Transkript
FORTBILDUNG
EASD/ISPAD-Empfehlungen zur kontinuierlichen Blutzuckermessung
Neuer Leitfaden erleichtert Typ-1-Diabetikern Sport im Alltag
Körperliche Bewegung ist ein wichtiger Baustein beim Management des Typ-1-Diabetes. Allerdings geht damit das Risiko einher, dass der Blutzucker aus dem Gleichgewicht gerät – je nachdem, wie, wie lange und wie intensiv man sich bewegt. Systeme zur kontinuierlichen Glukosemessung ermöglichen heute ein adäquates glykämisches Management, das ein interdisziplinäres Expertenteam in einem neuen Leitfaden vorstellt.
Diabetologia
Die Angst vor Hypoglykämien ist für Patienten mit Typ-1-Diabetes eines der grössten Hindernisse, wenn es darum geht, sportliche Aktivitäten in den Alltag zu integrieren. Das Risiko für die Entwicklung einer Hypoglykämie während des Sports oder danach ist geringer, wenn die Insulindosis und die Kohlenhydrataufnahme optimal auf den Verbrauch abgestimmt werden. Aber wann darf man mit welcher Art von Training beginnen, und wann sollte man besser abwarten? Wann genau sollte man eine Pause einlegen, wann sollten mit der Flüssigkeit auch Kalorien zugeführt und wann sollte das Insulin angepasst werden? Systeme zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) und zur kontinuierlichen Glukosemessung mit intermittierendem Scan (isCGM) können hier eine wertvolle Hilfe leisten, denn sie ermöglichen es, den Blutzucker engmaschig zu kontrollieren. Allerdings sind die Systeme so komplex, dass nicht nur betroffene Patienten, sondern auch medizinisches Fachpersonal mit der Interpretation der Daten Schwierigkeiten haben können – häufig bleibt das technologische Potenzial für eine effektive Nutzung rund um das Training ungenutzt. Dabei könnte regelmässiges körperliches Training dazu beitragen, die Blutzuckereinstellung zu verbessern und damit langfristig auch Komplikationen wie kardiovaskuläre Erkrankungen und Sehverlust zu verhindern. Anders als bei der herkömmlichen Blutzuckermessung gibt die CGM dank eines Sensors unter der Haut nahezu in Echtzeit kontinuierlich Auskunft über die Höhe des Blutzuckers. Damit können die Anwender nicht nur verfolgen, ob der Zucker steigt oder fällt, sondern sie sehen auch den direkten Zusammenhang mit Nahrungsaufnahme, Schlaf, Stress oder körperlicher Betätigung.
Konkrete Empfehlungen für mehr Sicherheit bei sportlicher Aktivität
Ein kürzlich sowohl in «Diabetologia» als auch in «Pediatric Diabetes» publiziertes Positionspapier bietet Hand mit Empfehlungen zur Verwendung einer CGM vor, während und nach dem Training. Der Leitfaden der European Association for the Study of Diabetes und der Internationalen Gesellschaft
für pädiatrischen und Jugenddiabetes wurde von einem interdisziplinären Gremium aus Sportphysiologen, Sportwissenschaftlern, Diabetologen, Endokrinologen, pädiatrischen Diabetologen, Bioingenieuren und Ernährungswissenschaftlern verfasst. Er könnte Patienten mit Typ-1-Diabetes dazu ermutigen, Sport zu treiben, und ihnen mehr Sicherheit im Umgang mit ihren Blutzuckerwerten ermöglichen.
Ampelsystem gibt Auskunft, was zu tun ist
Im Leitfaden zeigt eine Reihe von farbcodierten Tabellen, wie auf bestimmte Blutzuckermesswerte und Trendangaben auf dem Monitor zu reagieren ist. So lässt sich entnehmen, wann wie viele Kohlenhydrate (KH) zugeführt werden sollten, wann das Insulin anzupassen ist und zu welchen Zeiten je nach Blutzuckerwert ein Training begonnen, gestoppt oder verzögert werden sollte. Die Experten unterscheiden, abhängig von Trainingszustand und Hypoglykämierisiko, drei Gruppen von Patienten mit Typ-1-Diabetes und geben Anweisungen für verschiedene Blutzuckersituationen vor, während und nach der sportlichen Aktivität. Vor dem Training liefert der Blutzuckerwert im Zusammenhang mit dem Trendpfeil wichtige Anhaltspunkte, ob und welche Art von Training aufgenommen werden darf (siehe Tabelle). Sind die Blutzuckerwerte im grün gekennzeichneten Bereich (je nach Trainingstyp bei Werten zwischen 7,0 und 12,0 mmol/l), kann, unabhängig von den Trendpfeilen, jegliches Training aufgenommen werden. Rot kodiert sind die Bereiche mit extrem hohen (> 15,0 mmol/l und > 1,5 mmol/l Ketonkörper im Blut) oder extrem niedrigen Werten (< 3,9 mmol/l). Hier ist ein Training entweder nicht angezeigt oder es darf erst nach KH-Aufnahme und Erreichen von Mindestblutzuckerwerten begonnen werden. Bei einem Blutzuckerwert zwischen 10,1 und 15 mmol/l und einem Trendpfeil, der nach oben zeigt, darf ein Erwachsener, der regelmässig trainiert und/oder ein niedriges Hypoglykämierisiko aufweist, hingegen direkt mit einem aeroben Training milder bis moderater Intensität beginnen.
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FORTBILDUNG
Sensorglukose vor der Belastung
für verschiedene Gruppen bei T1D
Ex 2 und/oder niedrig Hypo-Risiko
Ex 1 und/oder
mässig Hypo-Risikoa
Ex 0 und/oder
hoch Hypo-Risikob
Trend
Richtung
Aktion
Anstieg der Sensorglukose
erwartet
Verminderung der Sensorglukose
erwartet
> 15,0 mmol/l UND > 1,5 mmol/l Blutketone
> 15,0 mmol/l UND ≤ 1,5 mmol/l Blutketone
10,1–15,0 mmol/l
11,1–15,0 mmol/l
12,1–15,0 mmol/l
7,0–10,0 mmol/l 5,0–6,9 mmol/l
8,0–11,0 mmol/l 5,0–7,9 mmol/l
9,0–12,0 mmol/l 5,0–8,9 mmol/l
3,9–4,9 mmol/l < 3,9–mmol/l ➔➔ ➔ ➔ ➔ ➔ ➔➔ ➔➔ ➔ ➔ ➔➔ ➔➔ ➔➔ ➔➔ ➔ ➔ ➔ ➔ ➔ Kein Training, Insulinkorrektur Insulinkorrektur erwägenc, AE möglich Insulinkorrektur in Betracht ziehenc, jedes Training möglich Insulinkorrektur Insulinkorrektur in ➔ erwägenc, Betracht ziehenc, jedes AE möglich Training möglich jedes Training möglich AE möglich, Insulinkorrektur in Betracht ziehen für RT und HITc jedes Training jedes Training möglich ➔ möglich, Insulinkorrektur in Betracht ziehenc jedes Training möglich jedes Training möglich ➔ jedes Training ~15 g KH, möglich jedes Training möglich jedes Training möglich ~15 g KH, jedes Training möglich ➔ ~10 g KH, jedes Training möglich ~20 g KH, jedes Training möglich ~15 g KH, Trainingd verzögern 20 g KH, Trainingd verzögern ~25 g KH, Trainingd verzögern ~30 g KH, Trainingd verzögern ~10 g KH, jedes Training möglich ~20 g KH, Trainingd verzögern ~15 g KH, Traininge verzögern ~25 g KH, Trainingd verzögern ➔ ~20 g KH, Traininge verzögern ~30 g KH, Trainingd verzögern ~25 g KH, Traininge verzögern individuelle KH-Menge, Traininge verzögern ~35 g KH, Trainingd verzögern individuelle KH-Menge, Trainingd verzögern individuelle KH-Menge; Trainingf verzögern Sensorglukoseziele vor dem Training in Bezug auf verschiedene Gruppen von Menschen mit Typ-1-Diabetes. (adaptiert nach Moser et al.) Die Erläuterungen zur Tabelle finden Sie am Ende des Beitrags auf der folgenden Seite. 198 ARS MEDICI 7 | 2021 FORTBILDUNG Zu beachten beim Einsatz von CGM-Geräten bei körperlichem Training Vor dem Training ▲ Art, Intensität und Dauer des Trainings kennen ▲ Zeitpunkt des Trainings berücksichtigen ▲ Wissen, wie viel Insulin man dabeihat ▲ Der angestrebte Sensorglukosebereich sollte auf Trainingsroutine und Hypoglykämierisiko basieren (begleitet von einem der Situation angemessenen Trendpfeil). Während des Trainings ▲ Der Zielwert des Sensorglukosebereichs sollte zwischen 7,0 mmol/l und 10,0 mmol/l liegen, bei Personen mit erhöhtem Hypoglykämierisiko etwas höher. ▲ Bei einem glykämischen Schwellenwert von 7,0 mmol/l und einem horizontalen Trendpfeil sollten 10 bis 15 g Kohlenhydrate verzehrt werden, bei einem (leicht) abwärts gerichteten Pfeil sofort 15 bis 25 g Kohlenhydrate und bei einem abwärts gerichteten Trendpfeil 20 bis 35 g Kohlenhydrate. ▲ Wenn die Sensorglukosewerte erhöht sind (> 15,0 mmol/l), sollten die Ketonwerte im Blut überwacht und eine Insulinkorrektur durchgeführt werden (50% des regulären individuellen Korrekturfaktors). ▲ Das Training sollte bei Erwachsenen ausgesetzt werden, wenn der Sensorglukosespiegel < 3,9 mmol/l beträgt. Unter 3,0 mmol/l sollte das Training nicht wieder aufgenommen werden. Nach dem Training ▲ Während der ersten 90 Minuten nach dem Training kann ein Sen- sorglukosebereich von 4,4 mmol/l bis 10,0 mmol/l angestrebt werden. An der unteren Glukosegrenze sollten zirka 10 bis 15 g Kohlenhydrate verzehrt werden (basierend auf dem Trendpfeil). ▲ Wenn aufgrund hoher Sensorglukosewerte eine Insulinkorrektur vorgenommen wird, kann der reguläre Korrekturfaktor um bis zu 50 Prozent reduziert werden. Der CGM-Alarm sollte auf 4,4 mmol/l eingestellt werden. Bei Nutzung eines isCGM-Systems sollte während der Nacht mindestens ein Scan durchgeführt werden. Generell Weil CGM-Sensoren den Glukosewert im Bindegewebe unter der Haut messen, können die Sensorwerte den tatsächlichen Blutzuckerwerten hinterherhinken. Wenn Symptome auftreten, die nicht zum Sensorglukosewert passen, sollte eine konventionelle Blutzuckermessung mit Kapillarblut erfolgen. ➔ ➔ ➔ ➔ ➔ ➔ Erläuterungen zur Tabelle: Die Sensorglukoseziele sind für die folgenden Gruppen bei Typ-1-Diabetes (T1D) detailliert aufgeführt: intensiv trainierend und/oder geringes Hypoglykämierisiko (Ex 2), mässig trainierend und/oder mässiges Hypoglykämierisiko (Ex 1), minimal trainierend und/oder hohes Hypoglykämierisiko (Ex 0). a Empfehlung für ältere Erwachsene mit koexistierenden chronischen Erkrankungen und intaktem kognitiven und funktionellen Status b Empfehlung für ältere Erwachsene mit koexistierenden chronischen Erkrankungen oder zwei oder mehr instrumentellen Beeinträchtigungen bei den Aktivitäten des täglichen Lebens oder leichten bis mittelschweren kognitiven Beeinträchtigungen c 50% des regulären Insulinkorrekturfaktors, wenn die Sensorglukose nahe am oberen Grenzwert liegt d Verzögerung der Belastung bis zum Erreichen von mindestens 5,0 mmol/l und ➔, oder e Aufschub der Belastung bis zum Erreichen von mindestens 3,9–4,9 mmol/l und f Verzögerung der Belastung bis zum Erreichen eines Sensorglukosespiegels von 3,9–4,9 mmol/l mit einem Pfeil, wenn ein Anstieg des Sensorglukosespiegels während der Belastung zu erwarten ist, oder Verzögerung des Trai- nings bis zum Erreichen von mindestens 5,0 mmol/l und ➔ , oderdd , wenn ein Abfall des Sensorglukosespiegels während des Trainings erwartet wird. Nehmen Sie bei Erreichen des erforderlichen Sensorglukosespiegels für den Beginn des Trainings erst wieder Kohlenhydrate zu sich, wenn der Trendpfeil zu sinken beginnt. Diese Empfehlungen gelten nicht für hybride Closed-Loop-Systeme. Grüne Schattierung: keine/minimale Aktion erforderlich, hellgelbe Schattierung: minimale/moderate Aktion erforderlich, dunkelgelbe Schattierung: moderate/intensive Aktion erforderlich; rote Schattierung: kein/verzögertes Training AE: leichtes bis mittelschweres aerobes Training, KH: Kohlenhydrate, Ex: Training, HIT: hoch intensives Training, Hypo: Hypoglykämie, RT: Widerstandstraining Quelle: Moser O et al.: Glucose management for exercise using continuous glucose monitoring (CGM) and intermittently scanned CGM (isCGM) systems in type 1 diabetes: position statement of the European Association for the Study of Diabetes (EASD) and of the International Society for Pediatric and Adolescent Diabetes (ISPAD) endorsed by JDRF and supported by the American Diabetes Association (ADA). Diabetologia. 2020;63(12):2501-2520. Interessenlage: Die Autoren des Leitfadens erklären, dass dieser ohne Unterstützung durch Sponsoren erstellt wurde. Linktipp: Die vollständigen Guidelines finden Sie unter folgendem Link oder direkt via QR-Code. www.rosenfluh.ch/qr/t1d_cgm_sport Eine Anpassung des Insulins sollte jedoch erwogen werden, wenn ein Training mit hoher Intensität oder ein Widerstandstraining geplant sind. Zeigt der Trendpfeil nach unten, kann mit jeglichem Training gestartet werden. Je nach Trainingstyp, Blutzuckerwerten und Richtung des Trendpfeils werden gegebenenfalls auch zunächst eine KH-Aufnahme sowie eine Verzögerung der Trainingsaktivitäten empfohlen. Entsprechend konkrete Hinweise wurden ebenso für die Situation während oder nach dem Training erarbeitet – als Update zu den Empfehlungen für körperliche Bewegung bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. s Christine Mücke ARS MEDICI 7 | 2021 199