Transkript
BERICHT
Eisenmangel
Schweizer Empfehlungen zur Eisensubstitution bei Kindern und Jugendlichen
Eine Arbeitsgruppe der Schweizerischen Pädiatrischen Onkologiegruppe (SPOG) hat Konsensempfehlungen für die Diagnose und die Behandlung bei Eisenmangel im Kindes- und Jugendalter formuliert. Die neuen Empfehlungen geben Antworten auf viele praxisrelevante Fragen: Wer sollte wann und womit behandelt werden?
Im Kindes- und Jugendalter ist das Risiko für einen Eisenmangel insbesondere neonatal, im Vorschulalter und in der Adoleszenz erhöht. Während neonatal vor allem zu früh geborene Kinder davon betroffen sind, beruht ein Eisenmangel im Vorschulalter häufig auf einem übermässigen Milchkonsum, der die Aufnahme von Eisen aus der Nahrung behindert. Aber auch eine schlecht balancierte vegetarische oder vegane Ernährung kann Ursache eines Eisenmangels sein. In der Adoleszenz sind in erster Linie Mädchen von Eisenmangel betroffen, wobei neben starken Menstruationsblutungen ebenfalls eine eisenarme vegetarische oder vegane Ernährung zu den häufigen Ursachen zählt. Insgesamt schätzt man die Prävalenz des Eisenmangels in den Industrieländern bei Vorschulkindern auf 2 bis 6 Prozent und bei weiblichen Jugendlichen auf 8 bis 20 Prozent.
Kein Screening
In den Konsensempfehlungen der SPOG-Arbeitsgruppe Pädiatrische Hämatologie wird von einem allgemeinen Screening auf Eisenmangel im Kindes- und Jugendalter abgeraten. Entsprechende Laboruntersuchungen sind nur sinnvoll, wenn typische Symptome einen Eisenmangel nahelegen. Dazu gehören chronische Müdigkeit, allgemeine Schwäche und Antriebslosigkeit, Reizbarkeit, Appetitverlust, Haarausfall und
KURZ & BÜNDIG
� Kein Screening: Labortests nur bei Verdacht auf Eisenmangel durchführen.
� Bei asymptomatischem Eisenmangel steht die Ernährungsoptimierung an erster Stelle.
� Bei symptomatischem Eisenmangel mit oder ohne Anämie sind orale Eisensupplemente die erste Wahl.
� Die i.v. Gabe von Eisen ist im Kindes- und Jugendalter nur unter bestimmten Voraussetzungen indiziert, und sie sollte nur in Rücksprache mit Spezialisten des Eisenstoffwechsels erfolgen.
Schlafstörungen. Auch Verzögerungen der kognitiven und motorischen Entwicklung sowie das Restless-Legs-Syndrom (RLS) können mit Eisenmangel assoziiert sein.
RLS, ADHS und Pica-Syndrom
Für Kinder mit RLS und einem Serumferritinspiegel < 50 µg/l wird eine Eisensubstitution empfohlen. Weniger überzeugend ist die Hypothese, wonach auch zwischen ADHS und Eisenmangel eine Ursache-Wirkungs-Beziehung bestehe. Man empfiehlt, bei ADHS den Eisenstatus zu bestimmen und es gegebenenfalls mit Eisensubstitution zu versuchen. Als nicht mit Eisenmangel assoziiert gilt das Pica-Syndrom, eine Essstörung, die durch Appetit auf Substanzen wie Erde, Lehm, Kieselsteine, Beton oder Papier gekennzeichnet ist. Lediglich der Heisshunger auf Glace sei recht spezifisch für einen Eisenmangel, heisst es in den neuen Empfehlungen.
Laborwerte
Bei Verdacht auf Eisenmangel werden im Kapillarblut folgende Parameter bestimmt: s Hämoglobin s Erythrozytenwerte (MCV [mittleres Korpuskularvolu-
men], MCH [mittleres korpuskuläres Hämoglobin], MCHC [mittlere korpuskuläre Hämoglobinkonzentration]) s Serumferritin s evtl. CRP und Blutsenkung. Gängige, altersspezifische Normwerte sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Bei einer Eisenmangelanämie liegt der Hämoglobinwert unter der altersgemässen 5. Perzentile. Niedrige Erythrozytenwerte sprechen für einen Eisenmangel, sie können aber auch andere Ursachen haben (z. B. niedriges MCV bei Kindern mit Thalassämie). Im Gegensatz zu den Hämoglobin- und Erythrozytenwerten ist die Evaluation der Serumferritinwerte schwieriger, zumal sie je nach Messmethode differieren können. Für das Serumferritin von Kindern unter 1 Jahr werden in der Literatur unterschiedliche Normwerte angegeben, und die Grenze zum Eisenmangel ist für sie nicht allgemein gültig definiert. Die American Academy of Pediatrics empfiehlt für
232
ARS MEDICI 8 | 2021
BERICHT
Tabelle 1:
Normwerte für Eisen nach Alter
Alter 1–3 Monate 4–9 Monate 9–24 Monate 2–16 Jahre > 16 Jahre Mädchen > 16 Jahre Jungen
Hämoglobin (g/l) MCV (fl)
95–145
85–100
95–135
75–95
105–135
75–85
115–150
77–85
120–160
78–95
130–170
78–95
Ferritin (µg/l) 148–744 21–240 10–168 10–99 18–103 16–213
MCV: mittleres Korpuskularvolumen Quelle: Universitätskinderspital Zürich, Iron Academy, 18. November 2020
Kinder von 1 bis 3 Jahren einen Grenzwert von 10 bis 12 µg/l. Für die Allgemeinbevölkerung spricht man bei Werten zwischen 12 und 40 µg/l von einem erniedrigten Serumferritin. In der WHO-Definition des Eisenmangels werden < 12 µg/l für Kinder unter 5 Jahren und < 15 µg/l ab 5 Jahren angegeben. Klar ist jedoch, dass zu wenig Eisen für die Bildung von Erythrozyten zur Verfügung steht, wenn der Serumferritinwert < 12 µg/l beträgt, und dass sich die Eisenspeicher ab einem Serumferritinwert von < 30 µg/l zu leeren beginnen. Auch normale oder hohe Serumferritinspiegel können in die Irre führen. Es ist immer zu bedenken, dass eine akute oder chronische Entzündung den Serumferritinspiegel über Wochen hinweg erhöhen kann (CRP messen!). Weitere Laborwerte können gegebenenfalls sinnvoll sein, erfordern aber eine venöse Blutentnahme: s Transferrinsättigung: Grenzwert < 16 µg/l, vom inflam- matorischen Status abhängig s löslicher Transferrinrezeptor (sTfR): bei Eisenmangel er- höht (aber auch bei Hämolyse), wird durch Entzündungsprozesse kaum beeinflusst s Hämoglobingehalt der Retikulozyten (RET-He): sehr sensitiv und spezifisch für Eisenmangel. Blut im Urin oder Stuhl sollte mittels Urinstreifen- beziehungsweise Guajaktest ausgeschlossen werden. Warnsignale für eine schwerwiegende Anämie (Dyspnoe, Palpitationen, Schwindel, Tachykardie, Synkopen usw.) bedürfen einer gründlichen differenzialdiagnostischen Abklärung. Behandlung bei asymptomatischem Eisenmangel Primär geht es bei diesen Kindern und Jugendlichen um eine bessere Eisenaufnahme über die Ernährung. Typische Massnahmen sind für Säuglinge das Einführen von Beikost im 6. Lebensmonat, die Reduktion von Kuhmilch bei Kleinkindern und die Verminderung des Konsums von phosphathaltigen Getränken wie Eistee oder Cola bei älteren Kindern und Jugendlichen. Eine Ernährungsberatung gehört ebenfalls dazu, insbesondere bei vegetarischer oder veganer Ernährung. Die Eisenresorption wird durch säurehaltige Lebens- Tabelle 2: Medikamente zur Eisensubstitution bei Kindern und Jugendlichen Wirkstoffe Galenik/Eisendosis Zulassung Handelsname Oral Eisen(II) Eisen(II)-Sulfat, DL-Serin Eisenfumarat, Eisenglukonat, Vitamin C Eisen(II)-Sulfat Eisen(II)-Glycin-Sulfat-Komplex Eisen(II)-Sulfat Eisen(III) Eisen(III)-Hydroxid- Polymaltose-Komplex Tropfen 10 mg Fe2+/ml (1 ml = 13 Tropfen) Filmtabletten 69 mg Fe2+/Tablette Depottablette 105 mg Fe2+ als Eisen(II)-Sulfat Kapseln 100 mg Fe2+ als Eisen(II)- Glycin-Sulfat-Komplex Retardtabletten 80 mg Fe2+/Tablette Film- und Kautabletten 100 mg Fe3+/Tablette Tropfen 50 mg Fe3+/ml (1 ml = 20 Tropfen) Sirup 10 mg Fe3+/ml Trinklösung in Monodosen 5 ml mit 100 mg Fe3+ ab 6 Monate Aktiferrin Tropfen ab 6 Jahre DuoFer® ab 12 Jahre Ferro-Gradumet® ab 6 Jahre ferro sanol® ab 10 Jahre Tardyferon® ab Geburt Maltofer® Parenteral Eisen(III) Eisen(III)-Hydroxid- Saccharose-Komplex 20 mg Eisen/ml Ampulle à 5 ml (= 100 mg Eisen) ab 3 Jahre Venofer® Angaben gemäss compendium.ch, Stand: 22. März 2021. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es sind weitere Eisenpräparate in Kombination mit Multivitaminen und Spurenelementen verfügbar, die hier nicht aufgelistet sind; das Gleiche gilt für Nahrungsergänzungsmittel. 234 ARS MEDICI 8 | 2021 BERICHT mittel verbessert (z. B. Obstsaft, Vitamin C). Gehemmt wird sie durch Tannine (Kaffee, Tee), Oxalat (Spinat, Rhabarber, Kakao) oder das bereits erwähnte Phosphat in Süssgetränken. Die Bioverfügbarkeit von Eisen ist bei tierischen Nahrungsmitteln (Fleisch, Leber, Muscheln, Eigelb) höher als bei pflanzlichen Eisenquellen (20% vs. 5%). First Line: Orale Eisensubstitution Bei symptomatischem Eisenmangel mit oder ohne Anämie ist eine orale Eisensubstitution indiziert. Die Therapie dauert in der Regel 2 bis 6 Monate. Gastrointestinale Nebenwirkungen treten je nach Dosierung bei 10 bis 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen auf. Es stehen sowohl Eisen(II)- als auch Eisen(III)-Medikamente zur Verfügung (Tabelle 2). Eisen(II)-Präparate zeichnen sich durch eine gute Eisenresorption aus, sind aber weniger gut verträglich. Sie müssen auf nüchternen Magen eingenommen werden, in einer Dosierung von 2 bis 3 mg Eisen(II) pro kg Körpergewicht (möglichst als Einzeldosis). Die Therapie dauert zirka 3 Monate. Eisen aus Eisen(III)-Präparaten wird etwas schlechter resorbiert, dafür ist die Einnahme einfacher (mit Nahrung und Vitamin-C-haltigem Getränk). Die Dosierung beträgt hier 3 bis 5 mg Eisen(III) pro kg Körpergewicht, ebenfalls möglichst als Einzeldosis. Die Therapie dauert zirka 5 Monate. Eine Kontrolle des Ansprechens auf die Eisensubstitution ist nur bei schwerer Anämie, stetem Eisenverlust (z. B. Blutungen) oder bei Verdacht auf mangelnde Therapietreue sinnvoll. Bleibt die erwünschte Wirkung aus, kann gegebenenfalls von einem Eisen(II)- auf ein Eisen(III)-Präparat gewechselt werden. Auch ein Wechsel der Galenik oder der Wechsel zu einer Gabe jeden 2. Tag sind möglich oder, als letzte Option, die i.v. Gabe von Eisen. Letztere sollte auf Patienten mit schwerer Anämie (Hb < 70 g/l) oder mit schweren Erkrankungen, für die i.v. Eisen indiziert ist (s. unten), sowie auf Patienten mit klinisch relevanter, therapierefraktärer Eisenmangelanämie beschränkt sein. Sie sollte nur in Rücksprache mit pädiatrischen Spezialisten des Eisenstoffwechsels erfolgen. Indikationen für Eisen i.v. Die Indikationen für Eisen i.v. im Kindes- und Jugendalter werden zum Teil kontrovers diskutiert. Unumstritten ist Eisen i.v. jedoch in folgenden Situationen: s inadäquate gastrointestinale Resorption (z. B. schlecht kontrollierte Zöliakie, chronische Magen-Darm-Erkran- kungen) s anhaltende gastrointestinale Blutungen s chronische dialysepflichtige Nierenerkrankung s RLS, falls die orale Eisensubstitution nicht erfolgreich ist s Schluckstörungen. Mögliche Indikationen, über die diskutiert wird, sind: s rasche Korrektur einer schweren Eisenmangelanämie (an- stelle von Erythrozytentransfusion) s schwere gastrointestinale Nebenwirkungen bei oraler Eisensubstitution s präoperative Eisenmangelanämie s schlechte Compliance bei oraler Eisensubstitution. Akute oder chronische Infektionen sind hingegen keine In- dikation für die i.v. Gabe von Eisen, und sie ist auch nach einer Anaphylaxie nicht indiziert. Es versteht sich von selbst, dass auch der Wunsch, die Leistungsfähigkeit eines Kindes oder Jugendlichen mit normalen Ferritinwerten zu steigern, keinesfalls eine Indikation ist. Zu den Risiken einer i.v. Gabe von Eisen gehören Nekrosen infolge eines Paravasats sowie allergische Reaktionen, bei Neugeborenen und Kleinkindern zudem oxidativer Stress auf Blutbestandteile und das Endothel. Wenn eine i.v. Gabe von Eisen indiziert ist, sollte diese nur nach Rücksprache mit Spezialisten erfolgen und nur in Insti- tutionen, die damit Erfahrung haben. Das Konzept von «Ei- seninfusionskliniken» für Kinder und Jugendliche lehnt die SPOG-Arbeitsgruppe jedoch entschieden ab. s Renate Bonifer Quellen: Vortrag von Dr. med. Heinz Hengartner an der Iron Academy in Zürich, 18. November 2020, und Heingartner H et al.: Diagnose und Behandlung von Eisenmangel bei Kindern mit oder ohne Anämie: Zusammenfassung der Konsensempfehlungen der SPOG-Arbeitsgruppe Pädiatrische Hämatologie. pädiatrie schweiz, online 21.12.2020, https://www. paediatrieschweiz.ch ARS MEDICI 8 | 2021 235