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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Budesonid bei COVID-19
Experten warnen vor zu hohen Erwartungen
Kürzlich erregte die Veröffentlichung der STOIC-Studie beträchtliches Aufsehen, weil von sehr positiven Effekten von Budesonid im frühen Stadium von COVID-19 berichtet wurde (1). In den Medien galt Budesonid für einige sogar als «game changer», zumal es sich um ein bewährtes und preiswertes Medikament handelt. Die Studie war allerdings weder verblindet noch plazebokontrolliert. Sowohl die Patienten als auch die Ärzte wussten, wer mit Budesonid behandelt wurde und wer nicht. Jetzt warnen drei medizinische Fachgesellschaften im deutschsprachigen Raum, die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), die Österreichische Gesellschaft für Pneumologie (ÖGP) und die Deutsche Gesellschaft für Allergologie und Klinische Immunologie (DGAKI), vor überzogenen Erwartungen (2, 3): Die Studie generiere allenfalls Hypothesen, erlaube aber keineswegs eine generelle Empfehlung für eine Therapie mit inhalativen Steroiden (ICS) bei COVID-19-Patienten. Vielmehr sei eine grössere, verblindete
und plazebokontrollierte Studie mit unterschiedlichen ICS-Dosen notwendig, um mögliche ICS-Effekte bei COVID-19 zu prüfen. Die wesentlichen Kritikpunkte an der STOIC-Studie lauten: s Plazebokontrolle und Verblindung
fehlten. s Ein Selektionsbias ist nicht auszu-
schliessen (nur 73 Patienten pro Gruppe, deren Rekrutierung trotz hoher Infektionszahlen mit 5 Monaten auffällig lang dauerte). s 16 Prozent der Patienten in der Budesonidgruppe waren Asthmatiker und profitierten möglicherweise auch deswegen von dem ICS, was die Aussagekraft für alle COVID-19Patienten einschränkt. s Die Endpunkte waren grösstenteils subjektiv geprägt und anfällig für Plazeboeffekte (gefühlte Notwendigkeit, einen Arzt oder die Notfallambulanz aufzusuchen, Fragebögen zur empfundenen Besserung usw.). Möglicherweise suchten Patienten mit Budesonid im Vertrauen auf die ICS-Wirkung ärztliche Hilfe seltener oder später auf.
STOIC-Studie
Die STOIC-Studie (1) war nicht verblindet und nicht plazebokontrolliert. Es wurden 146 Patienten in die Studie eingeschlossen, 73 in jede Gruppe. Die meisten von ihnen hatten kein Asthma (84 bzw. 86% der Probanden). Die Patienten in der Budesonidgruppe verwendeten innert 7 Tagen nach Beginn eines leichten COVID-19-Verlaufs einen Budesonid-Turbohaler (2-mal 2 Hübe à 400 µg, Tagesdosis 1600 µg). Die Patienten in der Kontrollgruppe hatten keinen Inhaler. Primärer Endpunkt war die Notwendigkeit einer Notfallkonsultation. Zu den sekundären Endpunkten gehörten die Erholung gemäss eigener Einschätzung des Patienten, viral bedingte Symptome, erfasst mit zwei Fragebögen (FLUPro, CCG), Fieber, Sauerstoffsättigung und Viruslast. Die Patienten wurden von Juli bis Dezember 2020 in die Studie aufgenommen. Die Studie wurde vorzeitig beendet, weil man zu dem Schluss kam, dass sich das Resultat durch die Aufnahme weiterer Patienten nicht wesentlich verändern würde. Budesonid wurde im Mittel 7 Tage lang angewendet. In der Gruppe ohne Inhaler benötigten 11 von 73 Patienten (15%) eine Notfallkonsultation, mit Budesonid waren es 2 von 73 (3%). Um eine Verschlechterung des COVID-19-Verlaufs bei 1 Patienten zu verhindern, mussten 8 Patienten behandelt werden (NNT: 8). Mindestens einen Tag Fieber (> 37,5 °C) hatten 11 Prozent der Patienten mit Budesonid und 23 Prozent der Patienten in der Kontrollgruppe. Gemäss Selbsteinschätzung der Patienten gingen die Symptome in der Budesonidgruppe im Durchschnitt 1Tag früher zurück als ohne Inhaler (3 vs. 4 Tage). Bezüglich der Sauerstoffsättigung und der SARS-CoV-2-Viruslast zeigten sich keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen.
s Für einen Plazeboeffekt spricht, dass sich bei den objektiv messbaren Endpunkten Sauerstoffsättigung und Viruslast keine Unterschiede zwischen beiden Gruppen fanden.
s Die verwendete ICS-Dosis war sehr hoch (1600 µg pro Tag entspricht der Höchstdosis für Asthmapatienten). Es bleibt offen, ob tatsächlich eine derart hohe Dosis für den postulierten Effekt notwendig ist.
s Die Relevanz der Studienresultate für schwere COVID-19-Verläufe bleibt unklar.
Die Autoren der Stellungnahme betonen ausdrücklich, dass eine bestehende ICS-Dauertherapie bei Asthma- oder COPD-Patienten auch während der Coronaviruspandemie fortzuführen sei; das gelte auch dann, wenn diese Asthma- oder COPD-Patienten an SARS-CoV-2 erkranken. Von einer breiten Off-Lable-Behandlung mit ICS für COVID-19-Patienten im Allgemeinen oder gar von einer ICS-Selbstmedikation wird hingegen dringend abgeraten – das auch im Hinblick auf die ICS-Versorgungssicherheit für Asthma- und COPD-Patienten. Dass die Sorge vor Versorgungsengpässen aufgrund eines Budesonid-Hypes nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigen Erfahrungen aus Österreich. Eine infolge der STOIC-Studie vermehrte Off-Label-Verordnung des Asthmasprays hatte zwischenzeitlich dazu geführt, dass das ICS in Österreichs Apotheken knapp wurde und die Regierung einen Exportstopp erliess (4). RBO s
1. Ramakrishnan S et al. Inhaled budesonide in the treatment of early COVID-19 (STOIC): a phase 2, open-label, randomised controlled trial. Lancet Respir Med. 2021; published online Apr 9th, published correction Apr 14th, 2021.
2. Therapie mit inhalativen Glukokortikoiden bei COVID-19. Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), der Österreichischen Gesellschaft für Pneumologie (ÖGP) und der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und Klinische Immunologie (DGAKI) (https:// www.rosenfluh.ch/qr/stoic)
3. Asthma-Medikamente gegen COVID-19? Medienmitteilung der DPG vom 20. April 2021.
4. Budesonid: Die neue Hamsterware. www. doccheck.com, 30. April 2021.
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Choosing Wisely
Weitere verzichtbare Massnahmen
Rückspiegel
Die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) hat weitere 5 Massnahmen ausgewählt, die man in der Praxis tunlichst unterlassen sollte. Die SGAIM empfiehlt: s Kein Testen und kein Neubeginn einer
Behandlung von Dyslipidämien bei Personen über 75 Jahre in der Primärprävention. s Kein MRI des Kniegelenks bei vorderen Knieschmerzen ohne Bewegungseinschränkung oder Gelenkerguss ohne vorherige adäquate konservative Behandlung. s Keine Eisensubstitution bei asymptomatischen, nicht anämischen Patientinnen und
keine Eiseninfusion ohne vorgängigen peroralen Therapieversuch (ausser bei Malabsorption). s Keine Messung von 25(OH)-Vitamin D als Routine bei Personen ohne Risikofaktoren für einen Vitamin-D-Mangel. s Keine regelmässigen ausführlichen Gesundheitschecks bei asymptomatischen Personen.
Ausführliche Informationen und Literatur
unter: www.smartermedicine.ch
RBO s
Medienmitteilung der SGAIM vom 28. April 2021.
Coronaviruspandemie
Seroprävalenz in der Region Basel
Die Seroprävalenz bezüglich SARS-CoV-2 ist in der Region Basel in der zweiten Pandemiewelle und infolge der Impfung gestiegen. Während sie im Oktober 2020 noch 6 Prozent betrug, waren es Mitte Februar bereits 13 Prozent. Auch in anderen Regionen wuchs die Seroprävalenz in diesem Zeitraum, beispielsweise in Luzern auf 18 Prozent, in Bern auf 14 Prozent, im Vaud auf 25 Prozent und in Neuenburg und Fribourg auf 17 beziehungsweise 20 Prozent. Bis Mitte März 2021 stieg die Seroprävalenz in der Region Basel weiter an. Im Kanton Basel-Stadt weisen aktuell 24 Prozent der Bevölkerung Antikörper auf, während es im Kanton Basel-Landschaft 19 Prozent sind. Die Zunahme des positiven Antikörperstatus widerspiegele auch den Effekt der Impfungen, heisst es in einer Medienmitteilung von Swiss TPH. Bis Mitte Januar 2021 lag die Seroprävalenz bei den über 75-jährigen Personen bei 8 Prozent, Mitte Februar 2021 bereits bei 53 Prozent und bis Mitte März bei 81 Prozent (Basel-Stadt: 86%, Basel-Landschaft: 76%). Hinweise auf Reinfektionen oder persistierende Infektionen mit SARS-CoV-2 waren selten: Nur bei 4 von 340 Personen mit einem erstmals positiven Testergebnis (PCR oder Antikörpertest) war der Abstrichsbefund 2 Monate später erneut oder noch immer positiv.
Die SARS-CoV-2-Seroprävalenz wird in der
Region im Rahmen der COVCO-Studie er-
fasst, die Teil des schweizweiten Projekts Co-
rona Immunitas ist. COVCO umfasst zwei
Kohorten, eine Seroprävalenzkohorte und
eine sogenannte digitale Kohorte, in der die
Auswirkungen der Pandemie auf die Lebens-
umstände und das Wohlbefinden der Bevöl-
kerung untersucht werden. Hier zeigte sich
von Juli 2020 bis Januar 2021 ein Anstieg des
Anteils von Personen mit schweren und ex-
trem schweren Symptomen einer Depression.
Die Zunahme betraf vor allem die Alterskate-
gorie der 18- bis 49-Jährigen und Personen
mit niedrigem Haushaltseinkommen. Letz-
tere waren am stärksten betroffen, bei ihnen
stieg der Anteil der Betroffenen von 2 auf
8 Prozent. Im Allgemeinen galt, dass sich die
COVCO-Studienteilnehmer insgesamt weni-
ger bewegten und pro Tag fast 1 Stunde länger
im Sitzen verbrachten. Auch über Suchtpro-
bleme in Bezug auf Essen, Alkohol und Me-
dienkonsum wurde vermehrt berichtet. Die
vom Bundesrat im letzten Jahr getroffenen
Eindämmungsmassnahmen wurden von über
80 Prozent der Studienteilnehmer als gerecht-
fertigt bezeichnet.
RBO s
Medienmitteilung Swiss TPH vom 26. April 2021 und https://www.swisstph.ch/en/projects/covcobasel/ (abgerufen 4. Mai 2021).
Vor 10 Jahren
Checkpoint-Inhibitor
In den USA wird mit Ipilimumab der erste Checkpoint-Inhibitor zugelassen. Die neue Substanzklasse revolutioniert die Krebstherapie. Tumorzellen können sich vor Angriffen der T-Lymphozyten schützen, indem sie deren Aktivierungsmodus an bestimmten Stellen, sogenannten Checkpoints, blockieren. Checkpoint-Inhibitoren sind monoklonale Antikörper. Sie binden an bestimmte Checkpoints und lösen dadurch die Blockade, sodass die T-Lymphozyten die Tumorzellen wieder attackieren können. Ipilimumab zielt auf den Checkpoint CTLA4. Antikörper gegen weitere Checkpoint-Inhibitoren, wie PD-1, LAG-3 oder TIM-3, kommen in den folgenden Jahren ebenfalls auf den Markt.
Vor 50 Jahren
Weiche Kontaktlinsen
Viele vertragen die bis anhin üblichen harten Kontaktlinsen nicht. Nun kommen erstmals weiche Kontaktlinsen auf den Markt, die höheren Tragekomfort versprechen. Sie bestehen aus einem quellfähigen Kunststoff, der von der Augenflüssigkeit durchdrungen wird. Das mindert das Fremdkörpergefühl erheblich, und die neuen Linsen haften zudem fester am Auge.
Vor 100 Jahren
Mutterschutz in der Schweiz
1921 lehnen Bundesrat und Parlament gesetzliche Massnahmen ab, die Frauen vor und nach der Geburt ein Beschäftigungsverbot mit Kündigungsschutz und mit finanzieller Sicherung des Lebensunterhalts während dieser Zeit gewährleisten sollten. Der Bundesrat formuliert lediglich den Auftrag, die Schaffung einer Mutterschaftsversicherung zu prüfen. Erst 1945 wird ein entsprechender Artikel in die BV aufgenommen. Bis zur gesetzlichen Verankerung dauert es weitere 60 Jahre, weil entsprechende Vorlagen inVolksabstimmungen 1984, 1987 und 1999 abgelehnt werden. Ein Gesetz zur Mutterschaftsversicherung tritt 2005 in Kraft. RBO s
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