Transkript
«Ohne Insulin läge viel mehr Tragik in meinem Job»
INTERVIEW
Vor 100 Jahren gelang es kanadisch-amerikanischen Medizinern erstmals, Insulin aus dem Pankreas von Hunden zu isolieren. Mit dieser bahnbrechenden Entdeckung stand für Millionen von Menschen zum ersten Mal eine effektive Diabetestherapie zur Verfügung. Ein Gespräch mit dem Diabetologen Dr. med. Fabian Meienberg vom Kantonsspital Baselland über die Insulingewinnung aus Schlachttieren, seine Bedeutung als «Erfahrungsbörse» und die unverzichtbare Rolle des Insulins auch in Zukunft.
Ars Medici: Herr Dr. Meienberg, was wären Sie als Diabetologe heute ohne Insulin? Dr. med. Fabian Meienberg: Das ist so einfach wie brutal: Wir könnten Typ-1-Diabetiker nicht am Leben erhalten, sie würden uns wegsterben. Sie würden durstig werden, abmagern und irgendwann ins Koma fallen. Auch bei Typ-2-Diabetes wäre ohne Insulin bei vielen Betroffenen eine Therapie wesentlich schwieriger als mit Insulin: Wir hätten eine grössere Zahl an Komplikationen, sprich Amputationen, Erblindungen, Nierenerkrankungen, Herzinfarkten und anderem. Wir haben bei Typ-2-Diabetes heute zwar eine breite Palette an Medikamenten, aber viele Patienten brauchen trotzdem noch Insulin.
Foto: KD
Zur Person
Dr. med. Fabian Meienberg Leitender Arzt Leiter Endokrinologie & Diabetologie Kantonsspital Baselland
Das heisst, Ihr Leben als Diabetologe wäre … Meienberg: … deutlich trauriger. Viele junge Menschen wären unheilbar krank und würden versterben. Es läge viel mehr Tragik in meinem Job.
Wenn wir uns die Geschichte anschauen, war die erste Extraktion von Insulin 1921 respektive der erste Einsatz an einem Patienten Anfang 1922 ein entscheidender Schritt. Meienberg: Das erste Insulin extrahierte man aus einem Hund, bald darauf waren es Schlachttiere, vor allem Schweine und Rinder. Das Grundprinzip, nämlich die Insulinextraktion aus der Bauchspeicheldrüse von Tieren, wurde bis in die 80er-Jahre beibehalten.
Schon Ende 1923 begann die industrielle Herstellung von Insulin. Lilly und Hoechst brachten das erste Insulinpräparat auf den Markt. Meienberg: Diese erstaunlich schnell begonnene industrielle Produktion, aber auch die Verleihung des Nobelpreises an Frederick Banting im selben Jahr – übrigens der mit 32 Jahren bis heute jüngste Preisträger – unterstreichen noch einmal die Bedeutung dieser Entdeckung. Die Extraktion des Insulins war ein Meilenstein und ist durchaus mit der Entdeckung des Antibiotikums gleichzusetzen.
Was waren für Sie in der Folgezeit weitere Durchbrüche in der Insulinentwicklung? Meienberg: Neben der Entschlüsselung der molekularen Struktur des Insulins in den 50er-Jahren und der chemischen Synthese in den 60er-Jahren war sicherlich die gentechnische Produktion von Humaninsulin in den 80er-Jahren ein weiterer entscheidender Schritt. Denn damit musste zur Insulingewinnung nicht mehr auf Schlachtvieh zurückgegriffen werden. Ab den 90er-Jahren konnte man mit den Insulinanaloga die pharmakokinetischen Eigenschaften, wie die Wirkdauer und den Beginn der Wirkung, beeinflussen und damit den Bedürfnissen anpassen. Die kurz wirksamen Insulinanaloga wirken ja bereits nach 10 bis 30 Minuten – und damit deutlich schneller als unter die Haut gespritztes, tierisches Insulin. Schliesslich kamen ab dem Jahr 2000 lang wirksame Insulinanaloga auf den Markt. Sie gewährleisten die Verstoffwechselung des Zuckers, der kontinuierlich von der Leber produziert wird. Während man in der Zeit davor versucht hatte, die Wirkdauer durch die Zugabe von Zink und anderen Stoffen zu verlängern, gelang es bei den lang wirksamen Analoga, durch den Austausch bestimmter Aminosäuren eine Wirkdauer von 12 bis 24 Stunden zu erreichen.
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Auch bei der Blutzuckermessung hat sich vieles getan ... Meienberg: Ein Schnelltest zur Messung der Glukose im Urin stand schon seit den 20er-Jahren zur Verfügung. Aber erst 1964 revolutionierte die Einführung von Teststreifen die Blutzuckermessung, allerdings wurden diese zusammen mit klobigen Blutzuckermessgeräten nur in Arztpraxen eingesetzt. Noch bis Ende der 70er-Jahre mussten die Patienten teilweise alle paar Wochen ins Spital kommen, um ihren Blutzucker messen zu lassen. In den 80er-Jahren sind dann Blutzuckermessgeräte gekommen, mit denen man auch daheim messen konnte. Das erlaubte es, mehr Insulin zu spritzen, wenn der Blutzucker höher war, und entsprechend weniger, wenn er tiefer war. Die neuen kontinuierlichen Blutzuckermesssysteme der letzten Jahre sehe ich klar als einen weiteren Durchbruch an. Die Patienten müssen sich nicht immer in den Finger stechen, um ihren Blutzucker zu messen, sondern können den Wert mit einem kleinen Gerät einfach über einen Sensor scannen. Das ist deutlich komfortabler als noch vor sieben, acht Jahren und erlaubt gleichzeitig eine bessere Überwachung des Blutzuckerverhaltens.
Also mehr Eigenverantwortung für die Betroffenen? Meienberg: Diese Veränderung, deren Anfänge ich noch miterlebt habe und bei der die Schweiz eine gewisse Vorreiterrolle gespielt hat, empfinde ich als wegweisend. Ab den 80er-Jahren wurde den Patienten immer mehr Eigenverantwortung übertragen. Dies hat das Arzt-Patienten-Verhältnis nachhaltig verändert. Die Patienten und Patientinnen wurden hinsichtlich ihrer Nahrungsaufnahme und der entsprechenden Insulindosierung, ihrer körperlichen Aktivität und ihres Blutzuckerverlaufs geschult. Da wird ihnen bis heute sehr viel abverlangt, sie müssen selbst Entscheidungen treffen. Aber eine gute Therapie muss so sein. Denn Diabetes ist eine Krankheit, bei der man als Arzt bei therapeutischen Entscheidungen nicht ständig danebenstehen kann. Das Management von Diabetes in Alltagssituationen stand mehr und mehr im Zentrum der Gespräche. Damit war ein fundamentaler Wandel im Verhältnis zwischen Arzt und Patient verbunden, man befand sich plötzlich auf Augenhöhe. Ich selbst sehe mich in diesen partnerschaftlichen Beziehungen heute eher als eine Art «Erfahrungsbörse», denn die Erfahrungen vieler verschiedener Patienten laufen bei mir zusammen. Und mit meinem medizinischen Wissen finden wir dann die jeweils besten therapeutischen Lösungen für den Alltag. Meiner Meinung nach ist diese in der Diabetologie übliche enge Zusammenarbeit ziemlich einzigartig in der Medizin.
Die Patienten als Spezialisten für ihre Krankheit? Meienberg: Ja, ein Typ-1-Diabetiker muss für seinen individuellen Diabetes ein Spezialist werden. Er wird darin geschult, die Menge an Kohlenhydraten abzuwiegen oder im Idealfall abzuschätzen, damit die Insulinmenge daran angepasst werden kann. Er muss wissen, wie sein Blutzucker reagiert, wenn er eine Stunde wandern geht oder zwei Stunden im Garten arbeitet. Bei guter Schulung kann er vor einem gefüllten Teller mit Reis, Gemüse und Fisch ziemlich gut abschätzen, wie viel Insulin er benötigt.
Es gibt neben dem Insulin neue wirkungsvolle Antidiabetika ... Meienberg: In den vergangenen zehn Jahren haben neue Medikamente das therapeutische Spektrum für Typ-2-Diabetes noch einmal deutlich erweitert. GLP-1-Rezeptor-Agonisten und SGLT2-Hemmer haben neben der Blutzuckersenkung noch weitere Vorteile. Sie können kardiovaskuläre Ereignisse und die kardiovaskuläre Mortalität reduzieren. Das hat man mit Insulin nie zeigen können. SGLT2-Hemmer sind zudem eine überraschende Behandlungsoption bei Herzinsuffizienz, da die Pumpfunktion verbessert wird. Die GLP-1-Analoga haben den positiven Nebeneffekt, dass sie appetithemmend wirken und damit die Gewichtsreduktion fördern. Das ist bei Typ-2-Diabetes ja oft sehr gewünscht.
Also wird Insulin bei Patienten mit einem Typ-2-Diabetes überflüssig? Meienberg: Die neuen Medikamente fangen zwar einiges ab, und man kann den Insulineinsatz heute in den meisten Fällen deutlich verzögern. Aber auch unter den Typ-2-Diabetikern benötigen im Lauf der Zeit doch einige Patienten immer noch Insulin – und das wird sich so schnell nicht ändern. Bei den Typ-1-Diabetikern wird Insulin sowieso unabdingbar bleiben, denn es ist nicht abzusehen, dass man in den nächsten Jahren das Versiegen der Insulinproduktion im Pankreas in irgendeiner Form relevant stoppen kann. Natürlich ist denkbar, dass wir in einigen Jahren doch mit kausalen Therapien weiterkommen. Das könnte beispielsweise über Stammzellen oder Immunmodulatoren geschehen. Was beim Typ-1-Diabetes sicher kommen wird, sind Closed-Loop-Systeme. Bei einem solch geschlossenen System misst ein Sensor fortlaufend den Zucker im Unterhautfettgewebe, und ein Sender schickt die Werte an eine Insulinpumpe. Sie steigert, drosselt oder unterbricht dann autonom die Insulinabgabe. Erste Systeme können schon heute, vor allem nachts, wenn also Faktoren, wie Bewegung oder Essen nicht mit hineinspielen, den Zucker relativ gut einstellen. Man wacht morgens mit einem gut eingestellten Zucker auf, was ja im Moment nicht bei allen Patienten der Fall ist. Diese Systeme werden sich weiter verbessern, das ist die unmittelbare Zukunft.
Apropos Zukunft: Nachdem wir jetzt das Jubiläum «100 Jahre Insulin» haben – würden Sie einen Blick in die Zukunft wagen, wie es in weiteren 100 Jahren aussehen könnte? Meienberg: Bei dieser dynamischen Entwicklung wage ich nicht einmal einen Blick auf die nächsten zehn Jahre (lacht). Es sind ja sehr, sehr viele Leute von Diabetes betroffen, und deshalb besteht ein grosser Forschungsdrang. Es kann sehr schnell sehr viel passieren. Prognosen über zehn Jahre hinaus zu stellen, wäre schon sehr verwegen. Die Entdeckung des Insulins war vor 100 Jahren eine Sensation. Heute scheint aber die Entdeckung der Antibiotika in den Köpfen der Menschen im Vergleich zum Insulin präsenter zu sein. Vielleicht lässt sich das ja mit diesem Jubiläum jetzt etwas zurechtrücken.
Interview: Klaus Duffner
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