil ich will, was ich muss …
Richard Altorfer
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ARS MEDICI 11 | 2021