Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse
Haben Sie das neue Modewort von Politikern (aller Parteien) schon bemerkt? Vermutlich schon, schliesslich ist das demonstrative Triefen vor «Demut» in all den Talkshows nicht zu überhören und zu übersehen.
sss
Bullshit der Woche: «Wir sind auf einem guten Weg.»
sss
Adolf Muschg hat die «cancel culture» (also den Versuch – oft als Vorwurf vorgetragen –, unliebsame bzw. «politisch nicht korrekte» Aussagen oder Handlungen bzw. ihre Sprecher und die Handelnden als Rassisten, Sexisten u. Ä. zu stigmatisieren und sie damit aus dem kulturellen Diskurs auszuschliessen) in einen Zusammenhang mit Auschwitz gebracht. Heikel, heikel. Der Shitstorm der Kulturschaffenden war vorprogrammiert. Adolf Muschg: «Ein falsches Wort in feministischen Diskursen, bei rassistischen Diskursen – und du hast den Stempel. Man stempelt Leute ab, und von da an kommen sie als Gesprächspartner nicht mehr infrage.» (Auch das «J» im Schweizer Pass war so ein Stigma – es war wohl Muschgs Anlass, Cancel Culture und Auschwitz sicher nicht zu vergleichen, aber in einen Zusammenhang zu bringen.) Was er an dieser Praxis entsetzlich findet: «Es ist das Interesselose an den eigenen Widersprüchen. Das ist doch der ganze Spass des Lebens, dass ich lerne, dass miteinander völlig unvereinbare Dinge zusammengehen.» Wie recht er hat. Zu bewundern ist er aber aus einem anderen Grund: Er liess sich nicht, wie das die meisten, sich zerknirscht gebend, getan hätten, dazu verleiten, sich für seinen Satz zu entschuldigen. Dass die Erwähnung von Auschwitz missverstanden werden kann, weiss er selbst sicher am besten. Sich von selbst ernannten Hütern der richtigen Kultur («Cancel Cul-
turellen») zwingen zu lassen, nicht zu einem unglücklich gewählten, aber mitnichten falsch gemeinten Satz zu stehen, ist mutig. Und solche Standhaftigkeit ist heute selten.
sss
Schon merkwürdig. Oder noch normal? Vor 50 Jahren hörte man ab Kassette Janis Joplin, die Beatles, die Stones, Status Quo, Canned Heat. Etwas früher Elvis Presley, Little Richard. Und heute? Wird man im Alter melancholischer? Romantischer? Sentimentaler? Kitschiger? Oder bloss langsam dement? Auf einmal entdeckt man Bruce Springsteens «Jersey Girl», Kevin Johnsons «Rock ’n’ Roll (I gave you all the best years of my life)», freut sich beim Schweizer Song des Jahrzehnts über Polos «Alperose», findet Andreas Gabailer ganz pässlich, wird fast von «Rosmarie» der Gruppe Heimweh übermannt und könnte Kenny Rogers/Dolly Partons «Island in the stream» zehnmal anhören. Ein bisschen peinlich ist’s schon.
sss
Vielleicht passt dazu: Tom Jones (80) ist seit 2016 Witwer. Der Sänger von «Delilah», «What’s new, Pussycat?» oder «Green, green grass of home» war 59 Jahre lang mit Melinda (Linda) Rose Woodward zusammen; er hatte sie mit 16 geheiratet. Die Urne seiner Frau steht seit ihrem Tod in Toms Schlafzimmer, neben seinem Bett. Wenn er aufwacht, spricht er zu ihr. Und wenn er zu Bett geht, sagt er ihr «Gute Nacht». Linda sei der wichtigste Mensch in seinem Leben gewesen, der Rest ein bisschen Spass und Spielerei. Auch deswegen kitzelt so manchen eine kleine Träne im Auge, wenn der alte weisse «Tiger», inzwischen reichlich hüftsteif, in der imposanten Arena in Pula «Sexbomb» singt.
sss
Zitat aus einem Film von Dieter Wieland («Grün kaputt», 1983): «Wo ein Baum nur steht, überall steht er im Weg.» Wenn Sie sich gruseln, heulen, lachen wollen, alles in einem, und Landschafts- und Denkmalschutz für eine wichtige Aufgabe halten oder wenn Sie vor vielen Jahren Horst Stern, den Tierfilmer und -schützer im Fernsehen, mochten, dann seien Ihnen für langweilige Corona-Tage die Filme von Dieter Wieland (z.B. «Unser Dorf soll hässlich werden»: https://www.youtube.com/ watch?v=8FRBMmM0qjc) ans Herz gelegt.
sss
Sind Sie ein «alter weisser Mann»? Nun denn, seien Sie stolz darauf, denn Sie haben ganz wesentlich dazu beigetragen, dass viele andere Sie ebenso wütend wie neidisch, und von manchen Medien geradezu dazu angespornt, beschimpfen oder verhöhnen dürfen. Klar, wer selbst niemals mitgewirkt hat bei – sagen wir mal, nur so, als Beispiel – der Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten oder – anderes banales Beispiel – der Konstruktion einer Zentralheizung, wird halt gern mal grantig. Ist ja auch begreiflich. Sich immer nur als Opfer zu inszenieren und für Medizin, Wärme im Haus, ja sogar für Smartphones immer (inzwischen alten) weissen Männern dankbar sein zu müssen, das nervt gewaltig.
sss
Und das meint Walti: Man ist nicht grün, weil man ein Intellektueller ist. Das bilden sich manche Grüne nur ein. Die meisten halten sich für Intellektuelle, weil sie grün sind.
Richard Altorfer
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ARS MEDICI 10 | 2021