Transkript
EDITORIAL
Nebel im Kopf
Seit Beginn der Coronaviruspandemie zählte man in der Schweiz letzte Woche 642 131 laborbestätigte Fälle, und 9906 Personen starben mit COVID-19 (1). Die anderen gelten als genesen, aber viele von ihnen sind es bis heute nicht. Das Phänomen wird als Post-COVIDoder Long-COVID-Syndrom bezeichnet, und es gibt bereits auch einen ICD-10-Code dafür. Er lautet U09.9. Das Syndrom gehört damitvorläufig zu den Krankheiten mit unklarer Ätiologie. Die ICD-10-Definition «Post-COVID19-Zustand, nicht näher bezeichnet» widerspiegelt in gewisserWeise auch die Ratlosigkeit, mit der Betroffene und Ärzte dem Phänomen gegenüberstehen. Es gebe drei Gruppen von ehemaligen COVID-19-Patienten, sagt die Rehabilitationsmedizinerin Dr. Jördis Frommhold (2). Um die erste und bei Weitem grösste Gruppe macht sie sich keine Sorgen: Diese Personen hatten einen leichten oder gar symptomlosen COVID19-Verlauf, und sie haben danach keine langfristigen Beschwerden. Die zweite Gruppe sind die Patienten mit sehr schweren Verläufen. Sie waren im Spital, auf der Intensivstation, und sie mussten zum Teil sehr lang beatmet werden. Bei ihnen ist es nicht erstaunlich, dass sie noch lang unter den Konsequenzen ihrer schweren Erkrankung zu leiden haben werden. Kopfzerbrechen bereitet die dritte Gruppe: Nach einem nicht sonderlich schweren COVID-19-Verlauf sind die
Personen in dieser Gruppe scheinbar wieder genesen
und auf dem Weg der Besserung, bis sich ihr Zustand
nach ein bis vier Monaten erneut verschlechtert: Fa-
tigue, Atemnot, Herzbeschwerden, mangelnde Belast-
barkeit undvor allem neurologische Symptome machen
ihnen zu schaffen. Von «Nebel im Kopf» berichteten
viele ihrer Patientinnen und Patienten, so Frommhold.
Die Betroffenen können ihre Gedanken nicht ordnen,
und auch demenzielle Symptome sind nicht selten.
Nun kann es auch bei anderen Viruserkrankungen recht
lang dauern, bis man wieder auf die Beine kommt. Bei
COVID-19 dauert die Rekonvaleszenz besonders lang,
und das Reboundphänomen spricht für einen auto-
immunen Mechanismus. Man hat vermehrt Autoanti-
körper bei Post-COVID-Syndrom-Patienten gefunden.
Sollte sich bewahrheiten, dass das Post-COVID-Syn-
drom eine Autoimmunerkrankung ist, könnte man ent-
sprechende Therapien versuchen. So weit ist es aber
noch nicht. Einstweilen werden an das individuelle Sym-
ptomprofil angepasste ambulante oder stationäre Re-
habilitationsmassnahmen empfohlen.
Das Wichtigste aber ist, in der Praxis auch an die Mög-
lichkeit eines Post-COVID-Syndroms zu denken und die
Betroffenen nach einer befundlosen Abklärung ihrer
Symptome nicht vorschnell als «Psychosomatiker» zu
klassifizieren: «Natürlich gibt es typische Psychosoma-
tiker, darauf muss man achten, aber hier handelt es sich
meist um Patienten, die zuvor noch nie psychosoma-
tisch aufgefallen sind», sagt Frommhold. Man schätzt,
dass etwa 10 Prozent der ehemaligen COVID-19-Patien-
ten betroffen sein könnten; wie viele es wirklich sind,
wird sich noch herausstellen. Dass auch ein leichter Er-
krankungsverlauf schwerwiegende Folgen haben kann,
unterstreicht jedenfalls die Wichtigkeit, dass die
COVID-Impfstoffe nicht nur vor schweren, sondern so
gut wie möglich auch vor symptomlosen und leichten
Verläufen schützen sollten.
s
Renate Bonifer
1. bag.admin.ch, Stand 22. April 2021 2. https://www.aerztezeitung.de/Nachrichten/Wie-brain-fog-Patienten-
nach-COVID-19-das-Leben-schwer-macht-418888.html, 19. April 2021
ARS MEDICI 9 | 2021
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